Dieter Borchmeyer: Das summum opus: Faust aus: [Geschichte der deutschen Literatur: Die Romantik: Wirkungen der Revolution und neue Formen literarischer Autonomie (Ernst Ribbat). Geschichte der deutschen Literatur, (vgl. Zmegac-GddL Bd. I/2,) (c) Beltz Athenäum Verlag] Der Fauststoff ist durch das von dem Frankfurter Verleger Spieß herausgegebene Volksbuch Historia von D. J. Fausten (1587) in die deutsche Literatur eingegangen. Zeugnisse über das Leben des zu Beginn des 16. Jahrhunderts lebenden Schwarzkünstlers haben sich hier mit den älteren Zaubergeschichten von Simon Magus, Theophilus u. a. vermischt. Bereits 1589 wurde der Stoff durch Christopher Marlowe auf die Bühne übertragen. Durch die englischen Komödianten wirkte diese dramatische Bearbeitung nach Deutschland zurück und wurde hier zum Stoff des Volksdramas wie des Marionettenspiels; daneben wirkte die Volksbuchtradition weiter. Die dramatischen Fragmente Lessings (seit 1759; 17. Literaturbrief) und Maler Müllers (Fausts Leben, 1776/78) sowie F. M. Klingers Roman Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt (1791) sind die wichtigsten literarischen Bearbeitungen des 18. Jahrhunderts neben Goethes Dramatisierung des Stoffs, der wie kein anderer zum ›deutschen Stoff‹ schlechthin geworden ist, wie auch seine weitere Tradition von Grabbes Don Juan und Faust (1829) über die Dichtungen Lenaus ( Faust, 1836) und Heines (Faust, ein Tanzpoem, 1847) bis hin zu Thomas Manns Doktor Faustus (1947) zeigt. Goethes Arbeit am Faust erstreckt sich über sechs Dezennien seines Lebens: von 1772 bis 1831. Im wesentlichen lassen sich vier, jeweils durch viele Jahre voneinander getrennte, Arbeitsphasen unterscheiden. Die erste fällt in die Zeit zwischen 1772 und Goethes Ankunft in Weimar. Aus diesen Jahren stammt der von Goethe nicht publizierte (von seinem Wiederentdecker Erich Schmidt 1787 so genannte) »Urfaust«. Während des ersten Weimarer Jahrzehnts stockt die Arbeit; den Abschluß der zweiten Phase während und nach der Italienischen Reise bildet Goethes erste Veröffentlichung seiner Entwürfe: Faust, ein Fragment (1790). In der dritten, durch Schiller inspirierten Phase seit 1797 wird Faust, der Tragödie erster Teil (erschienen 1808) abgeschlossen, aber auch schon der Helena-Akt begonnen. Die letzte Phase (unter Eckermanns Anregung) bilden die Jahre 1825 bis 1831; nach Vorveröffentlichungen der Helena und der Szenen am Kaiserhof in der »Ausgabe letzter Hand« (1827/28) erscheint in den »Nachgelassenen Werken« 1832 Faust, der Tragödie zweiter Teil, dessen Publikation Goethe zu seinen Lebzeiten nicht gewünscht hat. Anders als die beiden Wilhelm-Meister-Romane (die hier deshalb getrennt zu behandeln waren) ist Faust ein einziges Werk – wenn auch kein logisch einheitliches. Seine Entstehung in vier von Geist und Stil her mehr oder weniger tiefgreifend voneinander unterschiedenen Perioden läßt eine streng unitarische Deutung nicht zu. Goethe selbst hat, vor allem im Gespräch mit Eckermann, häufig betont, daß man vergeblich nach einer konsistenten »Idee« suche, »die dem Ganzen und jeder einzelnen Szene im besondern zugrunde liege«. Nicht »von etwas Abstraktem«, sondern von imaginativen »Anschauungen und Eindrücken« her sei das Werk komponiert (Eckermann, 6. Mai 1827). Den vierten Akt des Faust II nennt er einmal »eine für sich bestehende kleine Welt«, welche »das Übrige nicht berührt und nur durch einen leisen Bezug zu dem Vorhergehenden und Folgenden sich dem Ganzen anschließt«. Dazu bemerkt Eckermann: »Er wird also völlig im Charakter des Übrigen sein; denn im Grunde sind doch der Auerbachsche Keller, die Hexenküche, der Blocksberg, der Reichstag, die Maskerade, das Papiergeld, das Laboratorium, die Klassische Walpurgisnacht, die Helena lauter für sich bestehende kleine Weltenkreise, die, in sich abgeschlossen, wohl aufeinander wirken, aber doch einander wenig angehen.