Von Paulus zu Saulus Von Michael Wildt Emigration als Lebensprinzip: Der große Historiker Saul Friedländer erhält in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels „Allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dasselbe…“Diesen Satz von Gustav Meyrink hat Saul Friedländer seiner Autobiografie, die er als Mittvierziger in Israel schrieb, vorangestellt. Die Spannung zwischen Wissen und Erinnerung ist das Thema Friedländers geblieben, der am Sonntag mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird. Mit seinem großen Alterswerk zur Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden hat er auf kunstvolle Weise gezeigt, wie beide miteinander verwoben sind, ohne ineinander aufzugehen. Als Pavel Friedländer kam er am 11. Oktober 1932, also vor genau 75 Jahren, in Prag zur Welt. Er ist das Kind einer gut situierten, bürgerlichen Familie, in der das Judentum kaum noch eine Rolle spielte. Typische Vertreter des assimilierten jüdischen Bürgertums in Mitteleuropa nennt Friedländer seine Eltern. Erst als die Katastrophe mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Prag im März 1939 nicht mehr zu übersehen war, entschlossen sich die Eltern zur Flucht nach Paris. Aus Pavel wurde Paul. Nachdem die Deutschen auch Frankreich besiegt hatten, zog die Familie in die unbesetzte Zone, die von der kollaborierenden Vichy-Regierung unter Marschall Petain verwaltet wurde. Während der Vater vergeblich versuchte, ein Geschäft zu gründen, sorgte die Mutter mit Gelegenheitsarbeiten für den Unterhalt. Die tödliche Gefahr rückte unerbittlich näher. Mitte 1942 erklärte sich die Vichy-Regierung einverstanden, alle ausländischen Juden an die Deutschen auszuliefern. Anfang August begannen die Verhaftungen und Deportationen durch die französische Polizei in der unbesetzten Zone. Die Eltern sahen in ihrer Panik nur eine einzige Chance: zu zweit zu fliehen und den zehnjährigen Jungen in einem katholischen Internat unter Obhut einer französischen Patin zurückzulassen. Aus Paul Friedländer wurde Paul-Henri Ferland, mit Einwilligung der Eltern katholisch getauft und in seiner totalen Verlassenheit ganz dem Katholizismus zugewandt. Erst 1945 erfuhr der Junge, dass seine Eltern tot sind, ermordet in Auschwitz, nachdem ihr Versuch, nahe Saint-Gingolph am Genfer See in die Schweiz zu gelangen, an einem Grenzbeamten scheiterte, der das Paar zurückwies. Wären sie mit ihrem Kind gekommen, hätten sie in dieser kurzen Phase Schweizer Flüchtlingspolitik die Grenze passieren und sich alle gemeinsam retten können. Im letzten Brief an die französische Patin vom 5. Oktober 1942 heißt es: »Madame, ich schreibe Ihnen aus dem Zug, der uns nach Deutschland bringt. Im letzten Moment habe ich einem Vertreter der Quäker 6000 Francs und ein Armband mit Anhängern und einer Dame ein Briefmarkenalbum zur Weitersendung an Sie übergeben. Heben Sie alles für den Kleinen auf und nehmen Sie zum letzten Mal unseren unendlichen Dank und die herzlichsten Wünsche für Sie und Ihre ganze Familie entgegen. Lassen Sie den Jungen nicht im Stich! Gott möge Ihnen alles vergelten und Sie und Ihre ganze Familie segnen! Elli und Jan Friedländer.« Um welchen Gott, fragt Saul Friedländer in seinen Erinnerungen, handelt es sich? Als er 1945 nach der Befreiung vom Schicksal seiner Eltern und der Juden Europas erfährt, zerspringt die angenommene katholische Identität. Er schließt sich einer zionistischen Jugendgruppe an und wandert 1948 nach Palästina aus, um für den neu gegründeten Staat Israel zu kämpfen. Nie wieder sollten Juden wie Schafe zur Schlachtbank geführt werden. Paul Friedländer ändert seinen Namen in Shaul, nach jenem tragischen, ersten König Israels, der zum Schluss auch von Gott verlassen wurde; aus Paulus wird Saulus. Erst etliche Jahre später wendet sich Friedländer der Geschichte zu, studiert in Tel Aviv, Paris und Genf, promoviert mit einer Studie zu den außenpolitischen Beziehungen zwischen Nazideutschland und den USA, gibt 1965 eine Dokumentation zu Papst Pius XII. und dem Dritten Reich heraus. 1976 wird er Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv, 1987 nimmt er einen Ruf an die University of California in Los Angeles an, wo er noch heute lebt und lehrt. Er führe ein Emigrantenleben, hat Friedländer kürzlich in einem Interview gesagt. »Ich bin seit Jahren Amerikaner, und ich war und bin Israeli. Aber gleichzeitig sehne ich mich nach Europa und nach Frankreich. Ich fühle mich wirklich nirgends zu Hause. Ich habe keine Heimat.