http://www.sudetendeutsche-in-hessen.de/nachlese_landeskulturtagung2002.htm Vgl. Deutschböhmische Literatur. Olomouc 2001, 223-241 Zu unserem nächsten Beitrag legte uns Frau Dr. Andrea Hohmeyer Ihre prämierte Dissertation vor und referierte über ein Kapitel. Die Autorin hat Verbindungen über einen Elternteil zum Egerland. Sie studierte Geschichte, promovierte in diesem Fach und leitet heute eine Abteilung in einer großen deutschen Firma. Mit ihrer Untersuchung gab sie uns neues Wissen über das Schrifttum in der ersten Republik, ihre Arbeit erweitert die Quellenforschung, denn gerade in der böhmischen Landschaft sei die gesamte Zeitschriftenliteratur noch immer von politisch einseitiger Prägung; ihr fehle eine übergeordente Gesamtschau. Andrea Hohmeyer (Frankfurt/Main) "Über alle nationalistischen Grenzen hinweg..." Deutschsprachige literarische Zeitschriften in den böhmischen Ländern nach 1918 Nach 1918 übte die Presse der Tschechoslowakei auf den sich zunehmend verschärfenden Nationalitätenkonflikt großen Einfluß aus. Denn gerade in den ersten Jahren nach der Staatsgründung wurden politische, aber auch kulturelle Auseinandersetzungen mit scharfen Worten in den Blättern ausgetragen. Die Zahl der deutschsprachigen Zeitungen war sehr hoch, allein auf Böhmen bezogen betrug sie fast das Vierfache der tschechischen. Ihre bekanntesten Vertreter, die deutsch-nationale "Deutsche Zeitung Bohemia" (gegründet 1827), das deutschdemokratische "Prager Tagblatt" (gegründet 1876) und die erst 1921 von der tschechoslowakischen Regierung initiierte "Prager Presse", wurden in Prag herausgegeben. Zeitungen beziehen sich aktuell auf ein Geschehen, schon am darauffolgenden Tag sind ihre Meldungen Makulatur. Anders verhält es sich mit Zeitschriften. Sie erscheinen periodisch, d.h. in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen. Ihre Aufgabe besteht deshalb kaum in der Vermittlung von Tagesgeschehen, sondern vielmehr in der kritischen Betrachtung einer Themenauswahl. Soweit sich Zeitschriften nicht an die Massen richten, wie die Magazine, bleibt ihr Inhalt zumeist auf ein besonderes Gebiet beschränkt, z.B. auf die Literatur. Solche Zeitschriften vermitteln Anregungen und führen einen geistigen Gedanken- bzw. Erfahrungsaustausch herbei. Der Grund, warum literarische Zeitschriften im Rahmen dieses Vortrags vorgestellt werden, liegt in der Wichtigkeit, die diese Periodika bei der Ausprägung spezifischer Eigenarten, Themen und Formen von Literatur der böhmischen Länder hatten. Zahlreiche Autoren waren zugleich als Journalisten tätig - z.B. Egon Erwin Kisch, Ludwig Winder, Fritz Mauthner, Robert Musil, Hans Natonek, Otto Pick, Walter Seidl, Oskar Wiener und viele andere mehr. Ihnen dienten diese Zeitschriften häufig als besonderer Anreiz für ihr übriges literarisches Schaffen. In diesem Zusammenhang versuchten literarische Periodika, die Funktion aufklärender, anregender Vermittler zwischen Autoren und Lesern einzunehmen. Der Literaturgeschichtsschreibung dienen sie als authentische Quellen. Zum Thema literarische Zeitschriften gäbe es viel zu sagen, z.B. über "Ost und West", die "Herderblätter", den "Erker" oder die "Cechische Revue". Ich möchte meinen Vortrag jedoch auf zwei bedeutende Periodika fokussieren, die nach 1918 in Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien erschienen: die Zeitschriften "Die Provinz" und "Witiko". Deren Skizzierung erscheint mir besonders wichtig, da ihre Intention der Ausgleich war - und das, obwohl oder gerade weil ihre Herausgeber aus den deutschsprachigen, den sudetendeutschen, Randgebieten stammten, die man bis heute allzu vorschnell vor allem mit "Grenzlandkampf" verbindet. Mit "Ausgleich" meine ich zweierlei: Zum einen jenen Ausgleich zwischen der Kultur der Deutschen und der der Tschechen - gerade im Zeitalter der Nationalitätenkonflikte waren literarische Zeitschriften ein wirksames Instrument zur Behauptung der kulturellen Eigenarten. Andererseits meine ich aber auch den Ausgleich zwischen jenen Deutschen, die in den Randgebieten der böhmischen Länder lebten und jenen Deutschen aus Prag, die größtenteils Juden waren. Bevor ich aber auf beide Zeitschriften im einzelnen eingehe, ist es mir wichtig, zunächst die kulturellen und politischen Prämissen etwas näher zu beleuchten. Das tschechische kulturelle Leben des ausgehenden 19. Jahrhunderts diente weitgehend der nationalen Idee und sollte die Wiedergeburt einer tschechischen Nation befördern. Obwohl noch fester Bestandteil der Habsburger Monarchie, entwickelten die Tschechen keineswegs mehr eine Kulturkonzeption gesamtösterreichischer Prägung. Sie fußte vielmehr auf einem intensiven Nationalbewußtsein, auf der Betonung eines eigenen Volkstums und der Bewußtmachung eigener Werte. Angesichts dieser Entwicklungen kursierte zeitgleich unter den Deutschen in den böhmischen Ländern das Schlagwort von der notwenigen "Wahrung des nationalen Besitzstandes". Man fürchtete sich zunehmend vor der Vereinnahmung eigener kultureller Güter durch die bevölkerungsstärkere tschechische Seite und war davon überzeugt, daß die