« Eckermann vergleicht dieses Verfahren mit dem der Epopöe, etwa der Odyssee. Hier wie dort werde die »Fabel eines berühmten Helden bloß als eine Art von durchgehender Schnur« benutzt, »um darauf aneinander zu reihen«, was immer sich begebe. Goethe pflichtet Eckermann bei; es komme »bei einer solchen Komposition bloß darauf an, daß die einzelnen Massen bedeutend und klar seien, während es als ein Ganzes immer inkommensurabel bleibt, aber eben deswegen, gleich einem unaufgelösten Problem, die Menschen zu wiederholter Betrachtung immer wieder anlockt« (13. Februar 1831). Im letzten Satz hat Goethe die beispiellose, unüberschaubar verzweigte Rezeptionsgeschichte des Faust deutlich vorhergesehen. Die »Inkommensurabilität« des Ganzen, bei größtmöglicher Faßlichkeit des Einzelnen, das Fürsichbestehen der verschiedenen ›Weltenkreise‹ hat Eckermann zutreffend mit der Struktur des Epos in Verbindung gebracht. (Puškin wird Faust später eine »Ilias des modernen Lebens« nennen.) Schon Goethe selbst hat Schiller gegenüber davon gesprochen, daß er sich beim Faust vor allem die Ausarbeitung der »Teile« angelegen sein lasse; »bei dem Ganzen, das immer ein Fragment bleiben wird, mag mir die neue Theorie des epischen Gedichts zustatten kommen« (17. Juni 1797). Als den »Hauptcharakter« des Epos hatten Goethe und Schiller aber die »Selbständigkeit seiner Teile« bestimmt. Wenn Goethe und Eckermann die Autonomie der einzelnen ›Weltenkreise‹ im Faust betonen, so haben sie jedoch einen anderen Aspekt verdunkelt, der Goethe im Alter so wesentlich wurde, wie seine späte Lyrik und Epik zeigt: den zyklischen Charakter, die wechselseitige symbolische Spiegelung jener Kreise, die doch eine weit engere Beziehung zwischen ihnen stiftet als sie (nach dem Bild Eckermanns) zwischen den bloß aneinandergereihten Perlen einer Schnur besteht, eine Beziehung freilich, die nicht auf einen abstrakten Begriff zu bringen ist, sondern im wechselseitigen Aufsichverweisen komplementärer Bildwirklichkeiten besteht. Derart sich »ineinander abspiegelnde Gebilde« (Goethe an Iken, 27. September 1827) sind, um nur einen der wichtigsten Symbolkreise herauszugreifen, der Blocksberg des ersten Teils und die »Klassische Walpurgisnacht« des zweiten mit ihren verschiedenen symbolischen Parallelen und Kontrasten: der vom Stachel der Sünde gezeichneten nordischen und der von keinem moralischen Prinzip bedrohten antiken Sinnlichkeit (angesichts derer gerade Mephisto sich »entfremdet« fühlen muß; Vs. 7081), gipfelnd in der Gestalt der Lilith dort und der Galatea hier. In einem symbolisch-komplementären Verhältnis stehen auch Klassische Walpurgisnacht und Mummenschanz: dort die autochthone, hier im Maskenzug die höfisch domestizierte griechische Mythologie. Diese erscheint überhaupt in immer neuen Spiegelungen: aus orthodox christlicher Sicht (die sich sogar Mephisto zueigen macht), aus höfisch-gesellschaftlicher oder romantisch-moderner (Helena- Akt). Das antik-heidnische Mysterium am Ende des zweiten Akts weist hinüber zum christlichen Mysterium am Ende des fünften, wie zurück zu dessen Perversion in der Walpurgisnacht des ersten Teils. Auch Faust I wird also in das Beziehungsgeflecht der Spiegelungen des Goetheschen Spätstils im nachhinein einbezogen. Auf der anderen Seite enthält schon der »Urfaust« durch seine offene Form: Diskontinuität der Handlung, beliebigen Schauplatzwechsel, bindungslose Reihung selbständiger Szenen ohne Aktgliederung (im Gegensatz zur klassisch-geschlossenen Dramenform mit ihrer strengen Architektonik und ›liaison des scenes‹, der Konzentration vom Raum, Zeit und Handlung) in sich die Möglichkeit einer wechselseitigen symbolisch-kontrastiven Erhellung der einzelnen Szenen sowie einer unbegrenzten ›epischen‹ Ausdehnung. In Faust II hat Goethe die Gliederung in 5 Akte wieder eingeführt, aber diese strukturiert das Geschehen nicht mehr in der Weise des klassischen Dramas, sondern eher wie die Gesänge oder Bücher der epischen Großform. In sich selbst behalten die Akte eine lose Szenenfügung, mit Ausnahme des Helena-Akts: dieser ist ein Drama im Drama, das im ersten Teil fast exakt die Bauform der griechischen Tragödie nachbildet. Goethe hat dem Faust drei Prologe vorangestellt, die während der dritten Arbeitsphase (1797-1800) entstanden sind. Diese nähern sich gewissermaßen schrittweise dem eigentlichen Werk: von der lyrischen Selbstaussage des schaffenden Dichters (»Zueignung«) über die von ihm gewählte Darbietungsform, die im dramatischen Diskurs von Theaterdirektor, Dichter und lustiger Person reflektiert wird (»Vorspiel auf dem Theater«) bis zur Exposition der dramatischen Handlung sub specie aeternitatis (»Prolog im Himmel«). Aber auch die eigentliche Handlung beginnt mit einer Art Prolog: Fausts Monolog der Verzweiflung an