Gertrud M. Rösch: Dramenanalyse Literatur: Alt, Peter-André: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung. Tübingen/Basel 1994 (= UTB 1781). [grundlegend fürs 18. Jahrhundert]. Asmuth, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart/Weimar 51997 (= Sammlung Metzler, Bd. 188). [grundlegender Band, auch als Nachschlagewerk; zur Anschaffung empfohlen]. Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. Berlin 22001. [Neueste und beste Einführung in die Theaterwissenschaft]. Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Stuttgart/Weimar 1993ff. [bisher erschienen die Bde. 1-3; bis etwa 1910]. [monumentale und reich illustrierte Geschichte des Theaters]. Fischer-Lichte, Erika: Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen/Basel ^21999 (= UTB 1667). [konzentriert sich auf die Theatergeschichte und Inszenierungspraxis]. Fischer-Lichte, Erika: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart. 2 Bde. Tübingen/Basel 21999 (= UTB 1565/1566). [dramengeschichtliches Pendant]. Handbuch des deutschen Dramas. Hrsg. v. Walter Hinck. Düsseldorf 1980. [enthält literarhistorische Überblicksartikel]. Komödientheorie. Texte und Kommentare. Vom Barock bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Ulrich Profitlich. Reinbek 1998 (= rowohlts enzyklopädie, Bd. 55574). [Pendant ist der Band 'Tragödientheorie'; wichtige kommentierte Quellensammlung mit theoretischem Vorwort]. Maurer-Schmoock, Sybille: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert. Tübingen 1982 (= Studien zur deutschen Literatur, Bd. 71). [über Bühne, Theaterwesen und Schauspielkunst zur Zeit Lessings]. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. München ^102000 (= UTB 580). [Grundlegender Theorie-Entwurf auf strukturalistischer Grundlage; vor allem zum Nachschlagen von Einzelaspekten geeignet]. Platz-Waury, Elke: Drama und Theater. Eine Einführung. Tübingen ^51999 (= Literatur-wissenschaft im Grundstudium, Bd. 2). [gute Einführung, die auch romanistische und anglistische Interessen berücksichtigt; auf die neueste Auflage achten]. Schwanitz, Dietrich/Schwalm, Helga/Weiszflog, Alexander: Drama, Bauformen und Theorie. In: Fischer Lexikon Literatur. Hrsg. v. Ulfert Ricklefs. Frankfurt 1996, Bd. 1, S. 397-420. [knapper Überblick; komparatistisch angelegt]. Tragödientheorie. Texte und Kommentare. Vom Barock bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Ulrich Profitlich. Reinbek 1999 (= rowohlts enzyklopädie, Bd. 55573). Wichtige dramentheoretischen Begriffe stehen in K 1. Was ist ein Drama? Aspekte der Definition Aristoteles, 'Poetik', 6. Kapitel 1. HANDLUNG 2. Charaktere 3. FIGUREN-REDE 4. Gedanke, Absicht 5. SCHAU , Szenerie 6. Gesang, Musik Das REDEKRITERIUM des Aristoteles: (Narrativer) Bericht und (szenische) Darstellung als Gegensätze. VERDECKTE INFORMATIONSVERMITTLUNG ' bzw. VERDECKTE HANDLUNG (1) MAUERSCHAU (TEICHOSKOPIE) und (2) BOTENBERICHT als ‚episch’ -erzählende Elemente im Drama. Beispiel für Teichoskopie: Goethe, Götz von Berlichingen, Dritter Akt 'Eine Höhe mit einem Wartturm'. RAHMENTEXT und THEATER-AUFFÜHRUNG als konstitutive Elemente des Dramas. Definition im 'Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft' [RLW]: DRAMA = "Poetischer Text, der neben einer Lektüre die Inszenierung auf dem Theater ermöglicht." 