Schaffung einer tschechischen Nation letztendlich die Tschechisierung alles Deutschen in den böhmischen Ländern nach sich ziehen würde. Deshalb bildeten sich u.a. seit 1880 sogenannte "Schutzvereine" wie der "Deutsche Schulverein" oder der "Bund der Deutschen", mit der Zielsetzung, die deutsche Erziehung der eigenen Kinder sicherzustellen und den wirtschaftlichen Bestand zu erhalten. Die Deutschen in den böhmischen Ländern besannen sich also auf eigene Werte, ganz so, wie der bekannte Prager Germanist August Sauer 1907 in seiner Rektoratsrede forderte: "Aber wollen wir Deutsche in Österreich unsere Stellung in Wissenschaft, Kunst und Literatur behaupten, so müssen wir alle unsere Kräfte vereinigen auf die sorgsamste und liebevollste Pflege unseres angestammten Volkstums." Für die Selbstbehauptung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien leistete Sauer Beträchtliches. Ohne sein Zutun wäre kein "Bund der Deutschen in Böhmen" (gegründet 1894) und auch keine "Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen" (seit 1891) je zustande gekommen. Seine eigenste Schöpfung aber war die Zeitschrift "Deutsche Arbeit. Monatsschrift für das geistige Leben der Deutschen in Böhmen", gegründet 1901. Sie war vor allem eine Art "Seismograph" für die Problematik der Deutschen, die versuchten, ihr kulturelles Erbe gegen die sich national entwickelnden Tschechen zu behaupten. Mit der "Deutschen Arbeit" wollte August Sauer eine Zeitschrift von der Heimat, für die Heimat und über die Heimat herausgeben. Zu diesem Zweck versuchte er, sämtliche deutschsprachigen kreativen Kräfte um sich zu sammeln und zu organisieren. Sämtliche - das heißt sowohl die Deutschen vom Lande, als auch die deutschsprachige Prager, meist jüdische, Hauptstadtbevölkerung. Sauers Credo lautete "Verständigung und Annäherung", jedoch nicht primär zwischen Deutschen und Tschechen, wie es die literarischen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts, allen voran die Zeitschrift "Ost und West" intendiert hatten, sondern zwischen Deutschen und Deutschen. Sauer hatte, das zeigt auch das obige Zitat, erkannt, daß nur eine deutsche Gemeinschaft gegen eine ebenfalls auf Gemeinsamkeit bauende tschechische Nation ankommen konnte. So zeugt die "Deutsche Arbeit" in den elf Jahren seiner Chefredaktion von einem betont liberalen und überparteilichen Geist, deshalb sind die Jahrgänge 1901 bis 1912 wahrhaftig eine bunte Mischung deutschsprachiger Dichtung aus Böhmen, Mähren, Sudetenschlesien - und Prag. 1912 schließlich übergab August Sauer die Redaktion an den aus Teplitz stammenden Schriftsteller Hermann Ullmann, der zeitgleich Redakteur der Zeitschrift "Kunstwart" und Schriftführer beim "Dürerbund" war. Als Redakteur der "Deutschen Arbeit" setzte sich Ullmann stets auch für eine Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen ein. In der Sekundärliteratur fehlen nähere Angaben, die das Ende der "Deutschen Arbeit" betreffen. Herbert Cysarz zufolge erschien die Zeitschrift siebzehn Jahre lang. Demnach stellte sie ihr Erscheinen im Jahr 1918 ein - ein Opfer des politischen Wandels? Es bleiben nur Vermutungen und der undeutliche Hinweis, die "Deutsche Arbeit" sei letztendlich am politisch-ideologischen Widerstand gescheitert. Zu wenige Hinweise für eine Zeitschrift, die das literarische und journalistische Forum zahlreicher bekannter Dichter bildete und, wie sich zeigen wird, nachfolgenden Generationen von Redakteuren ein bedeutender Wegweiser war. Während die "Deutsche Arbeit" in Prag herausgegeben wurde, gingen die Versuche der "Provinz" und des "Witiko", durch literarische Zeitschriften nach 1918 Verständigung zu schaffen, wie bereits gesagt, von der sudetendeutschen Provinz aus. Einer der Gründe für dieses heute erstaunlich erscheinende Phänomen ist ein politischer Gesinnungswandel in der Mitte der zwanziger Jahre. Die Gründung der Tschechoslowakei war von der in den Randgebieten lebenden deutschsprachigen Bevölkerung zunächst überwiegend negativ aufgenommen worden. Zum einen, weil die Prager Regierung gewaltsam verhindert hatte, daß sich die deutsch besiedelten Randgebiete als Provinzen Deutsch-Österreichs konstituierten, zum anderen, weil die Tschechen von der großen deutschsprachigen Minderheit - die Rede ist von ca. 3,5 Mio. Menschen - die Anerkennung eines Staates mit betont tschechischem Nationalcharakter verlangten. "In dieser Konfrontation verfestigte sich der sudetendeutsche Negativismus, eine politische Richtung, welche die nationalstaatliche Konstruktion der CSR prinzipiell in Frage stellte und strikt auf dem Prinzip der Nicht-Kooperation beharrte", schreibt der Historiker Rudolf Jaworski. Seiner Auffassung nach verstanden sich die Vertreter dieses Negativismus als "das wache nationale Gewissen der Sudetendeutschen", ihre Ziele seien maximal und damit in der politischen Realität nicht erfüllbar gewesen. Deshalb mußten bald erste pragmatische Kompromisse mit der neuen Staatsmacht geschlossen werden. Je länger die politischen Verhältnisse andauerten, desto lauter wurden die Stimmen, die zu einer Umorientierung