Meike: Rückwärts zurück Ježkovy voči, so muss sich Obst im Mixer fühlen, dachtet sie, jäh aus ihren Gedanken gerissen. Der Busfahrer schien eindeutig keinen Elan mehr zu haben, weiter auf den Straßen Tschechiens rumzukutschieren. Sie fuhren ja auch schon eine kleine Weile. Koblenz – Brno ist nicht gerade die kürzeste Strecke. Trotzdem kein Grund in der Stille der Nacht wilde Überholmanöver zu starten. So weit sie es überblicken konnte, saßen auch die wenigen anderen Fahrgäste, der Müdigkeit vermeintlicher Entspannung anheimgefallen und der Busfahrerhand am Lenkrad gnadenlos ausgeliefert, wie Fahnen im Wind auf ihren Omnibussitzen. Mmhh, jetzt wo sie wach war, hatte sie schon wieder Lust, eine zu rauchen, aber so wie der gute Mann da vorne raste, schien eine weitere Pause vor der Ankunft aussichtslos. Ein flinkes Lichtlein huschte über ihr Gesicht und machte sie auf das junge Mädchen vor ihr aufmerksam. Es schminkte sich und bemerkte nicht, welch Häßlichkeit den Hintergrund ihres hellhäutigen Spiegelbildes verdunkelte. Ganz klar, sie war nicht gerade durch ein makelloses Aussehen gesegnet und die achtundfünfzig Jahre, die sie inzwischen schon auf ihrem Buckel hatte, verfeinerten nicht gerade das Bild, höchstens die tiefen Furchen ihres faltigen Gesichtes. Das Aschblond ihrer immer noch langen, aber dünner gewordenen Haare hatte sich inzwischen in ein Gelblich-Grau verflüchtigt. Was früher noch rund an ihrem Gesicht gewesen war, hing nun, mehr oder weniger, und die seit eh und je dicke Knollnase hatte inzwischen Krater gebildet, vor allem einen, ganz tiefen, mitte-links. Dieses linke Ding war, zugegebener Maßen, ein Zeichen ihrer Unreinheit, ein Zeichen wohl auch ihrer Unbeherrschtheit. Und darauf nahm sie dann auch gleich noch einen Schluck aus ihrer am Herzen versteckten und damit vielleicht schon halbverwachsenen Silberbouteille. Noch ein flinkes Blitzlicht, diesmal jedoch aus ihren stahlgrauen und verschmitzt dreinschauenden Augen. Da war mehr. Man mußte nur ganz genau hinschauen. Einer hatte es gewagt. Einer hatte sich mehr für ihr Lachen interessiert und was dahintersteckte. Einer hatte sich gefragt, woher solch eine Frau die Courage und Kraft hernahm, zwar im Kleinen, aber doch mit unübertrefflich trockenem Humor und prägnanten Formulierungen über die Mißstände nicht nur einer Gesellschaft zu schreiben und dann auch zu veröffentlichen. Einer war mutig, unbedarft und nahezu tolldreist genug gewesen an ihren Tisch in dieser eher abgewrackten Brünner Kneipe zu treten und zu fragen: „Schönste aller Nichtschönen, erlauben sie mir, Unzulänglichkeit und weltliche Dezentriertheit in Person, mich an ihren Tisch zu gesellen, um mit ihnen über all die Dinge zu sprechen, die wir nicht haben?“ Anscheinend wurde er sich erst nach dem Blick in ihr verwirrt entsetztblickendes Gesicht seines Sprungs in der Schüssel und dessen, was er da gerade eben von sich gegeben hatte, bewußt, und fing darauf an, verunsichert und immer leiser werdend zu stottern: „Entschuldigen Sie, aber... ich äh... ich... bewundere sie... ob sie es nun glauben oder... oder nicht,... ich... ich... entschuldige mich... E- Entschuldigung!“ Das letzte seiner Worte verschwand in seinem Umdrehen zum Gehen, doch da schallte ein lautes, zu ihr passend dreckiges Lachen in seinen Rücken und erwiderte ihm: „Nun gut, Herr der Verrücktheiten. Anscheinend sind sie nicht auf den Mund gefallen. Setzen sie sich und wir werden sehen, was der Abend bringen wird.