'HAUPTTEXT ' (= 'Sprechertext' i.e.S.) und 'NEBENTEXT ' (in den Bsp.: fett) des Dramentextes. Die Rolle des BÜHNENRAUMES als Schauplatz des dramatischen Geschehens • Dramentext und Bühnenraum hängen historisch voneinander ab. Historische Variabilität der Bühnenformen 2. 'Bühne' und 'Text': Die "PLURIMEDIALITÄT " des Theaters 1. "GUCKKASTENBÜHNE " seit dem 17.Jh.: Realer Bühnenraum • Bühnen- raum als fiktiver Ort des Geschehens: das LICHT als Mittel der Illusionserzeugung. 2. "SHAKESPEAREBÜHNE ": Oberbühne ('Romeo und Julia': 'Balkonszene'!) • Innenbühne • Vorderbühne. Dramaturgische Möglichkeiten: z.B. Simultanszenen. (Abb. bei Platz-Waury, 24; ebenso Maurer- 3 Text-Beispiel 1: Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel (1773) ERSTER AKT Schwarzenberg in Franken. Herberge Metzler, Sievers am Tische. Zwei Reitersknechte beim Feuer. Wirt. SIEVERS. Hänsel, noch ein Glas Branntwein, und meß christlich. WIRT. Du bist der Nimmersatt. METZLER leise zu Sievers. Erzähl das noch einmal vom Berlichingen! Die Bamberger dort ärgern sich, sie möchten schwarz werden. SIEVERS. Bamberger? Was tun die hier? METZLER. Der Weislingen ist oben auf'm Schloß beim Herrn Grafen schon zwei Tage; dem haben sie das Gleit geben. Ich weiß nicht, wo er herkommt; sie warten auf ihn; er geht zurück nach Bamberg. SIEVERS. Wer ist der Weislingen? METZLER. Des Bischofs rechte Hand, ein gewaltiger Herr, der dem Götz auf'n Dienst lauert. SIEVERS. Er mag sich in acht nehmen. METZLER leise. Nur immer zu! Laut. Seit wann hat denn der Götz wieder Händel mit dem Bischof von Bamberg? Es hieß ja, alles wäre vertragen und geschlichtet. SIEVERS. Ja, vertrag du mit den Pfaffen! Wie der Bischof sah, er richt nichts aus und zieht immer den kürzern, kroch er zum Kreuz und war geschäftig, daß der Vergleich zustand käm. Und der getreuherzige Berlichingen gab unerhört nach, wie er immer tut, wenn er im Vorteil ist. METZLER. Gott erhalt ihn! Ein rechtschaffner Herr! SIEVERS. Nun denk, ist das nicht schändlich? Da werfen sie ihm einen Buben nieder, da er sich nichts weniger versieht. Wird sie aber schon wieder dafür lausen! METZLER. Es ist doch dumm, daß ihm der letzte Streich mißglückt ist. Er wird sich garstig erbost haben. SIEVERS. Ich glaub nicht, daß ihn lang was so verdrossen hat. Denk auch, alles war aufs genauste verkundschaft, wann der Bischof aus dem Bad käm, mit wieviel Reitern, welchen Weg; und wenn's nicht wär durch falsche Leut verraten worden, wollt er ihm das Bad gesegnet und ihn ausgerieben haben. ERSTER REITER. Was räsoniert ihr von unserm Bischof? Ich glaub, ihr sucht Händel. SIEVERS. Kümmert euch um eure Sachen! Ihr habt an unserm Tisch nichts zu suchen. ZWEITER REITER. Wer heißt euch von unserm Bischof despektierlich reden? SIEVERS. Hab ich euch Red und Antwort zu geben? Seht doch den Fratzen! Erster Reiter schlägt ihm hinter die Ohren. METZLER. Schlag den Hund tot! Sie fallen übereinander her. ZWEITER REITER. Komm her, wenn du's Herz hast. WIRT reißt sie voneinander. Wollt ihr Ruh haben! Tausend Schwerenot! Schert euch naus, wenn ihr was auszumachen habt. In meiner Stub soll's ehrlich und ordentlich zugehen. Schiebt die Reiter zur Tür hinaus. Und ihr Esel, was fanget ihr an? METZLER. Nur nit viel geschimpft, Hänsel, sonst kommen wir dir über die Glatze. Komm, Kamerad, wollen die draußen bleuen. Zwei Berlichingische Reiter kommen. ERSTER REITER. Was