der sudetendeutschen Politik rieten. Die Interessen der Deutschen in den böhmischen Ländern sollten fortan in kleinen Schritten durch aktive Mitarbeit im Staat erkämpft werden. Zum Durchbruch gelangten diese politischen Kräfte des Aktivismus Mitte der zwanziger Jahre und mündeten 1926 in einer ersten Regierungsbeteiligung deutscher Parteien. Bis zum Frühjahr 1938 waren der "Bund der Landwirte", die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten in wechselnden Kombinationen und Funktionen ständig in der Regierung der Tschechoslowakei vertreten, und bis zu den Parlamentswahlen im Jahre 1935 hatten sie bis zu 80% der sudetendeutschen Stimmen auf sich vereinigen können. Trotz allem war dies kein Auftakt zu einem deutschtschechischen Ausgleichsprogramm, sondern eher eine politische Notwendigkeit. Deshalb wohl ist der Aktivismus stets eine "Haltung mit schlechtem nationalem Gewissen" (ein Zitat Jaworskis) geblieben. Seine Vertreter wurden von der Angst verfolgt, als nationale Verräter bezichtigt zu werden und waren deshalb nicht in der Lage, einen umfassenden Umdenkungsprozeß bei den Sudetendeutschen in Gang zu setzen. Die öffentliche Meinung in den deutschsprachigen Randgebieten wurde trotz Aktivismus von den "schneidigeren, durch keinerlei Kompromißzwänge abgeschwächten Parolen der Negativisten" beherrscht. In der sudetendeutschen Provinzpresse gaben die Negativisten den Ton an. Ähnlich wie bei den Tschechen, so waren auch bei den Sudetendeutschen die Meinungsmacher und vielleicht auch die Stimmung in der Bevölkerung nicht unbedingt deckungsgleich mit den parlamentarischen Mehrheiten. So ist es möglich gewesen, daß zwischen 1918 und 1938 eine breite negativistische Strömung unter den Deutschen in den Randgebieten Böhmens, Mährens und Sudetenschlesiens bestehen blieb. Sie wurde zwar durch die aktivistische Politik seit Mitte der zwanziger Jahre verdeckt und zurückdrängt, niemals aber außer Kraft gesetzt. Wie sich zeigen wird, hatte diese Ambivalenz des Aktivismus starke Auswirkungen auf die beiden Zeitschriften "Die Provinz" und "Witiko". Zum einen bereitete die Einsicht, mit den Tschechen kooperieren zu müssen, den Boden für ihre Existenz. Seine Inkonsequenz und die Unfähigkeit aber, den Negativismus auszuschalten, ließ die Zeitschriftenprojekte letztendlich scheitern. Seit dem März 1924 erschien "Die Provinz. Halbmonatsschrift für die Tschechoslowakei." Als Herausgeber verantwortlich zeichneten zwei in Karlsbad lebende deutsch-jüdische Autoren: Bruno Adler und Ernst Sommer. Bruno Adler (Jg. 1888), ein Sozialdemokrat, stammte aus einer Karlsbader Familie. Während in Prag die Nationalitätenkämpfe tobten, hatte er dort die Matura abgelegt und war anschließend zum Studium nach Wien und München gezogen. Ab 1919 wirkte er als Dozent für Kunstgeschichte am Weimarer Bauhaus. Bereits 1924 mußte er diese Anstellung aufgeben und in die Tschechoslowakei zurückkehren - die Inflation und eine sich für ihn daraus ergebende schlechte finanzielle Lage zwangen ihn dazu. Statt in die Metropole Prag ging Bruno Adler in seine Heimatstadt. Als Autor war er durch das Verfassen einiger kunsthistorischer Abhandlungen und die Herausgabe der Werke Adalbert Stifters und Matthias Claudius' hervorgetreten. In dem aus einer Iglauer Fabrikantenfamilie stammenden Rechtsanwalt Ernst Sommer (Jg. 1889) fand Adler in Karlsbad einen sozialdemokratischen Gesinnungsgenossen. Sommer hatte in Wien kurz Medizin und Kunstgeschichte, dann aber Jura studiert und anschließend promoviert. Seit 1920 führte er eine Kanzlei in Karlsbad und gehörte dem Stadtrat an. Bereits 1913 hatte Sommer seinen ersten Roman, "Gideons Auszug", veröffentlicht, zahlreiche weitere Werke folgten. Zwischen 1919 und 1936 war er regelmäßiger Mitarbeiter des sozialdemokratischen Parteiblatts "Volkswille", für das er über 200 Beiträge schrieb. Obwohl als "Halbmonatsschrift" betitelt, erschien "Die Provinz" von Anfang an unregelmäßig, denn sie war auf private Geldgeber angewiesen. Stete finanzielle Engpässe waren wohl der Hauptgrund für das drucktechnisch bescheidene, unaufwendige Layout. Doch dies stand auch nicht im Vordergrund. Der Titel - "Die Provinz" - sollte doppeldeutig verstanden werden. Er fokussierte zum einen den Entstehungsort der Zeitschrift, zum anderen den erhofften Wirkungskreis. Die Ziele der Herausgeber waren vielfältig. So wollten sie innerhalb der jungen Republik um ein besseres Verständnis der verschiedenen Völkergruppen füreinander werben. "Verständnis" - so lautete das Schlagwort vom ersten Heft an. "Die Provinz" wollte zudem ein "Brückenschlag" sein zwischen den deutschsprachigen Randgebieten und Prag, zwischen der Kultur der Hauptstadt, die deutsch und tschechisch war, und jener der Sudetengebiete. So waren ein zwischennationaler Ausgleich, aber auch die Überwindung des Antisemitismus wesentliche Ziele. Bruno Adler und Ernst Sommer wollten mit ihrem Blatt an der "Aufrichtung eines besseren Lebens mitwirken, das hervorgehen soll aus einer vernünftigen Ordnung der Freiheit und der gegenseitigen Verpflichtung." "Die Provinz" war in