“ Mit einer Ehe und einem Sohn hatten wohl beide in jenem Augenblick nicht gerechnet, aber es hatte in jeder Hinsicht ge-funkt-ioniert. Dieser Sohn war nun auch der Grund für ihre Deutschlandreise gewesen. Nach dem Studium hatte er für sich mehr Perspektiven im Ausland gesehen, unter anderem auch ein Zusammenleben mit seiner jetzigen Ehefrau und ihren gemeinsamen Kindern. Da sie den Zenit des Erfolges schon länger überschritten hatte und deshalb nur noch selten schrieb, erlaubte es ihre freie Zeit, den Enkeln öfter einen Besuch abzustatten. Das kleine Reihenhaus in Moselnähe war gemütlich gewesen und hatte ihr eine Vorliebe für schöngeistige Literatur offenbart. So richtig geschmökert hatte sie schon lange nicht mehr und auch dort sollte es ihr nicht so recht gelingen, denn die inzwischen herangewachsenen Jugendlichen hatten ihr nur zu deutlich vor Augen geführt, dass sie alt geworden war, sehr alt sogar. Wieder ruckelte das Gefährt, in dem sie saß, gefährlich. Dabei fiel aus ihrer zerfledderten Ledertasche ihre Sonnenbrille und sie erinnerte sich an gestern. Das aus der Schul- und Studienzeit übriggebliebene, brökelige Deutsch hatte durch den regen Kontakt vor allem mit ihrer Schwiegertochter keinen perfekten, aber doch einen ansehnlich neuen Glanz erhalten. Was sie jedoch von ihrem Enkel aus dieser Sprache erfuhr, ließ sich für sie kaum noch in Worte fassen, zumindest nicht in deutsche. Es war ein herrlich sonniger Nachmittag im Garten hinter den Häuserreihen. Fein säuberlich abgetrennt, wie es in deutschen Landen so gern üblich ist. Schon da dachte sie: nun gut, jeder wie er meint. Mit Buch und Sonnenbrille verzog sie sich also in den hintersten Winkel des grünen Ecks und pflanzte sich zum Müßiggang. Doch dann ein Aufschrei mit nachfolgend stimmbrüchigem Gelächter: „Ey, Oma, porno! Wo hast´n die ausgegraben?“ Ihr verduztes Gesicht entglitt. Es löste sich einfach auf und sprach noch nicht einmal mehr Bände. Diese Anstößigkeit gab ihr den letzten Anstoß, sich doch schon jetzt von dannen zu machen. Auch wenn sie nicht mit der Zeit ging, gehen konnte sie noch und das behänder als man ihr aufgrund ihrer Laster und ihres Alters zugetraut hätte. Ihr Sohn war es aus ihren früheren, berufsbelasteten Zeiten noch gewöhnt, dass sie schneller als geplant aufbrach und so fragte er auch nicht weiter nach, während sie am Abendbrotstisch ihre Rückreise verkündete. Schade eigentlich, nie fragte er. Nie hatten sie es in all den Jahren fertiggebracht, wirklich miteinander zu sprechen. Und auch dieses Mal hatten sie es nicht geschafft. Nichts mehr von jugendlicher Kühnheit, nichts mehr von Häßlichkeiten durchbrechender Neugierde. Die Zeit, die eigene Unzulänglichkeit zu zugeben, war anscheinend vorüber. Sie alle hatten es über ihre egoistischen Alltäglichkeiten verlernt. Sie alle hatten sich aus ihrer kleinen Familie dezentriert. Das laute Quietschen der Busbremsen und das Zischen der öffnenden Türen holten sie zurück in die Nacht. Sie trat gebeugt die Stufen hinunter auf den Asphalt des dunklen Busbahnhofes und fühlte sich noch magerer als sie eigentlich war. Die graue, mürbe Realität Zvonařkas umfing sie unangenehm heimelig.