den akademisch-rationalen Wissenschaften; er leitet den ersten großen Handlungskomplex ein, die Tragödie des Wissenschaftlers, welche im Satyrspiel der Schüler-Szene (Vs. 1868-2072) ausklingt, in der die Fakultäten und Wissenschaften noch einmal komisch-satirisch gemustert werden. Fausts Weg führt von Wissenschaft und humanistisch-rhetorischer Bildung (in der Gestalt Wagners parodiert) über das Weltsystem der Pansophie, das er in typisch moderner Wendung als eine Ordnung nicht des An- sich-Seienden, sondern der menschlichen Subjektivität durchschaut (Vs. 454), zur Magie: zur Beschwörung des Erdgeists, des »Welt- und Taten-Genius« (Schema von ca. 1797), neben den »Müttern« die großartigste Schöpfung der mythischen Phantasie Goethes im Faust; mit dem Erdgeist steht auch Mephisto in einer etwas rätselhaften Verbindung. In den Studierzimmerszenen werden noch einmal die geistigen Tendenzen umkreist, die mit der halb historischen, halb legendären Gestalt Fausts seit dem 16. Jahrhundert in Verbindung gebracht worden sind und die durch ihn ausgelöste Faszination und Verstörung erklären. Der von Offenbarungswissen und kirchlich- orthodoxer Lehre sich emanzipierende ›Geist‹, welcher die inneren Zusammenhänge der Natur zu erkennen strebt, hat vor allem die protestantische Orthodoxie, in deren Geist auch das »Spießsche Volksbuch« von 1587 geschrieben ist, zutiefts beunruhigt, da sie (im Gegensatz zur katholischen Theologie) ein Erkenntnisstreben unabhängig vom Offenbarungswissen der Bibel aufgrund der gänzlichen Verdorbenheit der natürlichen Erkenntnisfähigkeit des Menschen durch die Erbsünde im wahrsten Sinne verteufelte: der Grund für die Verknüpfung der Faustsage mit dem Teufelsbundmotiv. »Natur ist Sünde, Geist ist Teufel,/Sie hegen zwischen sich den Zweifel.« Die Einstellung der Orthodoxie gegenüber der Faustgestalt läßt sich durch nichts prägnanter bezeichnen als durch diese Verse des Kanzlers in Faust II (Vs. 4900 f.). Der beschworene Erdgeist weist Faust zwar schroff in seine Grenzen zurück (die er zunächst im Freitod zu überschreiten sucht), aber er begleitet ihn doch unsichtbar auf seinem weiteren Weg. Nicht nur neue Naturerfahrung – nun nicht mehr im Erkennen, sondern im Gefühl –, wie sie sich in der Szene »Wald und Höhle« (Vs. 3217 ff.) offenbart, hat Faust seinem Wirken zu verdanken, sondern merkwürdigerweise auch die Sendung Mephistos (Vs. 3240 ff.): zum Geist der Erde und der Tat gehört auch das Böse. Zweifellos besteht ein nie ganz zu klärender Widerspruch zwischen dieser vom »Urfaust« und »Fragment« her in das endgültige Werk hineinreichenden Konzeption und dem das Wirken Mephistos ganz anders motivierenden »Prolog im Himmel«. Seiner Selbstdefinition in den Versen 1335 ff. nach ist Mephisto der Geist der Verneinung und Vernichtung, der das Nichts an die Stelle des Seins setzen will und demgemäß einen Schöpfungsmythos konstruiert, der den biblischen und Goetheschen (Dichtung und Wahrheit, 8. Buch) pervertiert. Das Nichts, die uranfängliche Finsternis hat sich das Licht geboren, das trotz seiner Aufsässigkeit gegen die Nacht wieder zugrundegehen muß, da es nur in den Körpern, die im Licht aus dem Gestaltlosen entstehen, zur Wirklichkeit wird, also auf die hinfällige materielle Welt angewiesen ist. Mephisto ahnt freilich (Vs. 1335 f., 1362 ff.), daß seine Anstalten, das Licht in Finsternis, das Sein ins Nichts zurückzuführen, letztlich immer wieder zu dem seinen Intentionen genau entgegengesetzten Ziel, zum »Guten« geführt werden. Mag er, der ›Vulkanist‹, die Welt noch so gewaltsam erschüttern, »Geruhig bleibt am Ende Meer und Land!« (Vs. 1368 – Goethes ›neptunistische‹ Grundüberzeugung). Hier wölbt sich der Bogen zu der göttlichen Rechtfertigung des Bösen im Welthaushalt in den Versen 338 ff. des »Prologs im Himmel«: der Teufel dient dem Menschen, anders als er selber wähnt, nur zur Belebung seiner Tätigkeit. In Vorstellungen der Goetheschen Farbenlehre übersetzt: das Licht bedarf der Finsternis, um Farbe entstehen zu lassen. Die Farbe aber als Mittelsphäre zwischen Licht und Finsternis, göttlicher und materieller Welt ist die angemessene Lebenssphäre des Menschen, denn nach den Worten Fausts in seinem großen Monolog zu Beginn des zweiten Teils: »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben« (Vs. 4727). Mephisto wird also immer wieder