erster Linie ein deutschgeschriebenes Blatt mit politischen und kulturpolitischen Themen, in zweiter Linie war sie ein literarisches Forum. Sie wirkte "(...) für die Verständigung der geistig Verwandten über alle nationalistischen Schranken hinweg, (...) gegen den nationalpolitischen Machtwahn, gegen patriotischen Hochmut, auf welcher Seite auch immer, für die Überzeugung, daß es den Menschen für den Menschen zu erziehen gilt." Damit reichten die Ziele der "Provinz" weit über die des politischen Aktivismus hinaus, der sich, wie gesagt, mehr als ein Zweckbündnis verstand. "Die Provinz" wollte Spannungsverhältnisse nicht verdecken. So schreibt Bruno Adler in einer Verlagsanzeige, sein Blatt sei ein aufbauende Arbeit leistender Bundesgenosse aller Gutgesinnten in der Tschechoslowakei. Unter der Mitarbeit hervorragender Schriftsteller versuche "Die Provinz" mit Ernst und Schärfe alle aktuellen und insbesondere die Deutschen dieses Landes bewegenden Fragen des öffentlichen Lebens zu beantworten - unabhängig von Partei- und Klasseninteressen. Unter den Autoren, die die Herausgeber für Beiträge gewinnen konnten, waren nicht nur Schriftsteller, die ihre heimatlichen deutschsprachigen Randgebiete mit der Moldaumetropole verknüpften, sondern auch deutsche und tschechische Prager. Klangvolle Namen wie Otokar Brezina, Otokar Fischer, Rudolf Fuchs, Egon Erwin Kisch, Otto Pick, Alfred Polgar, Karel Capek, Fráná Srámek usw. stehen dafür. Auch Ernst Sommer und Bruno Adler, der erstmals sein Pseudonym "Urban Roedl" benutzte, steuerten zahlreiche Artikel bei. Sogenannte "völkische Autoren" kamen jedoch nicht zu Wort. Obwohl beide Herausgeber immer wieder betonten, ihre Zeitschrift sei unabhängig von Parteidoktrinen, gegen den nationalpolitischen Machtwahn, gegen den patriotischen Hochmut beider Seiten und trete statt dessen für eine Verständigung über alle nationalistischen Schranken hinweg ein, konnte die erhoffte nationale Toleranz nicht mehr geweckt werden. Bruno Adler und Ernst Sommer wurden bald öffentlich angefeindet. Deutschnationale Kreise forderten in den Randgebieten zum Boykott der Zeitschrift auf. Die Angriffe waren höchst polemisch. Doch die Herausgeber der "Provinz" zogen sich nicht verschreckt zurück, sondern gingen zum Gegenangriff über. So schildert Joachim Storck, wie sich Bruno Adler mit harschen Worten über das kulturelle Gebaren zahlreicher Deutscher aus den Randgebieten mokierte. In seinem provokant betitelten Beitrag "Der deutschböhmische Heimatdichter. Zur Rettung Adalbert Stifters" schrieb er: "Wie wirkt nun die künstlerische Tat Stifters in seiner Heimat nach, die zu jeder Gelegenheit bereit ist, mit dem Namen ihres großen Sohnes zu protzen? Erwachsene Leute lesen hierzulande im allgemeinen keine Bücher; ihnen genügt die Zeitung und die Zeitung versichert, daß Adalbert Stifter, der sich für den Vorläufer eines großen menschheits- und kunsterneuernden Dichters hielt, ein Vorläufer des Romanschreibers Hans Watzlik sei. Sie schreiben ihren Unsinn in der Sprache Stifters und glauben, es sei deutsch. Sie schreiben von unserm deutschen Heimatdichter und glauben, es sei Stifter. O Böhmen!" In diesem Beitrag bestätigt Adler nicht nur Jaworskis Äußerung, die öffentliche Meinung in den Sudetenländern sei von den Parolen der Negativisten beherrscht worden; in einem sarkastischen Wortspiel greift er namentlich den "Böhmerwalddichter" Hans Watzlik (Jg. 1879) an. 1916 hatte jener einen Roman veröffentlicht, der den Titel "O Böhmen!" trug und den Kampf der "Grenzlanddeutschen" um den Erhalt ihrer nationalen und kulturellen Güter schildert. Auch wenn Watzlik 1931 mit dem Tschechoslowakischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet wurde - von Adalbert Stifter trennten ihn stilistisch, sprachlich und ideologisch Welten. Eine Zeitschrift aber, die, wie "Die Provinz", in der Provinz ihre Leser suchte und dort für Aufklärung und Verständigung sorgen wollte, konnte kaum erfolgreich sein, wenn sie einen solch harschen Ton anschlug. Und so ist wohl die Tatsache, daß die Leser in den Randgebieten, denen die Zeitschrift besonders zugedacht war, sie nicht annahmen, einer der Gründe für ihre überaus kurze Existenz. Obwohl so bekannte Schriftsteller wie Heinrich Mann und Ernst Toller aus dem Deutschen Reich nach Karlsbad reisten, um für die Zeitschrift die Werbetrommel zu rühren, bedeutete die Doppelnummer 7/8 im Oktober 1924 das Aus bereits im ersten Jahrgang. Warum scheiterte "Die Provinz"? Wohl nicht, weil zwei Sozialisten - Mann und Toller - für sie Werbung gemacht hatten, sondern weil "Die Provinz" eine Zeitschrift war, mit der Bruno Adler und Ernst Sommer den völkischen Nationalismus zu bekämpfen und für die deutsch-tschechische Verständigung zu werben suchten. Jürgen Serke, der in seinem Buch "Böhmische Dörfer" eine kurze Biographie Ernst Sommers zusammengestellt hat, führt einige persönliche Fakten an, die im Kontext des Scheiterns eine Rolle gespielt haben dürften und die - wegen biographischer Parallelen - zum großen Teil auch auf Bruno Adler bezogen werden können: Sommer war Jude (wie