585 4.1 Literarische Wertung und Kanonbildung von Simone Winko 1. Problemstellung Welche Texte aus der kaum mehr überschaubaren Menge literarischer Texte sollen Studierende lesen? Da Vollständigkeit nicht zu erreichen ist, muß eine Auswahl getroffen werden. Kann diese Auswahl mehr als nur beliebig sein ? Gibt es Konsens über die wichtigeren und die weniger wichtigen Texte und Autoren ? Nach welchen Merkmalen und Maßstäben richtet sich eine solche Auswahl ? Fragen wie diese, die sich nicht nur Studienanfänger stellen, beziehen sich auf die beiden Problemfelder >Wertung< und >Kanonbildung< und führen ins Zentrum der folgenden Erläuterungen. Als »Kanon«[1] wird im allgemeinen ein Corpus von Texten bezeichnet, das eine Gesellschaft oder Gruppe für wertvoll hält und an dessen Überlieferung sie interessiert ist. Betrachtet man zum Beispiel Verlagsprogramme daraufhin, von welchen Autoren verschiedener Nationalitäten Gesamtausgaben erstellt worden oder welche dieser Texte zur Zeit lieferbar sind, dann hat man eine ungefähre Vorstellung vom Kanon der Weltliteratur. (Da Kanonisierung immer mit zeitlicher Verzögerung eintritt, müßte die Gegenwartsliteratur von dieser Suche ausgeschlossen werden.) Ein Kanon wäre auch eine Liste der 100 wichtigsten literarischen Werke, die Germanistikstudenten bis zum Examen gelesen haben müssen, vorausgesetzt, es ließe sich in einer bestimmten Gruppe, etwa der Mehrheit der Germanistikdozenten, Konsens über die Titel finden, die ein solcher Kanon enthielte. (Tendenziell ließe sich etwa »Die Leseliste« bei Griese u. a. 1994 als Kanon verstehen, der auf einem solchen akademischen Konsens beruht.) Der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Thema eröffnet sich eine doppelte Perspektive: Zum einen kann deskriptiv vorgegangen und untersucht werden, welche Texte nach welchen Kriterien tradiert wurden und nach welchen Mechanismen sie in einen Kanon einbezogen oder aus ihm ausgeschlossen werden. Zum anderen kann eine normative Perspektive eingenommen und nach adäquaten Maßstäben für die Kanonisierung literarischer Texte, für die Neu- oder Umbildung von Kanones gesucht werden. Unter beiden Perspektiven hängt das Problem der Kanonbildung eng mit dem umfassenderen Problem der Wertung von Literatur zusammen. II 586 Grundfragen der Textrezeption Unter dem Thema >Wertung von Literatur< wird gewöhnlich das sprachliche Beurteilen literarischer Texte verstanden. (Traditionel lerweise wird das Thema mit dem Stichwort literarische Wertung' bezeichnet; da diese Bezeichnung mehrdeutig ist, wird hier >Wer tung von Literatur< vorgezogen.) Damit ist jedoch wieder nur einer der beiden Aspekte erfaßt, unter denen das Thema literaturwissen schaftlich von Bedeutung ist, und zwar der normative. Der zweite, deskriptive Aspekt betrifft die Analyse von Wertungen, die im Um gang mit Literatur vollzogen werden, soweit sie in den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft fallen. Haben Literaturwissenschaftler im ersten Fall Maßstäbe der Wertung zu finden und zu begründen, so geht es im zweiten Fall darum, Wertungsprozesse und -mechanismen in allen Bereichen des privaten und institutionellen Umgangs mit Literatur zu rekonstruieren und zu erklären. Da die Wertung von Literatur den Rahmen bildet, innerhalb dessen Kanonisierung zu analysieren ist, soll sie zunächst (2.) untersucht werden, um im Anschluß daran (3.) Mechanismen und Problematik der Kanonbildung behandeln zu können. Die Untersuchungsperspektive wird dabei überwiegend analytisch sein: Ich beschränke mich auf die interne Analyse der (vermutlichen) Funktionsweise des Wertens und der Kanonbildung und muß hier historische und systematische Erklärungen weitgehend außer acht lassen. 2. Wertung von Literatur Unter dem Begriff »Wertung« ist eine Handlung zu verstehen, mit der ein Subjekt einem Objekt (Gegenstand, Sachverhalt, Person) die Eigenschaft zuordnet, in bezug auf einen bestimmten Maßstab, einen Wert, positiv oder negativ zu sein. Ein Text ist demnach nicht an sich wertvoll oder auch wertlos, sondern wird es erst, wenn man ihn auf einen Wertmaßstab bezieht und fragt, ob und in welchem Umfang er diesem Maßstab entspricht. (Tatsächlich werden nicht nur Texte bewertet, sondern auch Autoren, Ereignisse und literarische wie nicht-literarische Sachverhalte; der Einfachheit halber werde ich mich im folgenden auf die Wertung von Texten beschränken.) Diese sehr formale Bestimmung erlaubt es, die zwei Formen zu erfassen, in denen sich die Wertungen von Literatur manifestieren: sprachlich formulierte Wertungen und wertende Handlungen (2.1). Zugleich läßt sich ausgehend von dieser Bestimmung eine der am häufigsten gestellten Fragen beantworten: Wie verbindlich sind Wertungen? 587 (2.2) Und drittens ist zu fragen, welche dieser Massstäbe zur Beurteilung von Literatur theoretisch gefordert und praktisch angewendet worden sind oder werden (2.3). 