versuchen, auch Faust ins Nichts hinabzuziehen, und schließlich doch scheitern. In allen Daseinskreisen, die Faust und Mephisto nach ihrer »Wette« (Vs. 1692 ff.) durchmessen, wird (weit entfernt von der einst in der Forschung angenommenen stufenweisen Höherentwicklung oder Läuterung Fausts!) immer wieder das gleiche Thema variiert: Faust, der dem Pakt gemäß »zugrundegehen« will, wenn er ein einziges Mal im Augenblicklichen Genüge finden wird, der immer wieder nach absoluten Lösungen Strebende, sich nie Begrenzende, der in seinem »Selbst« genießen will, »was der ganzen Menschheit zugeteilt ist« (Vs. 1770 f.) – der ungeheure Antipode aller ›Entsagenden‹ in Goethes Werk! – wird zwar keines seiner Ziele in der von ihm gewähnten Idealität erreichen können, stets werden diese durch Magie, das destruktive Wirken Mephistos korrumpiert, und doch wird umgekehrt immer wieder aus dem von Mephisto beabsichtigten und bewirkten Bösen der Funken des Guten schlagen. Faust entsagt nach Abschluß von Pakt und Wette dem »Wissen« zugunsten der »Sinnlichkeit«, der abgeschiedenen Gelehrtenexistenz zugunsten der ›Welt‹: »Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit, ins Rollen der Begebenheit!« (Vs. 1754 f.). Nach dem burlesken Zwischenspiel von »Auerbachs Keller« und der Verjüngung in der »Hexenküche« beginnt die Tragödie des Liebenden: Faust erscheint als ein durch den Hexentrank in seiner Identität zutiefst Veränderter, nur von sexueller Begierde erfüllt. Und doch entsteht aus dieser das (am Ende des zweiten Teils allein seine Erlösung bewirkende) Mysterium der Liebe Fausts und Gretchens, das Mephisto nicht zerstören kann, wenn er auch alles daran setzt, Faust in der Orgie der »Walpurgisnacht« der Dämonie des Geschlechtlichen verfallen zu lassen oder ihn wie Gretchen ins Verbrecherische hinabzuziehen (Tod der Mutter und Valentins; Gretchens Kindsmord). Gelehrten- und Liebestragödie waren schon im »Urfaust« enthalten, doch standen sie hier noch unverbunden nebeneinander. Die Szenen der Sturm-und- Drang-Fassung waren nach Goethes Worten in der Italienischen Reise »in den Hauptszenen gleich so und ohne Konzept hingeschrieben« ; erst während der beiden nächsten Arbeitsphasen schließt sich um die vorhandenen Szenengruppen ein exakter motivierender Handlungszusammenhang. Zugleich wird die charakteristische Prosa, die stark geprägt ist von mundartlichen und umgangssprachlichen Wendungen, in eine metrische Sprache übersetzt (nur die Szene »Trüber Tag. Feld« nach der »Walpurgisnacht« behält die krasse Prosa der Urfassung bei). Durch die Fülle verschiedener, der jeweiligen Situation klangsymbolisch angepaßter Vers- und Reimformen erhebt sich der erste Teil der Tragödie bereits zu dem in seiner metrischen Vielfalt in der gesamten Weltliteratur beispiellosen Gesamtkunstwerk des zweiten Teils. Nach der erschütternden Gewalt der »Kerker«- Szene muß Faust gleichsam durch einen Lethestrom zu einem neuen Lebensufer geleitet werden; durch einen Heilschlaf, wie wir ihn schon aus Iphigenie (Orest) und Egmont kennen. »Wir sehn die kleine, dann die große Welt«, hatte Mephisto Faust vor ihrem Abschied von seinem Studierzimmer angekündigt (Vs. 2052). Die ›große Welt‹ ist nun in der Tat der ›Weltenkreis‹ des ersten Akts: ein von schweren Krisen geschütteltes Kaiserreich, dem ein »Aufruhr« droht, dessen Zeugen wir im vierten Akt tatsächlich werden. Hinter dem Kostüm spätmittelalterlichen Kaisertums erkennen wir deutlich die (satirisch gezeichneten) Züge des ancien régime. Der maßlose Aufwand für die Hofhaltung und der repräsentative Prunk der »Mummenschanz« wird mit bedrohlicher Geldnot – eine der Ursachen auch des Zusammenbruchs des absolutistischen Staates in Frankreich – kontrastiert. Der Luxus erhält so das Vorzeichen sträflichen Leichtsinns, zumal der Kaiser sich aufgrund der Genehmigung des von Mephisto erfundenen, durch imaginäre Schätze ›gedeckten‹, inflationären Papiergelds, das den Staatsbankrott nur um so sicherer herbeiführt, aller Rechtlichkeit begibt. Goethe spielt hier wohl auf die von der französischen Regierung zwecks Tilgung der Staatsschulden 1716 genehmigte Privatnotenbank John Laws an, deren immer mangelhafter gedeckte Banknotenausgabe zu einer Inflation führte und Frankreich 1720 in eine schwere Finanz- und Wirtschaftskrise stürzte. Die Papiergeldaffäre und der