Adler), er arbeitete als Jurist und zwar in Karlsbad, im Egerland, einer Hochburg der Auseinandersetzungen zwischen den Sozialdemokraten und den Deutsch-Nationalen. Als Mitglied der sozialdemokratischen Arbeiterpartei brachte Sommer (aber auch Adler) die jüdische Bourgeoisie gegen sich auf. Er war (wie Adler) ein deutsch-jüdischer Schriftsteller - allerdings nicht in Prag, sondern in den sudetendeutschen Randgebieten. Damit damit zog er den Zorn der völkischen Dichter, die neben der Heimat zunehmend die arische Rasse verteidigten, auf sich. Als Freund der Tschechen brachte er die deutschen Nationalisten gegen sich auf (auch dies trifft auf Adler zu). Demnach boten die Herausgeber der "Provinz" den Negativisten mehr als eine Angriffsfläche. Auch der Berliner Germanist Michael Berger kommt zu dem Schluß, daß mehrere Faktoren für das Ende der Zeitschrift ausschlaggebend waren. Zum einen nennt auch er eine zunehmend nationalistische Stellung, die die deutsche Bevölkerung der Sudetengebiete gegen die Tschechen, immer häufiger aber auch gegen die Prager deutsch-jüdischen Intellektuellen entwickelte. Zum anderen führt Berger ein "latent kulturelles Desinteresse" des deutschen Publikums der Randgebiete an. Dies deckt sich zunächst mit dem zitierten Beitrag Bruno Adlers , in dem dieser behauptet, die deutschsprachige Bevölkerung der Randgebiete lese "im allgemeinen" keine Bücher, sondern (höchstens) Zeitungen. Damit unterstellt Berger jedoch unzulässigerweise einen Mangel an kulturellem Interesse. Dem war nicht so. Autoren wie Erwin Guido Kolbenheyer, der erwähnte Hans Watzlik, Emil Merker, Robert Hohlbaum, Karl Hans Strobl, Friedrich Jaksch und viele andere wurden gern und häufig gelesen. Sie verstanden sich allerdings mehrheitlich als Dichter der Heimat, des engeren Umfeldes. Und sie berichteten über Dinge, die die Leser der Randgebiete mehr bewegten als ästhetische oder andere intellektuelle Belange. Diese Dichter waren ihren Lesern näher, weil ihre betont archaische Sprache und ihre nationalistische Weltanschauung deren Auffassung ähnelte. Doch soll an dieser Stelle nicht der Anschein geweckt werden, Heimatdichtung sei ein einseitig negativ zu beurteilendes Genre. Nach dem Ende der "Provinz" publizierte Bruno Adler 1925 in Karlsbad die Ausgabe der drei wichtigsten Romane des aus Neuhaus bei Eger stammenden Erzählers Hans Nicolaus Krauß (Jg. 1861), der auch "der Förstersohn von Konradsreuth" genannt wurde. Dieser war, so Adlers Auffassung, ein "richtiger Heimatdichter", der aber auch über die damalige österreichische Politik Aufsätze mit sozial- und agrarreformerischem Inhalt veröffentlichte. Zudem teilte Krauß mit den Herausgebern der "Provinz" "das typische provinzdeutsche Zeitschriftenschicksal": seine "Deutschen Blätter", herausgegeben 1886 in Eger, mußten ihr Erscheinen schnell einstellen. Was geschah mit den Herausgebern der "Provinz"? Bruno Adler verließ die Tschechoslowakei 1925 in Richtung Berlin. Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten kam er 1934 nach Prag[1] und ging 1938 schließlich ins Londoner Exil, aus dem er nicht mehr zurückkehrte. Er ist dort 1968 gestorben. Auch Ernst Sommer ist 1938 nach London emigriert. Nach dem Krieg durfte er nicht in die Tschechoslowakei zurückkehren - als deutschsprachiger Jude aus den Randgebieten war er unerwünscht. Er starb 1955 in London. Ich möchte nun zur Darstellung der zweiten avisierten Zeitschrift übergehen. Seit Beginn der zwanziger Jahre kursierte unter den jungen Kulturschaffenden der Tschechoslowakei die Idee, eine deutschsprachige literarische Kunstzeitschrift herauszugeben. Zu dem Kreis dieser Kulturschaffenden zählte auch der in Linz geborene Johannes Stauda (Jg. 1887), der zwischen 1919 und 1923 den Egerer Böhmerland-Verlag leitete. Aus politischen Gründen mußte Stauda 1924 seine Tätigkeit nach Deutschland verlagern. In den Jahren 1927/28 hatte sich der Johannes-Stauda-Verlag in Kassel konsolidiert und der Verleger, der über zahlreiche gute Kontakte zu Autoren und Künstlern verfügte, konnte die Herausgabe der lange geplanten Kunstzeitschrift ernsthaft angehen. Das Jahr 1928 war dafür insofern günstig, als die junge tschechoslowakische Republik ihr zehnjähriges Bestehen feierte. Für die Regierung war dies ein Anlaß, zahlreiche Projekte finanziell zu fördern. Im Hinblick darauf bemühten sich die Deutschen der böhmischen Länder um besonders gute Präsentationen ihrer kulturellen Leistungen in Gegenwart und Vergangenheit. Ihre Bemühungen wurden jedoch oft getrübt durch eine unübersehbare Kluft, die sich an zahlreichen Stellen zwischen den Deutschen in den Randgebieten und denen aus Prag auftat. Aus diesem Grunde konzipierte Stauda seine literarische Zeitschrift vor allem als Verständigungsmedium zwischen den in politische Lager aufgesplitterten Deutschen. Die geplante Zeitschrift sollte an die Traditionen von August Sauers "Deutscher Arbeit" anknüpfen und damit zu einem neuen Forum aller Deutscher der böhmischen Länder werden. Anders als die "Deutsche Arbeit" aber beschränkte sich Staudas Konzept allein auf Kunst und