2.1 Erscheinungsformen von Wertungen Versucht man, sich einen Überblick über die Wertungen im Umgang mit Literatur zu verschaffen, so bietet sich eine Einteilung in die oben angesprochenen zwei Formen des Wertens an: Literatur wird zum einen mit sprachlichen Äußerungen beurteilt. Zum anderen manifestieren sich Wertungen in Form von Handlungen, die den Handelnden als Wertung nicht bewußt zu sein brauchen. In beiden Fällen liegen – meist implizite – Werte zugrunde. Im ersten Fall stellen Werte die Voraussetzung dafür dar, von der Beschreibung eines Textes zu seiner Wertung zu gelangen: Sie bilden die Rechtfertigungsgrundlage sprachlicher Wertungen. Im zweiten Fall bilden Werte die Motivationsgrundlage einer Handlung und leiten sie. Um diese zwei Formen, in denen sich Wertungen manifestieren, zu unterscheiden, sollen die sprachlich formulierten im folgenden »sprachliche Wertungen« genannt werden, während die Wertungen, die sich in nicht-sprachlichen Handlungen ausdrücken, als »motiva-tionale Wertungen« bezeichnet werden (zuerst Heydebrand 2i984). Sprachliche Wertungen können explizit oder implizit sein. Die wichtigste explizite Form stellen Werturteile dar, das heißt Aussagen der Form »Grass' neuer Roman ist ein Meisterwerk«. Impliziten Wertungen dagegen sieht man ihren wertenden Charakter nicht sofort an. Eine Aussage wie »Grass' neuer Roman ist sehr umfangreich« zum Beispiel beschreibt eigentlich einen neutralen Sachverhalt; in bestimmten Kontexten kann sie aber wertend eingesetzt werden, etwa wenn der Sprecher vorher klar gemacht hat, daß er knappe, kurzgefaßte Erzähltexte für zeitgemäß hält und besonders schätzt. Motivationale Wertungen manifestieren sich meistens in Form von Selektionen. Zu ihnen zählen Akte bewußter Entscheidung, etwa die Wahl eines Œuvres für eine Gesamtausgabe oder auch die Entscheidung für den Kauf eines Romans; darüber hinaus können aber auch vorbewußte Selektionen durch Werte motiviert werden, wie unten am Beispiel des Lesens erläutert wird. Alle diese Wertungen kommen in jedem Bereich des Handelns mit Literatur vor: bei der Produktion (Autoren), Rezeption (Leser), Distribution (Verleger, Lektoren, Redakteure, Bibliothekare; Zensoren) und Verarbeitung von Literatur (Literaturkritiker, -wissen schaftler, -didaktiker; 588 als »Verarbeitung« von Literatur gilt hier Verfassen von Sekundärtexten im Anschluß an die Lektüre literarischer Texte, zum Beispiel Rezensionen oder Interpretationen). Wertungen gehören damit zum Gegenstandsbereich einer Lii raturwissenschaft, die ihre Aufgabe nicht allein in der Analyse und Historiographie literarischer Texte sieht (—» Literatur als >System<; Theorien der lit. Rezeption; -» Literaturgeschichtsschreibung; -> Literaturkritik). An zwei knappen Beispielen sollen diese abstrakten Ausführungen veranschaulicht werden: Anhand des Leseprozesses und der literaturwissenschalicliehen Praxis soll gezeigt werden, welche sprachlichen und motivationalen Wertungen den Umgang mit Literatur bestimmen können 2.1.1 Lesen Schon der Akt des Lesens und Verstehens von Texten kann von wertgeleiteten Selektionen beeinflußt werden. Kognitionspsychologische Untersuchungen haben gezeigt, daß bereits die Wahrnehmung selektiv ist, d. h. Leser nehmen unterschiedliche Merkmale eines Textes auf und verarbeiten sie auf verschiedene Weise. Für diese Unterschiede sind unter anderem »Schemata« verantwortlich, die Textwahrnehmung und -verstehen steuern. Das Verstehen eines Textes hat man sich nämlich, zumindest nach heute konsensfähigen Modellen (Viehoff 1988), nicht als passive Übertragung von Textinformation auf das Leserbewußtsein vorzustellen, sondern als aktive Konstruktionsleistung des Lesers. Dieser erstellt mithilfe von Schemata, d. h. erlernten Mustern zum Beispiel von Handlungsfolgen oder Erzählabläufen, eine für ihn sinnvolle Lesart eines Textes (—> Wirkungsästhetik). Schemata werden im Sozialisationsprozeß erworben, in ihre Ausbildung fließen subjektive Komponenten (Erfahrungen, Dispositionen) und intersubjektive Komponenten (Konventionen, Normen) ein. Über die Schemata können Werte verschiedenster Art - ethische, politische, hedonistische und formal-ästhetische - auf den Verstehensprozeß einwirken, ohne daß es den Lesern bewußt ist: Ihre Lesart erscheint ihnen keineswegs wertgeleitet, sondern einfach >evident<. So wird etwa eine Leserin, für die feministische Werte wichtig sind, die Figuren in Fontanes »Effi Bnest« anders wahrnehmen und den Roman auch anders verstehen als ein Leser, der kulturkonservative Werte vertritt (-» Feministische Zugänge - >Gender Studies<). Schon die primäre Form der Beschäftigung mit Literatur, das Lesen, kann also von Wertungen bestimmt sein - und damit die 589 Grundlage für jeden weiteren, professionellen Umgang mit literarischen Texten. 