« Vielleicht ist es diese Situation, viele Bindungen zu haben und sich dennoch nicht zugehörig zu fühlen, die Friedländer zu einem außergewöhnlichen Historiker macht, der sowohl über die Geschichte wie über sein eigenes Tun, die Geschichtsschreibung, reflektiert. Histoire et psychoanalyse. Essai sur les possibilités et les limites de la psychohistoire heißt eines seiner Bücher, das bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt worden ist. Mit dem ästhetischen Widerschein des Nazismus in Filmen und Belletristik befasste er sich in Kitsch und Tod. Und als setze er einen Kontrapunkt zum Topos von der Banalität des Bösen, charakterisierte Friedländer mit dem Begriff der Zwiespältigkeit des Guten jenen SS-Offizier Kurt Gerstein, der verzweifelt wie vergeblich den Vatikan über den Massenmord an den europäischen Juden informieren wollte und zugleich für die Beschaffung von Zyklon B für Auschwitz verantwortlich war. Friedländers Selbstreflexion und Vertrautheit mit der Psychoanalyse machen ihn empfindsam für die Emotionen in der Geschichte. Von ihm stammt die Kennzeichnung des nationalsozialistischen Judenhasses als »Erlösungsantisemitismus«, um die quasireligiösen Erwartungen, Antriebe und Leidenschaften zu bezeichnen, die in der Verfolgung der Juden zum Tragen kamen. Es lässt ihn ebenso hellhörig werden, wenn in Bezug auf den Holocaust der reinen Wissenschaft das Wort geredet wird, Wissen und Erinnerung als Gegensätze aufgefasst werden. Mitte der achtziger Jahre führte er mit Martin Broszat, dem damaligen Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, eine bedeutsame Kontroverse. Broszat trat für eine »Historisierung des Nationalsozialismus« ein, um ungeachtet der Verbrechen des Regimes auch dessen Modernisierungsleistungen wertfrei in den Blick nehmen zu können. Dass sich diese Trennung zwischen »nichtkriminellen« und verbrecherischen Teilen des NS-Regimes aus der Perspektive der jüdischen Opfer verbieten muss, akzeptierte Broszat, billigte aber einer solchen Geschichtsschreibung keinen wissenschaftlichen Status zu, allenfalls den Rang »mythischer Erinnerung«. Dagegen wandte sich Friedländer scharf und insistierte auf der Veränderung der Perspektive nach Auschwitz. Für ihn war es unerlässlich, sich des eigenen Blickwinkels bewusst zu sein und nicht einäugig anzunehmen, reine Wissenschaft zu betreiben. Wenn man den Holocaust beschreiben wolle, könne man Täter und Opfer nicht trennen, sondern müsse das Geschehen als Ganzes begreifen. Die Opfer seien keine bloßen Objekte einer Vernichtungsmaschinerie gewesen, vielmehr besaßen sie Namen, waren Menschen mit einer eigenen, unverwechselbaren Lebensgeschichte. Der Streit mit Broszat war für Friedländer Anlass, selbst an die ungeheure Arbeit zu gehen und eine solche integrierte Geschichte des Holocaust zu schreiben, die Analyse wie Erzählung, Reflexion wie Deutung, Ereignis wie Erinnerung, die Dimension der Täter wie der Opfer einschließt. Friedländer hat eben nicht, wie Broszat den jüdischen Historikern unterstellte, Erinnerung als Kultur der steten Vergegenwärtigung der Vergangenheit verstanden, nicht Erinnerung an die Stelle von Wissen gesetzt. Vielmehr gelingt es Friedländer mit seiner Form der Darstellung, mit dem literarischen Stil seiner Geschichtsschreibung, Wissen und Erinnerung miteinander in Beziehung zu setzen, eine umfassende Textur zu weben, in der die einzelnen Fäden erhalten bleiben – strenge Wissenschaft als hohe Kunst. Friedländer schreibt nicht »von oben nach unten«, von der Ebene der unpersönlichen Strukturen über die vielen kleinen Rädchen des Getriebes bis hin zu den Opfern, sondern es ist, wie Jan Philipp Reemtsma formuliert hat, immer gleichzeitig alles im Spiel: handelnde Menschen, die von ihrer Freiheit zu handeln bewussten Gebrauch machten. Friedländer erfasst das Unpersönliche wie das Persönliche, und er lässt den Leser nicht vergessen, worüber er schreibt: über unendliches Leid. In den Rezensionen zu seinem Buch Die Jahre der Vernichtung 1939–1945 hat Friedländer viel Lob dafür erhalten, die Stimmen der Opfer zum Sprechen gebracht zu haben. Kein namenloses Leid werde hier geschildert, sondern die Schicksale konkreter Menschen. So berechtigt das Lob ist, so verdeckt es doch einen wichtigen Unterschied. Saul Friedländer hat die Stimmen der Verfolgten noch gehört, die er in seinen Büchern zu Wort kommen lässt. Er erinnert ihren Ton, und er weiß, was sie sagten – wir nicht. Unserem Wissen über den Holocaust fehlt diese Dimension der Erinnerung der Überlebenden. Aber – und das ist die Kunst einer Geschichtsschreibung, wie sie Saul Friedländer gelungen ist, vielleicht vor allem ihm gelingen konnte – wir werden, wenn wir seine Bücher lesen, wissen können, wovon diese Stimmen sprechen.