Literatur. Als Mitherausgeber holte sich der Verleger Josef Mühlberger (Jg. 1903) "ins Boot". Die beiden hatten sich erst kurz zuvor kennengelernt, als die erweiterte Dissertation des jungen Germanisten mit dem Titel "Die Dichtung der Sudetendeutschen in den letzten 50 Jahren" als Buch im Johannes-Stauda-Verlag, Kassel, publiziert wurde. Der Mitherausgeber Josef Mühlberger entwickelte sich im Verlauf seiner Tätigkeit zu einem fleißigen Schreiber für die Zeitschrift. In mehr als 70 Beiträgen präsentierte er sich als Literaturkritiker und junger Dichter, der frei war von rassischen, geistigen und nationalen Vorurteilen. Der Name der neuen Zeitschrift klang ungewöhnlich, barg jedoch deutlich ein Programm: "Witiko". Er knüpfte bewußt an Adalbert Stifters großen, zwischen 1861 und 1867 publizierten Roman an. Der Dichter Stifter erlebte nach dem Ersten Weltkrieg eine Art Renaissance; allerdings wurde er dabei von verschiedenen sudetendeutschen Gruppierungen z. T. mit verzerrenden, nationalistischen Implikationen besetzt, wie bereits der zitierte Beitrag Bruno Adlers in "Die Provinz", zeigte. Vielfach wird Stifters Figur des Witiko als die eines Böhmen alter Art interpretiert, als eine Mischung tschechischen und deutschen Wesens, dazu beider Sprachen mächtig. Nach der gescheiterten Revolution 1848 habe Stifter seinen Landsleuten ein "überstaatliches Modell" vorstellen wollen. Daraus läßt sich schließen, daß der Zeitschriftentitel "Witiko" auch ein Signal für Deutsche und Tschechen war, wieder mehr Kontakt zueinander herzustellen. Die erste Ausgabe der Zeitschrift "Witiko" erschien im Januar 1928. Im Großformat bot sie - anders als "Die Provinz" - eine künstlerische Ausgestaltung sowie ein literarisches Niveau von internationalem Rang. Ihren überregionalen Anspruch dokumentierte sie bereits im Impressum: Die Redaktion befand sich in Eger, der Druck erfolgte in Brüx. Es gab einen Kommissionsverkauf für den reichsdeutschen Buchhandel, der über den Johannes-Stauda-Verlag, Kassel, abgewickelt wurde. "Witiko" konnte in der Tschechoslowakei und Deutschland bezogen werden - über einen österreichischen Vertrieb gibt es keine Angaben. Der Verkauf durch den Buchhandel aber lief nur sehr schleppend und so konnten die Herausgeber gegen Ende des ersten Jahres kein besseres Resümée ziehen als daß man ein geistig kulturell orientiertes Publikum habe - allerdings nur ein "verschwindend kleines". War der Jahrgang 1928 noch in Vierteljahresheften erschienen, so umfaßte der Jahrgang 1929 sechs Hefte; der Preis und die hohe Qualität der Ausstattung waren gleich geblieben. Jedes Heft erschien in einer Auflage von 600 Stück. Diese Zahl erscheint recht gering, wenn man bedenkt, daß die deutsche Bevölkerung in den böhmischen Ländern damals ungefähr 3,5 Millionen Menschen ausmachte. Andererseits muß man wissen, daß gerade die Randgebiete, in denen die meisten Deutschen lebten, nicht vom Bildungsbürgertum, sondern von einer großen Masse Bauern und Arbeitern dominiert wurden. Für diese Menschen, die in Zeiten wirtschaftlicher Krisen und staatlicher Neuordnung genug damit zu tun hatten, ihr tägliches Auskommen zu sichern, standen moderne Kunst und Literatur nicht an erster Stelle. Obwohl die Zeitschrift "Witiko" finanzielle Unterstützung durch die "Deutsche Gesellschaft der Wissenschaften und Künste für die tschechoslowakische Republik" erhielt, wurde 1930 kein einziges Heft publiziert. 1931 erschienen wiederum sechs Ausgaben, die Auflage wurde jedoch auf je 500 Stück reduziert und "widrige Umstände" verursachten allerhand Unregelmäßigkeiten. Trotzdem erzielte "Witiko" Anerkennung im In- und Ausland. Das "Prager Tagblatt" schrieb: "Die große Revue der sudetendeutschen Kultur, so oft postuliert und vermißt, scheint nun Wirklichkeit geworden zu sein." und die "Deutsche Presse" jubelte: "Endlich eine Zeitschrift, die über eine lokale oder bündisch eingestellte Richtung hinaus das gesamte geistige Schaffen der Sudetendeutschen zusammenfassen und darstellen will." Man beachte, daß dieser Artikel das "gesamte geistige Schaffen der Sudetendeutschen" anspricht. Darunter verstand der Kommentator nicht nur die Deutschen in den Randgebieten, sondern auch die Prager Deutschen. Und dies beabsichtigten die "Witiko"-Macher, für die die Vielfalt ihrer Heimat und deren Einheit eine große Rolle spielte. Neben einer guten Nachbarschaft zwischen Deutschen und Tschechen sowie einem unverkrampften Verhältnis zu den böhmisch-mährischen Juden verlangte der Weg zu dieser Einheit vor allem Akzeptanz, die die Deutschen dafür einander entgegenbringen sollten. "Witiko" wollte diese Akzeptanz durch die Betonung der künstlerischen Vielfalt fördern und so spannte sich der Bogen von den sogenannten "Dichtern der sudetendeutschen Heimatlandschaften" bis zu denen des Prager Kreises. Und so standen Ausschnitte aus den Werken Erwin Guido Kolbenheyer neben denen Franz Kafkas. Zudem kündigte Josef Mühlberger 1929 zwei "Witiko"-Sonderhefte für das laufende Jahr an: eines über die Prager deutsche Literatur und eines über die Heimatkunst. Doch die Haltung des Blattes stieß