2.1.2 Literaturwissenschaft In der Literaturwissenschaft sind Wertungen auf zwei Ebenen zu unterscheiden: zum einen Wertungen der Literatur insgesamt, zum anderen Wertungen einzelner oder mehrerer literarischer Texte. Erstere weisen schon den Gegenstand Literatur und die Beschäftigung mit ihm als wertvoll aus. Sie dienen damit der Abgrenzung und Rechtfertigung von Literatur und Literaturwissenschaft >nach außen< vor allem gegenüber der Gesellschaft. Der besondere Wert von Literatur kann zum Beispiel darin gesehen werden, daß sie einen spezifischen kognitiven und emotionalen Gewinn für ihre Leser erbringt, der auf andere Weise nicht zu erzielen ist; oder darin, daß sie den Lesern ein >Probehandeln< ermöglicht, das von konkreten Handlungszwängen entlastet ist. Die zweite Gruppe von Wertungen fragt nach dem Wert einzelner literarischer Texte oder Textgruppen unter literatur-wissenschaftlichen Perspektiven. Sie können als >interne< Wertungen bezeichnet werden. Drei Typen von Wertungen sind hier wiederum zu unterscheiden: Selektionen, Einstufungen und Werturteile. Literaturwissenschaftler selektieren, indem sie manche Werke einer Edition oder Interpretation für wert erachten oder sie in eine literarhistorische Darstellung aufnehmen, andere dagegen nicht. Die Maßstäbe hinter diesen Wertungen bleiben meist implizit. Es können Normen und Werte sein, die in der Institution Literaturwissenschaft gelten oder von einzelnen Gruppen von Forschern akzeptiert werden; aber auch individuelle Vorlieben für bestimmte Themen, Autoren oder Gattungen können diese Wertungen beeinflussen (vgl. das Kapitel Literaturkritik). Die Texte, die den Selektionsfilter passiert haben und in den Kanon literaturwissenschaftlich relevanter Texte aufgenommen worden sind, werden nicht alle als >gleichwertig< beurteilt. Vielmehr werden sie unterschiedlich eingestuft, und zwar nach denselben historisch variablen Maßstäben, die auch zur Selektion herangezogen werden können. Dieses Einstufen literarischer Texte kann in Form sprachlicher, expliziter Wertungen vorgenommen werden; meist vollzieht es sich aber in motivationalen Wertungen – etwa wenn es allein an der Häufigkeit oder Intensität abzulesen ist, mit der ein literarischer Text behandelt wird. So gibt es in der Literaturwissenschaft eine implizite Hierarchie der Forschungsgegenstände, 590 die einen Indikator für die Einstufung literarischer Texte zu bestimmten Zeiten bildet: Heute (1996) sind zum Beispiel Arbeiten über Autoren wie Goethe, Kafka oder Thomas Mann häufig vermutlich prestigeträchtiger als Studien zu Gottsched, Keller oder Heinrich Mann. Sprachliche Wertungen kommen in Interpretationen und literarhistorischen Darstellungen vor. Noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein finden sich zahlreiche explizite Werturteile in Literaturgeschichten. Zum Selbstverständnis der Literarhistoriker gehörte es unter anderem, die Qualität literarischer Werke zu beurteilen, >wertvolle< von >wertloser< Literatur zu trennen und dies auch deutlich auszusprechen. In neueren Literaturgeschichten dagegen dominieren die Dokumentation von Entwicklungen, die historische Einordnung und Erklärung, und es wird nur noch selten in expliziter Form gewertet. Die Literarhistoriker erfüllen dieselbe Selektionsfunktion wie ihre Vorläufer, formulieren ihre Darstellungen aber sachlicher: Ihre Wertungen sind in der Regel implizit und erst durch eine genauere Analyse von Formulierungen zu erschließen. Ein Beispiel für eine implizite - negative - Wertung in den Literaturgeschichten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts stellt zum Beispiel die Tatsache dar, daß die Texte weiblicher Autoren aus dein Corpus der einbezogenen Literatur ausgesondert, in eigenen Kapiteln behandelt und mit dem Etikett »Frauenliteratur« versehen wurden (vgl. Kapitel Feministische Zugänge - >Gender Studies<). 2.2 Zur Verbindlichkeit von Wertungen Eine der Standardfragen zu unserem Thema lautet: »Sind Weitungen subjektiv oder objektiv?« Diese Alternative erweist sich als zu einfach: Wertungen können keine überzeitliche und kontextunabhängige Geltung beanspruchen, sind aber ebensowenig nur auf das wertende Individuum begrenzt; vielmehr haben sie sowohl subjektive als auch intersubjektive Komponenten. Um die folgenden Erläuterungen, was unter diesen Komponenten zu verstehen ist und welche Verbindlichkeit Wertungen überhaupt beanspruchen können, anschaulicher zu machen, sollen sie an einem Beispiel aus der Literaturgeschichtsschreibung illustriert werden. In seiner Darstellung früher Erzählungen Heinrich Bölls führt der Literaturwissenschaftler und -kritiker Heinrich Vormweg eine Reihe formaler und inhaltlicher Eigenschaften dieser Texte an, unter anderem traditionelle Erzählmuster, Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit des Erzählens, authentische Vermittlung von Einsichten in 591 typische Züge der Wirklichkeit. Er resümiert: »Entscheidend auch für den späteren Böll aber bleibt, daß es eine moralische Qualität ist, aus der seine Erzählungen ihre ganz unbezweifelbare literarische Bedeutung ziehen.