mephistophelische Zauber, mit dessen Hilfe es dem Kaiser im vierten Akt allein gelingt, die Ordnung wieder aufzurichten, erinnern überdies an die Anfälligkeit vieler Fürstlichkeiten des 18. Jahrhunderts für die Geisterseherei sowie die obskuren Machenschaften, mit denen spiritistisch-geheimwissenschaftliche Magier und Scharlatane »die Einbildungskraft der Großen aufzuregen, ihren Geist zu verblenden, ihr Vertrauen zu erschleichen wußten«, wie Mirabeau 1786 in einem Brief über Lavater und Cagliostro schreibt. Letzterer war ja auch in die Halsbandaffäre um Marie Antoinette verwickelt, die für Goethe die Korruption des französischen Staats und Hofs so erschreckend bloßlegte. In der Mummenschanz (Szene »Weitläufiger Saal«) flüchten Kaiser und Hof sich aus der immer bedrückender werdenden »Tageswelt« in die Zauber einer üppigen Scheinwelt: eine allegorische Revue, in der das Antik-Mythische ganz im Gegensatz zur Klassischen Walpurgisnacht des folgenden Akts, die auch das Grauenhafte und Häßliche beschört, in höfisch gezähmter Form erscheint. Die Harmlosigkeit festlich-konventioneller Allegorie wird jedoch mit dem Auftreten der Plutus-Gruppe Fausts zum Magischen und Symbolischen hin durchbrochen. Wenn Plutus- Faust den Knaben Lenker, der die Poesie personifiziert, aus der Hofwelt in die »Einsamkeit« verweist (Vs. 5690 ff.), so drückt sich darin aus, daß dem Reichtum, wie er hier durch Plutus personifiziert wird, das Gewand der Künste, der Poesie, die ihn bisher schmückten, nicht mehr ansteht, verwandelt er sich doch in den rein materiellen Besitz. Und wie wenig die Hofgesellschaft die Gaben der Poesie zu fassen vermag, das zeigt sich nicht nur hier (Vs. 5590 ff.), sondern mehr noch bei der Beschwörung Helenas (Szene »Rittersaal«). Die Einsamkeit als Sphäre des Schöpferisch-Poetischen, die im Tasso noch vom höfisch-aristokratischen Wertgefüge her in ein problematisches Licht gerückt werden konnte, erfährt nun, vor allem in Fausts Abstieg zu den »Müttern« – dem Reich der »Bilder aller Kreatur« (Vs. 6289), der Ideen und Urbilder alles möglich und wirklich Seienden –, eine so unerhörte mythisch-symbolische Vertiefung, daß von ihrem Standpunkt aus das höfische Getriebe geistleer erscheint. Das »magische Theater« (Skizze von 1816) der Beschwörung Helenas bleibt für den Hof eine teils bekrittelte, teils ästimierte repräsentative Veranstaltung; er erwartet und vermißt hier Theater in den ihm geläufigen ›schicklichen‹ Dimensionen, während für Faust die Erscheinung Helenas eine sein ganzes Wesen aufwühlende, ihn in tiefste Einsamkeit verschließende, aus allen gesellschaftlichen Convenancen herausreißende geistig-sinnliche Erfahrung ist. Indem Faust freventlich-unmittelbar die Grenze zwischen Wirklichkeit und magisch beschworener Urbildsphäre überschreitet, gewaltsam über die Schwelle des Jetzt in das Einst des Mythos treten will, endet die magische Veranstaltung mit einem Fiasko. Hier setzt nun der unerhörte Einfall Goethes ein, Faust über eine Folge von mehreren Szenen hinweg in einen Tiefschlaf zu versenken und erst auf klassischem Boden wieder erwachen zu lassen. Faust wird inzwischen in sein einstiges Studierzimmer zurückgebracht, die Schüler-Szene wiederholt sich mit ausgetauschten Vorzeichen; nun wird der »alte Herr« Mephisto von dem zum Baccalaureus Avancierten in die Enge getrieben: Satire auf die Anmaßung der Jugend, die ihr empirisches Ich mit dem transzendentalen Ich der idealistischen Philosophie verwechselnd, sich selbst zum Weltschöpfer macht (Vs. 6794). Wagner als eine Art Prometheus-Karikatur sucht einen Menschen aus der Retorte zu fabrizieren – bezeichnend für ihn, der glaubt, alles nach Rezepten ›machen‹ zu können (seine Vorliebe für die Anwendungsmuster der Rhetorik!), aber auch für die Hybris der modernen Naturwissenschaft. Der nur mit Hilfe mephistophelischer Magie zustandegebrachte Homunculus entzieht sich freilich sofort dem Geist seines ›Vaters‹, er strebt als quasi präexistentielles Wesen nach Existenz – in Griechenland, wo eben die »Klassische Walpurgisnacht« stattfindet. Er wird seine Verkörperung, am Triumphwagen der Galatea zerschellend, im Meer als dem Element proteischer Verwandlungen suchen; von der Urfeuchte aus hat er den Werdegang der Natur nachzuholen. Der in Griechenland wiedererwachte Faust begibt sich auf den Weg in den Hades, um