nicht auf ungeteilte Zustimmung - Mühlberger bemerkte bereits früh "merkliche Widerstände". Vermutlich resultierten sie zum Teil aus der Tatsache, daß die Zeitschrift sich nicht als Lobby für Nationalisten verstand. Der geistig-künstlerische Gehalt des "Witiko" wurde wohl von "deutschnationalen Grenzlanddeutschen" abgelehnt. Zum einen weil nicht nur (verderbte) Metropole und Provinz einander angenähert werden sollten, sondern weil zum anderen die Förderung des Miteinander von deutscher und tschechischer Kultur großgeschrieben wurde. Dabei schätzten Stauda und Mühlberger das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen von Beginn an illusionsloser ein als z.B. Ernst Sommer und Bruno Adler: Zwar wollten die beiden Erstgenannten durchaus das Wesen und Werk der tschechischen Kollegen vermitteln, eine Chance für einen richtigen Ausgleich aber sahen sie nicht mehr. Trotzdem: Anders als die Grenzlandverteidiger und Deutsch-Nationalen erblickten die Herausgeber der Zeitschrift "Witiko" in den Tschechen nicht die größte Bedrohung. So schrieb Josef Mühlberger in der letzten Ausgabe 1928: "Wir [die Deutschen in den böhmischen Ländern, d. Verf.] kämpfen gegen den anderssprachigen Feind, unsere Phantasien steigern seine Macht und den Haß ins Unermeßliche. Der größte Feind aber sitzt in uns selber." Die Herausgeber des "Witiko" waren vor allem darum bemüht, die Perspektive jener Deutschen in den Randgebieten zu ändern, die zeitweilig sehr engen Kontakt suchten zu den Deutschen und Österreichern jenseits der Grenze, mit denen sie die Sprache gemein hatten. Auf diese Weise aber trugen z.B. die Dichter und Kulturschaffenden entscheidend dazu bei, daß die Deutschen in Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien keinen verbindlichen kulturellen Mittelpunkt ausbildeten wie die Tschechen in Prag. Stauda und Mühlberger ahnten wohl, welche schweren Folgen eine zunehmend externe Orientierung außerdem mit sich bringen würde. Laut Rudolf Jaworski nämlich minderten die verzweigten Beziehungen zu Deutschland und Österreich den Wert vergleichbarer Verbandskontakte mit entsprechenden tschechischen Organisationen oder machten sie ganz überflüssig. Die externe Einbettung der sudetendeutschen Volkstumsorganisationen ermunterte zu nationalistischer Kompromißlosigkeit innerhalb der Tschechoslowakei. Das behinderte die Selbständigkeit des sudetendeutschen Volkstumskampfes sowie die Chance eines deutsch-tschechischen Ausgleichs innerhalb der böhmischen Länder massiv. Außerdem pochte Josef Mühlberger auf die Besonderheit der deutschsprachigen Literatur der böhmischen Länder: Sie entstand in einem binationalen Umfeld, konnte ihre slawischen Einflüsse nicht ignorieren und war deshalb anders als andere zeitgenössische deutschsprachige Literatur. "Witiko" sollte diese Besonderheit positiv herausstellen, sollte diese Literatur in ihrer Gesamtheit präsentieren und ein Fortschreiten ihrer drohenden Provinzialisierung verhindern. Die Literaturgeschichte zeigt jedoch, daß dieses Ansinnen nicht realisiert werden konnte. Insgesamt erschienen sechzehn Hefte des "Witiko" - mehr als 1 000 gedruckte Seiten. Die Zeitschrift pflegte eine minutiöse Berichterstattung über sämtliche Veröffentlichungen sudetendeutscher Kunst oder Literatur in Buchform, Zeitschriften und Zeitungen, daneben ausführliche Buchbesprechungen von Neuerscheinungen, Berichte über Ausstellungen, Kritiken deutscher und tschechischer Theaterstücke sowie eine feste Rubrik, in der zeitgenössische tschechische Literatur vorgestellt wurde. Fast jedes Heft enthielt einen Beitrag über Adalbert Stifter und sein Werk sowie Angaben zur Sekundärliteratur. Michael Berger verdanken wir eine erste, recht aufschlußreiche Aufstellung der Themen, Dichter und Künstler, derer sich die drei erschienenen Jahrgänge der Zeitschrift annahmen. Der erste Jahrgang (1928) stand auffällig stark im Zeichen Erwin Guido Kolbenheyers und seines Werkes. Auf diese Weise versuchte man wohl, die Vergabe des Tschechoslowakischen Staatspreises an diesen Autor zu forcieren - was im folgenden Jahr auch gelang. Bereits im zweiten Heft des ersten Jahrgangs erschien ein Text Franz Kafkas, dazu dort und in späteren Heften Ausschnitte aus den Werken u.a. von Paul Leppin, Friedrich Jaksch, Hedda Sauer, Richard von Schaukal, Hans Watzlik, Karl Kreisler, Robert Lindenbaum, Leo Hans Mally, Johannes Urzidil und Bruno Hans Wittek. Ein wahrhaftiger Querschnitt durch die Vielfalt der deutschsprachigen Literatur aus den böhmischen Ländern. Der zweite Jahrgang war noch weit vielfältiger, die Hefte zwei bis vier standen jeweils unter einem bestimmten Thema: Heft zwei war Mähren gewidmet, Heft drei stellte die Prager deutsche Literatur in ihrer ganzen Bandbreite dar. Heft vier nahm sich der jungen Schriftsteller aus den deutschsprachigen Randgebieten an. Einige von ihnen, z.B. Franz Höller, Paul Hussarek, Erwin Heine, Bob Moder, Wilhelm Pleyer oder Bruno Hans Wittek wurden später zu den sogenannten "völkischen Dichtern" gezählt. Die beiden letzten Hefte des Jahrgangs 1929 mit ihrer regionalen Orientierung