« (Vormweg 1980[2], S. 260) Worin liegen die intersubjektiven und die subjektiven Elemente dieser sprachlichen Wertung ? Intersubjektivität wird zum einen dadurch erzielt, daß sich Vormweg auf angebbare Eigenschaften der Texte bezieht. Diese Eigenschaften sind zwar meistens nicht an der Textoberfläche abzulesen, sondern erfordern Interpretationen, man kann sich aber argumentierend über sie verständigen. Solche Eigenschaften können etwa die Figurencharakterisierung in einem Drama, die Bildlichkeit in einem Gedicht oder, wie im Beispiel, Merkmale wie Sachlichkeit der Darstellung oder traditionelle Erzähltechniken sein. Zur Intersubjektivität tragen zweitens die Werte bei, die Wertungen zugrundeliegen. Es ist davon auszugehen, daß Werte im Sozialisationsprozeß angeeignet werden und wenn auch keine gesamtgesellschaftliche, so doch gruppenspezifische Geltung haben. >Moralische Qualität literarischer Texte< dürfte im Literatursystem als positiver Wert relativ weite Anerkennung finden, außer vielleicht in Gruppen, die eine ästhetizistische Literaturauffassung vertreten. Zur intersubjektiven Verständigung über Wertungen trägt drittens die Begründung eines Urteils bei. Im Beispiel wird die Begründung der Wertung vorangestellt: Vormwegs Beschreibung der Textmerkmale und seine Interpretation der Texte (zusammen mit einigen impliziten Voraussetzungen) dienen als Grundlage seines Urteils. Die subjektiven Aspekte der Wertungen liegen auf der Hand und relativieren zum Teil die intersubjektiven. Zum einen spielt eine Rolle, daß es immer ein Komplex von Voraussetzungen ist, den ein Subjekt ins Spiel bringt, wenn es Objekteigenschaften auf Werte bezieht. Wenn für Vormweg das formale Merkmal >Wahrhaftigkeit des Erzählens< eine positive moralische Eigenschaft darstellt, dann dürfte diese Einschätzung zwar relativ konsensfähig, keineswegs aber zwingend sein; wenn er >Sachlichkeit< ebenso einstuft, dann scheint dieser Zusammenhang noch weniger zwingend. Andere Interpreten könnten bestreiten, daß ein solches stilistisches Merkmal überhaupt mit ethischen Maßstäben beurteilt werden könne. Wenn Personen Textmerkmale auf Werte beziehen, dann sind diese Bezugnahmen zwar oftmals konsensuell und damit keineswegs beliebig; Werte sind aber so allgemein formuliert, daß es immer mehrere Möglichkeiten gibt, wie sie sich in Objekten konkretisieren 592 können. In der aktuellen Zuordnung, die ein Wertender vollzieht, liegt also das Subjektive seiner Wertung. Einen zweiten subjektabhängigen Faktor stellt die unterschiedliche Gewichtung der Eigenschaften dar, in denen sich ein Wert realisieren kann. Vormweg urteilt, daß die Moralität der Erzählungen Bölls ihren literarischen Wert ausmache. Dabei setzt er voraus, dass Texte auch dann >literarisch wertvoll< sein können, wenn sie keine hervorragenden ästhetischen Qualitäten, dafür aber ausgeprägt moralische Eigenschaften aufweisen. Andere Böll-Interpreten giewichten anders; sie attestieren seinen Texten durchaus Moralitäl, werten sie aber mit Hinweis auf fehlende formal-ästhetische Qualitäten negativ. Grundlage dieser Wertung ist die Annahme, positiver literarischer Wert werde in erster Linie von ästhetischen Merkmalen der Form realisiert, während die moralischen Qualitäten höchstens, zweitrangig sind. In wissenschaftlichen Kontexten kommt es darauf an, die Wirkung der subjektiven Faktoren zu verringern und so die Verbindlichkeit von Wertungen zu erhöhen. Unverbindlich, also von nurbegrenzter Gültigkeit, sind Urteile, bei deren Begründung sich dei Sprecher auf das eigene Gefühl, auf seine subjektive Einschätzung beruft. Als >verbindlich< kann dagegen ein Werturteil gelten, mit dem der Sprecher den Anspruch verbindet, es intersubjektiv begründen zu können, und >fundiert< ist ein Urteil, wenn der Sprecher diesen Anspruch einlöst. (Damit ist nicht gesagt, daß einem fundierten Werturteil jeder zustimmen muß; es muß aber plausibel gemacht werden können.) Indizien für einen intersubjektiven Geltungsanspruch stellen textintern ein argumentativer Zusammenhang und kontextuell die Wahl bestimmter Textsorten und Veröffentlichungsformen dar. Von Wertungen – seien sie explizit oder implizit –, die in einer Rezension in einer Tageszeitung oder in einem wissenschaftlichen Artikel in einer germanistischen Fachzeitschrift veröffentlicht werden, können Leser erwarten, daß sie zumindest begründbar sind. Anders ausgedrückt: Wenn der Verfasser sich unverbindlich und nur als Privatperson äußern wollte, dann hat er das falsche Medium gewählt. Um ein Werturteil über einen literarischen Text zu begründen, muß ein Sprecher drei Bedingungen erfüllen: Er muß erstens Argumente dafür vorbringen, daß der Text die Eigenschaften, auf die er sich bezieht, auch tatsächlich aufweist; in unserem Beispiel leistet Vormweg dies mit seiner Beschreibung und Interpretation der Texte Bölls. Zweitens muß er den Wertmaßstab rechtfertigen, den er sei- 593 nem Urteil zugrundelegt. Rechtfertigen läßt sich ein Wert nicht in einem absoluten Sinn, sondern immer nur im Zusammenhang eines Wertsystems, in dem der Wert gilt. Vormweg könnte seinen Wertmaßstab zum Beispiel dadurch rechtfertigen, daß er von der Literatur als solcher einen – wie auch immer bestimmten – moralischen Appell an die Leser fordert, der