Helena von Persephone loszubitten. Diese Losbittung, von Goethe ursprünglich als einer der Höhepunkte des Dramas gedacht, wird in der Darstellung übergangen, offenbar weil Goethe eine andere – symbolische – Motivierung der Erscheinung Helenas im dritten Akt wesentlicher wurde: während seines Tiefschlafs erzeugt sich Faust selbst Helena, den Mythos von der Begattung Ledas durch den Schwan nachträumend (Vs. 6903 ff.). Dieser Traum symbolisiert die Einheit des schöpferischen Eros mit dem physischen. Im Traum eignet Faust sich das Urbild der Schönheit schöpferisch an – die Tragödie des Künstlers beginnt. Aber noch eine andere symbolische Linie führt zu Helena hin: in ihr vollendet sich der Werdegang der Natur, der in der »Klassischen Walpurgisnacht« feiernd nachvollzogen wird. Helena, das Urbild der Schönheit, ist zugleich Schöpfung der Natur und des künstlerischen Eros. Die 1483 Verse der »Klassischen Walpurgisnacht« sind eine einzigartige poetisch-theatralische Enzyklopädie der Gestaltenwelt des griechischen Mythos unterhalb der olympischen Sphäre, von den chaotisch-monströsen Phorkyaden bis hinauf zur schönen Gestalt der Galatea, die das Erscheinen Helenas unmittelbar vorbereitet. Mephisto hat in dieser Welt, wo Natur eben nicht Sünde ist, als Teufel nichts zu suchen, der Böse muß deshalb zum Häßlichen werden und leiht sich von den Phorkyaden die angemessene Ungestalt, welche im Helena-Akt die Rolle der Schaffnerin spielt. Nach dem berauschenden Gewoge der Bilder und Gestalten des zweiten Akts stellt sich die antike Gruppe »Vor dem Palaste des Menelas zu Sparta« in ihrer monumentalen Statuarik um so eindrucksvoller dar. Helena ist »Idol«, weiß sich als eine gedichtete Gestalt – eine einzigartige Kunstfigur, die mit ihrer eigenen Dichtungs- und Deutungsgeschichte eins ist (»Bewundert viel und viel gescholten . . .«; Vs. 8488). »Das Merkwürdigste bei diesem Stück ist« einem Briefkonzept Goethes (1826) zufolge, »daß es, ohne den Ort zu verändern, gerade dreitausend Jahre spielt, die Einheit der Handlung und des Orts aufs genaueste beobachtet, die dritte jedoch phantasmagorisch ablaufen läßt« – ja Zeit überhaupt aufhebt. Eine »klassisch-romantische Phantasmagorie« hat Goethe die (vorveröffentlichte) Helena genannt: Faust begegnet Helena in der Ritterburg der zweiten Szene auf klassischem Boden, sie ihm jedoch in romantischer, mittelalterlicher Zeit. Goethe konnte Antike und Mittelalter sowie die aus beiden Epochen abgeleiteten polaren Kunsttendenzen, die objektiv-plastische und die subjektiv-musikalische, nur deshalb symbolisch gegeneinanderstellen, in Faust und Helena zu einer Liebes-Synthese verbinden, weil beide ihm in gleicher Weise historisch geworden sind. Auch das Griechische wird nun, weit entschiedener noch als in Pandora, durch die archaisch-fremde, wie ›übersetzt‹ wirkende Sprache ins Ferne gerückt. In der poetischen Abbreviatur des Lebenslaufs Euphorions im Arkadien der dritten Szene schlägt Goethe, souverän-spielerisch die Zeiten ineinanderschiebend, die Brücke zur Gegenwart (Lord Byron). Das Ende Euphorions, der sich, ein neuer Ikarus oder Phaeton, in trunkenem Höhenflug zu Tode stürzt – die Gefahr der Subjektivität des modernen Künstlers, der stets »auf der Kippe steht« (Goethe über Runge; S. Boisserée, 4. Mai 1811) – zerstört das arkadische Idyll. Nach der gewaltigen Nänie des Chors kehrt Helena in den Hades zurück. Wie die Klassische Walpurgisnacht sich vom Elementaren zur schönen Gestalt emporläuterte und verdichtete, so löst sich nun alles Gestalthafte im dionysisch-orgiastischen Dithyrambus des Chors, der den Akt beschließt, wieder ins Elementare auf. Hier hat Goethe die von der Frühromantik (Friedrich Schlegel) wiederentdeckte dionysisch-rauschhafte Seite des Griechentums, welche dem klassischen Antikebild ferngelegen hatte, hinreißend Klang und Bild werden lassen. Wenn Phorkyas in der ingeniösen Szenenanweisung des Schlusses von den Kothurnen heruntertritt, Maske und Schleier zurücklehnt, um sich wieder als Mephisto zu zeigen, so wird in solcher Desillusionierung offenbar, was der ganze Akt war: magisches Spiel, Phantasmagorie. Der vierte Akt kehrt auf deutschen Boden zurück: auf die Tragödie des Wissenschaftlers, des Liebenden, des Künstlers folgt die Tragödie des politisch- gesellschaftlich Handelnden. Der längst fällige Aufruhr im