erreichten nicht das hohe Niveau ihrer Vorgänger. Wahrscheinlich stand den Herausgebern nicht mehr die ganze Fülle der deutschsprachigen Literatur zur Verfügung wie zuvor - vor allem die Prager Dichter fehlten. Diese Tendenz bestätigt sich leider auch im letzten Jahrgang des "Witiko" 1931. Über das Fehlen der Prager kann nur spekuliert werden. Vermutlich erregte das "Prager Heft" (3/1929) bei nationalen und völkischen Kräften einen solchen Zorn, daß Stauda, wollte er weitermachen, ihren Forderungen entgegenkommen und auf die "Prager Juden" verzichten mußte. Wie bereits "Die Provinz" (1924) war damit auch "Witiko" (1931) mit einem ausgleichenden, versöhnenden Konzept nicht erfolgreich. Hatten die Herausgeber die politische Situation in den böhmischen Ländern falsch eingeschätzt? Dies wird von Mühlberger deutlich abgestritten: Laut seiner Aussage sollte der "Witiko" überparteilich, d.h. keiner politischen Richtung verpflichtet sein. Die Zeitschrift wollte ausschließlich literarisch wirken, es gab keine antisemitischen und keine antitschechischen Töne, wenn auch kulturelle Gegensätze und Besonderheiten offen ausgesprochen wurden. In einer Zeit aber, da sich die Lage in der Tschechoslowakei ökonomisch, nationalpolitisch und ideologisch zuspitzte, mußte ein solches Konzept auf Mißtrauen stoßen und erhebliche Widerstände erzeugen. Die Vielfalt war es, die, laut Mühlberger, die Einseitigen aufbrachte. Zwar erscheine sie den heutigen Betrachtern als etwas Selbstverständliches, nichts Besonderes - für viele der damaligen Leser aber sei sie eine Provokation gewesen. Dazu sei ein auf beiden Seiten sehr ausgeprägter Antisemitismus getreten. Der Zeitschrift wurde zum Verhängnis, daß ihre Herausgeber glaubten, in politischen Zeiten auf einer unpolitischen Einstellung beharren zu können - wobei es offenbar als anstößiges Politikum empfunden wurde, daß sie den neuen Staat akzeptierten. Das Projekt "Witiko" hatte keinen Erfolg - aber ist es gescheitert? In einem Aufsatz aus dem Jahr 1971 stellt Josef Mühlberger, der wie Johannes Stauda die böhmischen Länder nach Kriegsende verlassen mußte, dies deutlich in Abrede. Vielmehr sieht er den Geist der Zeitschrift fortleben in zahlreichen Vereinigungen, die das geistige und künstlerische Erbe der Deutschen aus den böhmischen Ländern bis heute pflegen und erhalten. Erstaunlich ist, daß weder Josef Mühlberger noch die Zeitschrift "Witiko" auch in der dritten, verbesserten Auflage des Sudetenland Lexikons durch einen Artikel dargestellt werden. "Witiko" war der letzte bekannte Versuch von Seiten der Deutschen, eine Atmosphäre des Ausgleichs und der Versöhnung zu initiieren. Der Negativismus, der seit Mitte der zwanziger Jahre in den Hintergrund gedrängt worden war, gewann wieder die Oberhand. Mit ihrer "Politik der kleinen Schritte" hatten die Aktivisten die schlechte Situation in den deutschsprachigen Randgebieten nicht schnell genug verbessern können. Doch nicht nur innenpolitische Entwicklungen waren für den deutlichen Umschwung verantwortlich. Auch Hitlers zunehmende Wahlerfolge wirkten von außen verschärfend auf den deutsch-tschechischen Nationalitätenkonflikt. Die deutschsprachigen Nationalisten aus den Randgebieten sahen sich in ihrer Sicht bestätigt, sie gerieten in eine Art Aufbruchsstimmung, auf die die tschechische Öffentlichkeit mit wachsender Unruhe reagierte. Was die Herausgeber der Zeitschrift "Witiko" hatten verhindern wollen, war letztendlich doch eingetreten: Die Gesellschaft der Tschechoslowakei hatte sich in höchstem Maße polarisiert. Deutsche und Tschechen bedrohten einander offen, während die Prager deutschen Juden von ihren Sprachgenossen aus rassischen Gründen abgelehnt und diffamiert wurden. Das Klima war rauh und zu versöhnenden Gesten nicht mehr angetan. An dieser Stelle möchte ich meine Ausführungen über die beiden Zeitschriften beenden. Es bleibt mir nur noch anzumerken, daß die Zahl der literarischen Periodika, die zu unterschiedlichen Zeiten und mit diversen Konzepten in den böhmischen Ländern vermittelnd und ausgleichend wirken wollten, nicht gering ist. Die meisten von ihnen sind heute jedoch kaum mehr einem interessierten Leser bekannt, die Sekundärliteratur ist noch immer sehr spärlich. Wenn aber literarische Periodika wahrhaftig als "authentische Quellen der Literaturgeschichtsschreibung" künftig die Beachtung finden sollen, die ihnen eigentlich zukommt, tut sich ambitionierten Forschern auch hier noch ein recht weites Feld auf. ------------------------------- [1] 1934 erschien unter dem anagrammat. Pseudonym, das er als Jude angenommen hatte, um weiterhin publizieren zu können, bei Kurt Wolff in Berlin seine Biographie des Matthias Claudius. 1934 emigrierte er nach Prag. Die Biographie von Adalbert Stifter (Bln. 1936), zunächst von der Kritik hochgerühmt, hatte nach einer Denunziation A.s einen Skandal zur Folge, der zur Vernichtung der Restauflage u. zur Eröffnung eines Verfahrens gegen den Verleger Ernst Rowohlt führte. Ziel war es, ihn aus seinem Berufsverband auszuschließen u. seine Tätigkeit als Verleger unmöglich zu machen.