sich auch im Einzeltext dokumentieren müsse, und würde sich damit in die lange Tradition moralischer Wertung von Literatur einordnen. Drittens muß ein Sprecher begründen können, daß er den Wert zu Recht auf die Texteigenschaften bezogen hat beziehungsweise daß die Texteigenschaften tatsächlich in der Lage sind, den Wert zu realisieren. Vormweg hätte also zu begründen, daß es einen Zusammenhang zwischen den angeführten formalen Texteigenschaften und seinem moralischen Wertmaßstab gibt, wobei er zum Beispiel die potentielle Wirkung einer >authentischen< Erzählweise auf die Leser anführen könnte. Ein Werturteil wie das Vormwegs kann demnach als Beispiel für eine verbindliche Wertung gelten, zu deren expliziter Fundierung noch zwei Schritte ausgeführt werden müßten. 2.3 Wertmaßstäbe in literaturwissenschaftlicher Theorie und Praxis Ein auch nur annähernd vollständiger historischer Abriß der literaturwissenschaftlichen Wertungsdiskussion und ihrer Kriterien kann hier nicht gegeben werden. (Gute Überblicke bieten Mecklenburg 1977[3] und M. Schrader 1987[4]; dort finden sich auch Informationen zur didaktischen Wertungsdiskussion.) Statt dessen gehe ich klassifikatorisch vor, indem ich die Typen von Wertmaßstäben behandle, die in Theorie und Praxis der Literaturwissenschaft vertreten beziehungsweise angewendet worden sind. Folgende Überlegung kann den Ausgangspunkt der Rekonstruktion bilden: Die Wertung von Literatur betrifft die Gegenstandskonstitution des Faches und bildet eine der >Schaltstellen<, an denen sichtbar wird, daß Forderungen aus anderen Bereichen der Gesellschaft an Literatur herangetragen werden (Mecklenburg 1977, S. VIII). Das zeigt sich zum einen in der Strategie, mit der Literaturwissenschaftler ihren Gegenstand als gesellschaftlich relevant ausweisen. Wenn der Literatur bestimmte Funktionen zugeschrieben werden – etwa: kognitiven und emotionalen Gewinn zu erbringen oder von Handlungszwängen entlastetes Probehandeln und spielerische Normreflexion zu ermöglichen (vgl. Schmidt 1980[5], S. I20ff., S. 178-189) –, so sind dies keine Selbstzwecke; vielmehr rechtfertigen sie Literatur über besondere Leistungen, die sie den 594 einzelnen, Gruppen oder >der Gesellschaft< erbringt. Zum anderen zeigt sich die Schaltstellenfunktion darin, daß die Wertmaßstäbe, mit denen Literatur beurteilt wird, in der Regel keine >rein literarischen< sind, sondern normative Vorgaben aus philosophischen, religiösen, ethischen, sozialen, politischen und anderen Rahmentheorien enthalten. Dementsprechend lassen sich unter den Werten, die bis heute in der Literaturwissenschaft zur Beurteilung von Literatur herangezogen worden sind, formal-ästhetische Werte unterscheiden von inhaltlichen, die stärker an nicht-literarische Rahmentheorien gebunden sind. Formal-ästhetische Maßstäbe beziehen sich auf formale, strukturelle, sprachliche Eigenschaften literarischer Texte; zu ihnen zählen zum Beispiel >Schönheit<, >Selbstreferenz<, >Offenheit<, >Stimmigkeit<, >Ganzheit<. (Die hier und im folgenden als Beispiele genannten Wertmaßstäbe werden nur in ihrer positiven Variante angegeben; ausführlicher und mit Zuordnung von Theorien vgl. Heydebrand/Winko 1996[6], Kap. I.3 und II.5.) Was jeweils unter diesen Wertmaßstäben zu verstehen ist und ob sie positiv oder negativ eingeschätzt werden, hängt von der Literaturtheorie ab, in deren Rahmen sie bestimmt werden (Lenz/Schulte-Middelich 1982[7], S. 12ff.). Werte, mit denen der Inhalt literarischer Texte beurteilt wird, lassen sich aus jedem Bereich menschlichen Lebens übertragen. In der Literaturwissenschaft sind es überwiegend politische und geschichtsphilosophische Theorien, aus denen inhaltliche Werte wie >Moralität<, >Freiheit<, >Humanität<, >Emanzipation< und andere importiert werden. Zwei weitere Typen von Werten werden an Literatur herangetragen: relationale und wirkungsbezogene Werte. Relationale Maßstäbe bestimmen den >Wert< literarischer Texte in Hinsicht auf eine Bezugsgröße. Diese Bezugsgröße kann die natürliche Sprache sein, ebenso die literarische Tradition oder auch die Realität. Beispiele sollen dies verdeutlichen. Literatur wird oftmals über ihre Abweichung von der >normalen< Sprachverwendung bestimmt (—> Fiktionalität und Poetizität). >Abweichung< kann in diesen Theorien zum Wert werden, mit dem auch einzelne Texte beurteilt werden können: Ein Text, der sich durch ein hohes Maß an formalen Qualitäten wie >Versifikation< oder ungewöhnliche Bilder< von der Alltagssprache unterscheidet, wäre demnach besonders positiv zu bewerten. In bezug auf die literarische Tradition sind es meist >Innovation< und >Originalität<, die als Maßstäbe herangezogen werden. Als >wertvoll< gelten nur die Texte, die literarische Muster oder 595 Inhalte nicht bloß reproduzieren, sondern mit eigenem schöpferischen Impetus neu gestalten (-> Formalismus). Wird Literatur auf Realität bezogen, sind es oft positiv aufgefaßte Werte wie >Wirklichkeitsnähe< oder >Authentizität< – allerdings auch manchmal deren Gegensätze – die auf die Texte angewendet werden. Eine authentische Darstellung sozialer Wirklichkeit etwa kann unter dieser Voraussetzung als positiv, eine surrealistisch verfremdende Gestaltung dagegen als negativ beurteilt werden (oder eben umgekehrt). Mit wirkungsbezogenen Werten werden die vermutlichen oder tatsächlichen Effekte beurteilt, die literarische Texte für ihre Leser haben. Dies können zum einen Wirkungen sein, die allein von individuellem Interesse sind, zum Beispiel kognitive Effekte (wie Informationsgewinn, Wissensvermittlung und Reflexion), auf Emotionen bezogene Wirkungen (wie Betroffenheit, Mitleid, Identifikation und Lust) oder (lebens)praktische Wirkungen (wie Handlungsorientierung und Sinnstiftung). Zum anderen können dies aber auch Effekte sein, die unter gesellschaftlichem Aspekt relevant sind, wie kommerzieller Gewinn und die Zunahme an Prestige durch die Beschäftigung mit kulturell anerkannten Objekten. Während in der Literaturwissenschaft formal-ästhetische, ethischmoralische und relationale Werte dominieren, spielt für andere Handlungsbereiche folgender Typus von Werten eine größere Rolle: für die nicht-professionellen Leser – neben den inhaltlichen Werten – die individuell wirkungsbezogenen Werte, allen voran wohl die >Lust am Lesen<, für die Literaturvermittler ökonomische Werte und der >Prestigewert<. Alle angeführten Maßstäbe sind in ihrer inhaltlichen Bestimmung und ihrer Geltung historisch variabel. Einige von ihnen, zum Beispiel >Innovation< und >Originalität<, sind erst mit der Etablierung des eigenständigen Handlungsbereichs >Literatur< entstanden (Schmidt 1989[8], Kap. 10 und 12; vgl. Kapitel Literatur als >System<). Literaturwissenschaftliche Wertmaßstäbe sind also keineswegs zeitlos, und ebensowenig sind sie unabhängig von gesellschaftlichen Entwicklungen und Theorien anderer Disziplinen. Wenn es heute in der Literaturwissenschaft beispielsweise möglich ist, Texte danach zu beurteilen, ob sie patriarchale Strukturen repräsentieren oder ein emanzipatorisches Potential enthalten, so ist dies in erster Linie durch die zunehmende gesellschaftliche und akademische Relevanz feministischen Denkens seit den siebziger Jahren zu erklären (-> Feministische Zugänge - >Gender Studies<). 596 3. Kanonbildung 3.1 Mechanismen der Kanonisierung Welche Faktoren und Prozesse dazu führen, daß ein literarischer Text kanonisiert wird oder auch nicht, ist noch nicht zufriedenstellend erforscht worden. Es liegen zwar theoretische Konzeptionen und diverse Studien zu verschiedenen Autoren, Werken und einzelnen möglichen Einflußfaktoren vor (vgl. Heydebrand 1993[9]), der Gesamtprozeß der Kanonbildung bedarf aber noch immer genauerer historisch-empirischer Untersuchungen (Woesler 1980[10]). Zwar dürfte das Phänomen >Kanon< fast so alt wie die Literatur selbst sein (der Begriff wird allerdings erst seit Ende des 18. Jahrhunderts auf Literatur angewendet; vgl. Lüsebrink/Berger 1987[11], S. 7); einer eingehenderen Analyse stand aber bis in dieses Jahrhundert hinein unter anderem die Auffassung im Wege, es seien immer - gewissermaßen gesetzmäßig - >die besten< Werke und Autoren, die kanonisiert werden, oder anders ausgedrückt: die Ansicht, im Kanon setzten sich universale Werte durch. Kanonbildung als Durchsetzung zeitloser literarischer Qualität nach eigenen Gesetzen – dieser Auffassung wird heute ein differenzierteres Modell entgegengestellt. Unter einem >Kanon literarischer Texte< wird das Resultat von Deutungs- und Selektionsprozessen verstanden, in denen literaturinterne und soziale Komponenten auf komplexe Weise zusammenspielen (Assmann/Assmann 1987[12], Lüsebrink/Berger '987, Heydebrand 1993). Die Kriterien, nach denen Texte ausgewählt und interpretiert werden, sind historisch und kulturell variabel; ihre Geltung hängt auch von der jeweiligen Träger- oder Interessengruppe ab, die die Kanonisierung vollzieht. Betrachtet man das Corpus an Texten, das lange Zeit als >der< Kanon galt, nämlich den >Kanon der Gebildeten<, der von Bürgertum und Universität getragen wurde, dann kommen folgende Faktoren in den Blick: Literaturintern dürften ästhetische Programme, Gattungstraditionen sowie normative, zum Beispiel autonomieästhetische Vorgaben und Wertungen in verschiedenen Institutionen auf die Kanonbildung eingewirkt haben (vgl. Kapitel Poetik); als Faktoren des sozialen Umfelds scheinen politische Konstellationen und wechselnde kulturelle Bedingungen eine Rolle gespielt zu haben, etwa Regierungsformen und ihre politische Funktionalisierung von Literatur, ideologische oder weltanschauliche Präferenzen einer Zeit (-> Sozial-geschichtliche Zugänge). Fragt man, warum überhaupt das Bedürfnis besteht, aus der Men- 597 ge von Texten einige herauszustellen, die als besonders >wertvoll< gelten, so kommt man zu mindestens drei wichtigen Funktionen, die Kanones erfüllen (Heydebrand 1993). Erstens tragen sie zur Selbstdarstellung und Identitätsstiftung einer Gruppe oder Gesellschaft bei: Die Mitglieder der Gruppe sehen in