Kaiserreich ist ausgebrochen. Symbolisch gespiegelt wird er in der Lehre des Vulkanismus, wie Mephisto sie sich Vs. 10075 ff. zueigen macht, während Faust sich auf den Standpunkt der neptunistischen Evolutionslehre Goethes stellt. Schon in der »Klassischen Walpurgisnacht« (Vs. 7503-7950) wurde der Streit zwischen Vulkanismus und Neptunismus (dort zwischen Anaxagoras und Thales ausgetragen) zur Basis einer weitgespannten politischen Allegorie: der vom Seismos, den vulkanisch-gewaltsamen Erdkräften, aufgetürmte Berg bringt die blutige Gewaltherrschaft der Pygmäen mit sich; aus Gewalt entsteht neue Gewalt – Goethes allegorische Satire auf die Französische Revolution, welche der ancien- régime-Satire des Hofakts korrespondiert. Nachdem Faust und Mephisto durch magische Gewalt dem fast schon überwundenen Kaiser zum Sieg verholfen haben, wird das Reich restauriert. In der breit ausgestalteten Reichsämterverleihung der letzten Szene wird dieser Restaurationsvorgang symbolisch vergegenwärtigt. Obwohl solche Wiederherstellung der Ordnung nach dem Chaos der Anarchie von Goethe nicht in der gleichen Weise satirisch entlarvt wird wie das Hofgetriebe des ersten Akts, so läßt er uns doch die Gewesenheit dieser Ordnung spüren; sie wirkt wie auf eine transparente Fläche gemalt, hinter der wir die Umrisse und Schatten einer ganz anders gearteten Wirklichkeit wahrnehmen. Das Pathos der Worte des Kaisers, von Goethe bewußt durch den Gebrauch des hölzernen Alexandriners ins Anachronistische gerückt, wirkt, so selbstverständlich es sich gibt, angekränkelt vom Wissen um den Frevel, dem das Reich seine Wiedergeburt verdankt. Manifestiert sich hier nicht ein ›ancien régime‹, das »nur mehr der Komödiant einer Weltordnung ist, deren wirkliche Helden gestorben sind« (Marx)? Faust wird als Gegenleistung für seine Unterstützung vom Kaiser mit dem Meeresstrand belehnt, auf dem Faust, um die »zwecklose Kraft ungebändigter Elemente« (Vs. 10229) zu überwinden, ein großartiges Kolonisationswerk plant. Anders als die Siedlungsunternehmungen der ›Entsagenden‹ in den Wanderjahren geht dieser Plan nicht auf humanitär-soziale Antriebe zurück, sondern sein einziges Motiv ist der titanische Trotz gegenüber den Elementen. Faust verzichtet auch hier nicht auf die Mittel der Magie und der Gewalt (»Menschenopfer mußten bluten . . .«; Vs. 1127), die von Mephisto wieder bis zum Verbrechen getrieben wird (Mord an Philemon und Baucis). Der reine Despot, der alles nur sich selbst verdanken, den »Weltbesitz« ganz sein eigen wissen will (Vs. 11 241 f.), kann deshalb auch das idyllische Reservat Philemons und Baucis' in seinem Herrschaftsbereich nicht ertragen. Noch der letzte Befehl Fausts an Mephisto vor seinem Tod ist eine Aufforderung zur Gewalt (Vs. 11554). Erst in der utopischen Vision seines allerletzten Lebensmoments (Vs. 11559 ff.) scheint – doch hier wird sich niemals ein consensus der Interpreten einstellen – der despotische Herrschaftswille sich zu altruistisch-republikanischer Gesinnung zu wandeln. Die Hoffnung, »auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehn«, wird indessen in mehrfacher Hinsicht als Illusion decouvriert. Schon in der bissigen Satire auf die Privilegiengier der katholischen Kirche am Ende des vierten Akts – als sich der Kaiser die geistliche Legitimierung seines mit teuflischen Mitteln restaurierten Reichs vom Erzbischof förmlich erkaufen muß, die Kirche aus dem Bösen Kapital schlägt – werden der »hohen Kirchenstelle« für den zu kolonisierenden Meeresstrand der »Zehnte, Zins und Gaben und Gefälle« zugesichert (Vs. 11038). Niemals würde der Grund also ›frei‹ sein! Doch auch davon abgesehen bleibt Fausts Utopie reine Illusion. Während der durch den Anhauch der »Sorge« Erblindete im Geklirr der Spaten die Arbeit an seinem Werk zu hören meint, schaufeln in Wirklichkeit die Lemuren sein Grab, und Mephisto läßt keinen Zweifel daran, daß dieses mühsam errichtete Werk bald wieder ein Raub der Elemente sein wird (Vs. 11549 f.). In Fausts letzten Worten: »Zum Augenblicke dürft' ich sagen :/Verweile doch, du bist so schön!