Schwarze Milch der Frühe
Um kaum eine Zeile der Literatur hat es derartige Interpretationsauseinandersetzungen gegeben wie um die Metapher "Schwarze Milch der Frühe". So vermerkt der Zitate-Duden:
 
"Die expressionistische Sprache des Lyrikers Paul Celan (1920-1970) mit ihrer eigenen Welt von Bildern, Farben, Motiven und Symbolen (beeinflußt von Symbolismus und Surrealismus) ist nicht leicht zu verstehen, die Gedichte sind logisch oft nur schwer erfaßbar. Ein einzelnes Beispiel dafür ist die in ihrer Kühnheit bekannt gewordene Metapher, mit der das berühmte Gedicht Todesfuge einsetzt:
Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
Wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
Das Gedicht über die unmenschliche Verfolgung und grausame Tötung der Juden im Deutschland des Nationalsozialismus ist Klage und Anklage zugleich. Die Auflösung der sittlichen Ordnung, die sich in dem grausigen Geschehen manifestiert, wird in unterschiedlichen Bildern und Vorgängen sichtbar. Die paradox formulierte Metapher gleich zu Beginn des Gedichts ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel. Sie wurde zu einer Art Chiffre für das durch Pervertierung."


Es können verschiedene Ansatzpunkte zur Interpretation von Herkunft und Bedeutung der Metapher benutzt werden. Eine erste Interpretationsmöglichkeit leitet die Metapher von einem jüdischen Sprichwort ab, das besagt, dass - wenn alle Menschen in Unglück leben - Mordechai Meisel in der weißen Milch der Frühe badet (vgl. Leo Perutz: Nachts unter den steinernen Brücken. München 1993). Mordechai Meisel soll durch dieses Sprichwort als der vollkommene Glückspilz charakterisiert werden, den er in den jüdischen Sagen auch immer wieder verkörpert. Die Metapher "schwarze Milch der Frühe" könnte dann als Darstellung der vollkommenen Hoffnungslosigkeit begriffen werden, da selbst der ansonsten so glückliche Mordechai Meisel nicht mehr in der weißen Milch der Frühe baden kann.

Eine weitere Möglichkeit der Interpretation besteht in einer Rückführung auf das Klagelied Jeremias im Alten Testaments. Die hebräische Bibel reiht dieses poetische Buch in den dritten Teil des Kanons, die "Schriften", ein. Es wurde am 9. Ab (im Mai) während des Tempelfastens gelesen, zur Erinnerung an die Zerstörung des Tempels durch Titus im Jahr 70 n. Chr. Die griechische und die lateinische Bibel weisen den Klageliedern ihren Platz unmittelbar nach dem Buch Jeremia zu.
Die Kapitel 1, 2 und 4 sind der literarischen Form nach Totenlieder; Kap. 3 ist ein individuelles Klagelied, Kap. 5, in der lateinischen Bibel mit der Überschrift "Gebet des Jeremia", ein Volksklagelied. Die Klagelieder dürften in Juda bald nach dem Untergang des Südreichs und der Zerstörung des Tempels (586 v. Chr.) entstanden sein. Wahrscheinlich sind sie alle dem gleichen Verfasser zuzuschreiben, der vielleicht zu priesterlichen Kreisen gehörte. In packenden Bildern schildert er den übergroßen Schmerz Jerusalems und seiner Einwohner über die Katastrophe des Jahres 586 v. Chr. Dabei ist das Buch getragen von einem unbesiegbaren Vertrauen auf Gott. Es will Reue und Umkehr bei denen wecken, die den Untergang der Stadt und des Tempels erlebt haben. Da Bedeutung und Vorrechte des alttestamentlichen Tempels im Neuen Testament auf Christus übertragen werden (vgl. Joh 2, 19), wendet die Kirche in der Liturgie der Karwoche die Klagelieder auf das Leiden und Sterben Christi an.
Innerhalb des Klagelieds taucht nun im dritten Totenlied (Kapitel 4) auch das Bild der Milch auf - und auch hier wird ein Übergang vom Weißen der Milch hin zur Farbe Schwarz angewendet:

"4:7 Ihre jungen Männer waren reiner als Schnee, weißer als Milch, ihr Leib rosiger als Korallen, saphirblau ihre Adern.
4:8 Schwärzer als Ruß sehen sie aus, man erkennt sie nicht auf den Straßen. Die Haut schrumpft ihnen am Leib, trocken wie Holz ist sie geworden."


Eine dritte Möglichkeit, die Metapher zu erklären, liegt in einem 1939 in Czernowitz veröffentlichten Gedichte Rose Scherzer-Ausländer, die nach der Befreiung Rumäniens 1944 beständige Gastgeberin deutschsprachiger Literaturzirkel in Rumänien war. Zu ihren Besuchern gehörte auch Paul Celan, der durch die als Schriftstellerin bereits sehr bekannte Rose Scherzer-Ausländer eine besondere Förderung erhielt. In dem erwähnten Gedicht, das bereits um 1925 entstanden war und den Titel "Ins Leben" trägt, heißt es:

"Nur aus der Trauer Mutterinnigkeit
strömt mir das Vollmäß des Erlebens ein.
Sie spiest mich eine lange, trübe Zeit
mit schwarzer Milch und schwerem Wermutwein."


In Anlehnung daran hatte auch schon Alfred Margul-Sperber, ebenfalls Besucher der Ausländer'schen Literaturzirkel und ein guter Bekannter Paul Celans, in seinem Gedicht "Ferner Gast" die Metapher in bezug auf eine sterbende Mutter übernommen:

"Ihre Augen, unaussprechlich lind,
Sehn mich an mit fernem Sternenblinken;
Und sie flüstert: Willst du nicht, mein Kind,
Von der dunklen Milch des Friedens trinken?"