ihnen Normen und Werte repräsentiert, die die Gruppe konstituieren. Zweitens haben Kanones Legitimationsfunktion; sie dienen der Rechtfertigung und Abgrenzung der Gruppe gegen andere. Und drittens liefern Kanones Handlungsonentierung. Kanonisiert werden Texte, die prägnante Formen von Wissen, ästhetische Normen, Moralvorstellungen und Verhaltensregeln kodieren, nach denen sich Mitglieder einer Gruppe oder Gesellschaft richten können. Diese Funktionsbestimmung kann die Kanonpluralität, also das Neben- und Gegeneinander verschiedener Kanones erklären: Verschiedene Trägergruppen haben abweichende Selbstdarstellungs- und Legitimationsbedürfnisse und kanonisieren daher unterschiedliche Texte. Darüber hinaus läßt die Funktionsbestimmung erkennen, daß es nicht allein um die kanonisierten Texte geht, sondern immer auch um ihre Deutungen und um die Wertvorstellungen, die sie repräsentieren sollen. Neben einem »materialen Kanon«, der die >wertvollen< Texte überliefert, ist ein »Deutungskanon« anzunehmen (Heydebrand 1993,8.5); in ihm sind die Interpretationen der Texte festgeschrieben, die in einer Institution zu einem bestimmten Zeitpunkt als >kanonisch< gelten. Ein Kanon literarischer Texte liegt in der Regel nicht als Liste oder Verzeichnis vor, sondern ist vielmehr über die Präsenz literarischer Texte und die Kommunikation über sie rekonstruierbar, die für verschiedene Kanones in unterschiedlichen Institutionen und Medien stattfinden kann. Dazu zwei Beispiele: Um den akademischen Kanon zu rekonstruieren, ist zu fragen, für welche Autoren Werkausgaben, vor allem kritische Ausgaben erstellt worden sind; es ist zu prüfen, welche Autoren und Texte in Literaturgeschichten behandelt, wie ausführlich sie dargestellt und wie sie bewertet werden. Aufschlußreiche Informationen bieten darüber hinaus Anzahl und Tenor der Monographien und anderer wissenschaftlicher Publikationen über Autoren oder Werke; und schließlich ist es aussagekräftig, ob zu einem Autor oder Werk regelmäßig Veranstaltungen im Lehrangebot an Universitäten nachzuweisen sind. Soll der >bildungsbürgerliche Kanon< profiliert werden, sind andere Fragen zu stellen. Es ist zu prüfen, ob Leseausgaben eines Autors kontinuierlich erhältlich sind, ob sich seine Texte in Anthologien finden 598 lassen und in >Klassikerbibliotheken< aufgenommen wurden. Auch Einträge in Universallexika, Feuilletonartikel zu Jubiläen, Präsenz auf dem Theater oder intertextuelle Bezugnahmen dokumentieren die Bedeutung eines Autors in diesem Kontext, und als besonderes Indiz kann es gelten, wenn seine Texte zur Pflichtlektüre im Deutschunterricht an der Schule zählen. Auch wenn der akademische und der bildungsbürgerliche Kanon unterschiedlich rekonstruiert werden, so stimmen sie doch in weiten Teilen überein – was historisch aus der Entstehungssituation und Entwicklung des Literatursystems zu erklären ist und aus den Rollen, die Bürgertum (als Trägergruppe) und Literaturwissenschaft (als zentrale Institution der Normentradierung) dabei spielten (Schmidt 1989, S. 304ff., S.425ff.). Nachdem die Kanonisierung literarischer Texte bisher nur anhand kontextueller Faktoren thematisiert worden ist, liegt nun die Frage nahe, ob es nicht doch bestimmte Eigenschaften eines Textes gibt, die eher für oder eher gegen seine Kanonisierung sprechen. Auch diese Frage läßt sich wieder nur relativ zum jeweils untersuchten Kanon beantworten. Pauschal betrachtet scheinen zwei Merkmale die Chancen eines Textes zu erhöhen, in den bildungsbürgerlichen und den akademischen Kanon aufgenommen zu werden: Zum einen muß er komplex genug sein, um mehrmals gelesen werden zu können, zum anderen muß er für verschieden komplexe Lesarten und unterschiedliche Wertvorstellungen anschlußfähig sein. Alle spezielleren Kriterien können nur mit stärkerem Bezug auf die jeweilige Trägergruppe erklärt werden. Wenn zum Beispiel für die im Bildungsbürgertum kanonisierten Texte angeführt wird, sie behandelten zentrale menschliche Probleme auf besonders repräsentative Weise, dann hängt die Einschätzung, was für wen repräsentativ ist und welche Probleme als >zentral menschlich< einzustufen sind, von den Normen und Werten dieser Gruppe ab. Textmerkmale scheinen insgesamt für die Kanonisierung eine geringere Rolle zu spielen als Kontextbedingungen (vgl. dazu Woesler 1980, S. 1224, sowie die ausführliche Beispielanalyse in Heyde-brand/Winko 1994, S. 97-112, dort unter dem Aspekt der Geschlechterdifferenz) . 