/. . ./Im Vorgefühl von solchem hohen Glück/Genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick« (Vs. 11581 ff.) glaubt Mephisto die Fausts Verhängnis besiegelnden Worte der Wette wiederzuerkennen. Doch ist hier eben nur von Vorgefühl die Rede, der Satz der Wette nur im Irrealis, in Hinblick auf die erträumte Zukunft ausgesprochen! Mephisto täuscht sich also, wenn er glaubt, die Wette gewonnen zu haben. Gerade in diesen letzten Worten offenbart sich, daß Faust im gegenwärtigen Augenblick niemals Genüge finden kann. So kann nach dem grandiosen, auf die Mysterienspieltradition zurückweisenden Spektakel der »Grablegung«, in dem der Teufel der Genarrte ist, das Erlösungsmysterium der »Bergschluchten«-Szene beginnen, in dem Goethe – um sich nicht im »Vagen« zu verlieren, auf die »scharf umrissenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen« zurückgreifend (Eckermann, 6. Juni 1831) – seine Überzeugung vom rastlosen Fortwirken der »entelechischen Monade« nach dem Tode (an Zelter, 19. März 1827) gestaltet. Im Aufsteigen der Entelechie Fausts innerhalb der hierarchisch gestuften transzendenten Regionen drückt sich seine Erlösung als Ablösung vom Materiellen, Finsteren und Auflösung ins Geistige, Lichte, als Annäherung ans Göttliche aus. Vom letzten Materiellen kann Faust nur durch das »Ewig-Weibliche« gereinigt werden, das sich in der Mater gloriosa und den Büßerinnen, deren eine »sonst Gretchen genannt« ist, offenbart. Im abschließenden Chorus mysticus ist hymnisch formelhaft die Kardinalidee der Goetheschen Weltsicht: die Gleichnishaftigkeit der aus Gott emanierenden und in ihn zurückfließenden Welt zusammengefaßt. Als »Tragödie« hat Goethe Faust bezeichnet, doch hat er dabei niemals an eine exakte Gattungsbestimmung gedacht. Von der »Divina Tragedia« haben schon die Zeitgenossen unter Anspielung auf Dantes Weltdichtung gesprochen, und Weltdichtung ist auch Goethes Lebenswerk, freilich in einem anderen Sinne als die Divina Commedia, nicht poetische Demonstration eines objektiven Kosmos, sondern ganz aus dem Subjekt herausgesponnen, Phänomenologie des Geistes, wie Hegels ein Jahr vor Faust I erschienenes erstes philosophisches Hauptwerk: Erinnerung an die wesentlichen Entwicklungsmomente der menschlichen Gattung, enzyklopädische Zusammenfassung ihrer Grunderfahrungen, Rückblick auf die geschichtlichen »Gestalten des Bewußtseins«, mit deren keiner Goethe sich mehr identisch weiß, daher auch der universalpoetische, alle Gattungen mischende Charakter des Faust. In ihm kehren alle wesentlichen Grundformen des europäischen Dramas wieder – von der attischen Tragödie über das mittelalterliche Mysterienspiel, das Volksdrama des 16. Jahrhunderts und das höfische Theater bis hin zum romantischen ›Gesamtkunstwerk‹ der Gegenwart. Mit dieser dramatischen Vielfalt verbindet sich die unerhörte lyrisch-metrische Komplexität des Faust. Dessen Gesamtkunstwerk-Charakter erklärt auch die eminente Bedeutung der bildenden Kunst und vor allem der Musik in der Rezeptionsgeschichte. Goethe selbst hat Faust II teilweise als »Oper« konzipiert und bezeichnet. Eine Musik nach Art des Mozartschen Don Juan stellte er sich für sie vor; eine Zeitlang hat er sogar mit dem Gedanken einer Vertonung durch Giacomo Meyerbeer gespielt (der ein Schüler Zelters gewesen ist!). Und so ist nach Goethes Tod immer wieder nach einem musikalischen Pendant zur Dichtung zumal des Faust II gesucht worden, sei es im Sinne einer freien musikdramatischen Adaption (deren bedeutendste: Arrigo Boitos Mefistofele, 1868), sei es als liedhafte oder symphonisch-oratorische Exegese des authentischen Textes (erwähnt seien namentlich Liszts Faust-Symphonie, 1857, Schumanns Faust-Szenen, 1862, und der Schlußsatz von Mahlers 8. Symphonie, 1906). In der Zusammenschau divergierender Kunstformen und -welten, die Faust zum Zentralwerk der deutschen, ja der europäischen Dichtung der neueren Zeit machen, drückt sich der Abstand Goethes zu jenen Formen und Welten in ihrer historischen Bedingtheit wie das Bewußtsein freier Verfügung über sie aus, das Hegel in der Ästhetik als das Stigma des modernen Künstlers beschrieben hat: »Das Gebundensein an einen besonderen Gehalt und eine nur für diesen Stoff passende Art der Darstellung ist für den heutigen Künstler etwas Vergangenes, und die Kunst dadurch ein freies Instrument geworden . . . Der Künstler steht damit über den bestimmten konsekrierten Formen und Gestaltungen und bewegt sich frei für sich, unabhängig von dem Gehalt und der Anschauungsweise, in welcher sonst dem Bewußtsein das Heilige und Ewige vor Augen war.«