3.2 Zur Frage der Berechtigung von Kanones Insbesondere in den USA wurde lebhaft und von unterschiedlichen theoretischen Positionen aus um die Vorteile und Gefahren von Kanones diskutiert. Die wichtigsten Einwände richten sich gegen 599 Voraussetzungen und Folgen der Kanonisierung. Nur zwei dieser Einwände seien hier angeführt: Zum einen werden mit der Hochwertung eines bestimmten Korpus von Texten zahlreiche andere Texte abgewertet und ausgegrenzt. Ein Kanon spiegelt – gewissermaßen >per definitionem< – Normen und Werte einer machthabenden Gruppe und wird seinerseits als Machtinstrument eingesetzt, da er als >Maßstab< oder >Filter< für die Zulassung und den Ausschluß neuer Texte dient. Zweitens kann eine Kritik der Kanonbildung an den oben angeführten Bestimmungen der Funktionen anknüpfen, die Kanones für Gruppen oder Gesellschaften haben. In immer stärker differenzierten Gesellschaften ist es zunehmend problematisch, von homogenen sozialen Schichten oder Gruppen zu sprechen, und einen einheitlichen Kanon von der gesellschaftlichen Reichweite, wie er noch für >das Bildungsbürgertum< angesetzt werden kann, gibt es heute nicht mehr. (Auf grundsätzliche Einwände von poststrukturalistischer Seite, die zum Beispiel den Gedanken der Repräsentativität als solchen in Frage stellen, kann hier nicht mehr eingegangen werden; eine Zusammenfassung findet sich in Heydebrand /Winko 1994, S. 148-156.) Sind Kanones heute also entbehrlich, weil Einheit nicht mehr herzustellen ist, oder sind sie nicht wünschenswert, weil jeder Versuch, eine Einheit herzustellen, mit einer zu hohen Ausschlußrate zu bezahlen wäre ? In dem Für und Wider der Diskussion wurde eine Alternative vorgeschlagen, die dem Pluralismus im Fach Germanistik entspricht: Nach dem Vorbild amerikanischer Hochschulen, wo es neben dem traditionellen Kanon der >männlichen weißen Autoren< neue Kanones etwa weiblicher Autoren und verschiedener ethnischer Gruppen gibt, wurde für mehrere, gruppengebundene Kanones plädiert. Problematisch ist diese Lösung, weil sie der akademischen Kommumkationsgemeinschaft die gemeinsame Grundlage entzieht; denn die Anzahl der Texte, die allen bekannt sind, wird kontinuierlich abnehmen. Damit haben wir wieder die einleitende Frage dieses Artikels erreicht, was Studierende der Literaturwissenschaft heute lesen sollen. Angesichts der skizzierten Forschungssituation kann sie hier nicht definitiv, sondern nur mit einigen pragmatischen Hinweisen beantwortet werden: Relevant für das Studium sind nach wie vor die literarischen Texte und Autoren, auf die sich andere Autoren bezogen und die auf die Entwicklung der Literatur – in formaler wie inhaltlicher Hinsicht – maßgeblich eingewirkt haben (Griese u. a. 1994). Dieser traditionelle Kanon ist so lange unentbehrlich, wie Literatur- 600 Wissenschaft auch -> Literaturgeschichtsschreibung und Rekonstruktion literarischer Problemsituationen betreibt. Er bildet damit eine wichtige Grundlage zur akademischen Verständigung und nicht zuletzt auch zur Selbstverständigung: Als materialer wie als Deutungskanon kodiert er prägnante kognitive und emotionale Schemata und Werte, die zur Ausdifferenzierung einer Kultur beigetragen haben, an der auch die Gegenwart teilhat. ------------------------------- [1] die kanonischen Schriften des Alten und des Neuen Testaments: die Schriften werden von der Kirche als inspirierte anerkannt und sie regeln Glauben und Leben der Kirche. Während die Katholiken Tobit, Judit, Baruch, Das Buch der Weisheit, Das Buch Jesus Sirach und das 1. und 2. Buch von den Makkabäern deuterokanonisch, bezeichnen sie die Protestanten als apokryph. Die Juden nahmen sie am Ende des ersten Jhs nach Christi nicht in en Kanon auf. Karlstadt trat unter dem Eoinfluss des Hieronymus für deb verkürzten palästinischen Kanon ein. Luther shcloss sogar Esther und Prediger aus dem Kanon. Auch die sog. Apokryphen übersetzte er. Calvinus shcloss sie überhahupt aus der Bibel aus. Das Trienter Konzil lehnte die Unterscheidung in protokanonisch und deuterokanonisch ab. [2] Prosa in der Bundesrepublik seit 1945. In: Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Bd. 1, hg. von Dieter Lattmann. Frankfurt a. M., S. 169-420. [3] Literatrische Wertung. Texte zur Entwicklung der Wertungsdiskussion in der Literaturwissenschaft. Tübingen. [4] Theorie und Praxis literarischer Wertung. Literaturwissenschaftliche und didaktische Theorien und Verfahren. Berlin, New York. [5] Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Bd. 1: Der gesellschaftliche Handlungsbereich Literatur. Braunschweig, Wiesbaden. [6] Einführung in die Wertung von Literatur von Literatur. Padeborn. [7] Beschreiben, Interpretieren, Werten. Das Wertungsproblem in der Literatur aus der Sicht unterwshiedlicher Methoden. München. [8] Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. Main. [9] Probelem des Kanons – Probleme der Kultur- und Bildungspolitik. In: Johannes Janota (Hg.): Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis. Vorträge des Augsburger Germanistentags 1991. Tübingen, Bd. 4. S. 3-22. [10] Der Kanon als Identiffikationsangebot. Neue Überlegungen zur Rezeptionstheorie. In: Woesler (Hg.): Modellfall der Rezeptionsforschung. Droste-Rezeption im 19. Jh. Dokumenntation, Analysen, Bibliographie. Frankffurt a. M. , Bd. 2, S. 1213-1227. [11] Kanonbildung in systematischer Sicht. In: Berger /Lüsebrink: Literarische Kanonbildung in der Romania. Beiträge aus dem Deutschen romanistentag 1985. Rheinfelden, S. 3-32. [12] Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II. München