gibt's da? SIEVERS. Ei guten Tag, Peter! Veit, guten Tag! Woher? ZWEITER REITER. Daß du dich nit unterstehst zu verraten, wem wir dienen. SIEVERS leise. Da ist euer Herr Götz wohl auch nit weit? ERSTER REITER. Halt dein Maul! Habt ihr Händel? SIEVERS. Ihr seid den Kerls begegnet draußen, sind Bamberger. ERSTER REITER. Was tun die hier? METZLER. Der Weislingen ist droben auf'm Schloß, beim gnädigen Herrn, den haben sie geleit't. ERSTER REITER. Der Weislingen? ZWEITER REITER leise. Peter! das ist ein gefunden Fressen! Laut . Wie lang ist er da? METZLER. Schon zwei Tage. Aber er will heut noch fort, hört ich einen von den Kerls sagen. ERSTER REITER leise. Sagt ich dir nicht, er wär daher! Hätten wir dort drüben eine Weile passen können. Komm, Veit. SIEVERS. Helft uns doch erst die Bamberger ausprügeln. ZWEITER REITER. Ihr seid ja auch zu zwei. Wir müssen fort. Adies! Ab. SIEVERS. Lumpenhunde die Reiter! wann man sie nit bezahlt, tun sie dir keinen Streich. METZLER. Ich wollt schwören, sie haben einen Anschlag. Wem dienen sie? SIEVERS. Ich soll's nit sagen! Sie dienen dem Götz. METZLER. So! nun wollen wir über die draußen. Komm, solang ich einen Bengel hab, fürcht ich ihre Bratspieße nicht. SIEVERS. Dürften wir nur so einmal an die Fürsten, die uns die Haut über die Ohren ziehen. […] Text-Beispiel 2: Gerhart Hauptmann, Der Biberpelz [UA 1893], ERSTER AKT Kleiner, blaugetünchter, flacher Küchenraum mit niedriger Decke; ein Fenster links; eine rohgezimmerte Tür ins Freie führend rechts; eine Tür mit ausgehobenem Flügel mitten in der Hinterwand. - Links in der Ecke der Herd, darüber an der Wand Küchengerät am Rahmen, rechts in der Ecke Ruder und Schiffereigerät; gespaltenes Holz, sogenannte Stubben, unter dem Fenster in einem Haufen. Eine alte Küchenbank, mehrere Schemel usw. usw. -Durch den leeren Türrahmen der Hinterwand blickt man in einen zweiten Raum. Darin steht ein hochgemachtes, sauber gedecktes Bett, darüber hängen billige Photographien in noch billigeren Rahmen, íldruckköpfe in Visitenkartenformat usw. Ein Stuhl aus weichem Holz ist mit der Lehne gegen das Bett gestellt. - Es ist Winter, der Mond scheint. Auf dem Herd in einem Blechleuchter steht ein brennendes Talglicht. Leontine Wolff ist auf einem Schemel am Herd, Kopf und Arme auf der Herdplatte, eingeschlafen. Sie ist ein siebzehnjähriges, hübsches, blondes Mädchen in der.Arbeitstracht eines Dienstmädchens. Über die blaue Kattunjacke hat sie ein dickes, wollenes Brusttuch gebunden. - Einige Sekunden bleibt es still, dann hört man, wie jemand bemüht ist, von außen die Tür aufzuschließen, in der jedoch von innen der Schlüssel steckt. Nun pocht es. FRAU WOLFF, unsichtbar von außen. Adelheid! Adelheid! Stille; dann wird von der andern Seite ans Fenster gepocht. Wirschte gleich uffmachen! LEONTINE, im Schlaf. Nein, nein, ick laß mir nich schindenl FRAU WOLFF. Mach uff, Mädel, sonste komm ich durchs Fenster. Sie trommelt sehr stark ans Fenster. LEONTINE, aufwachend. Ach, du bist's, Mama! Ick komme ja schonl! Sie schließt auf. FRAU WOLFF, ohne einen Sack, welchen sie auf der Schulter trägt, abzulegen. Was willst'n du hier? LEONTINIE, verschlafen. 'n Abend, Mama! FRAU WOLFF. Wie bist'n du reinkommen, hä? LEONTINE. Na, übern Ziejenstall lag doch der Schlüssel. Kleine Pause. FRAU WOLFF. Was willste denn nu zu Hause, Mädel? […] Zunahme des Nebentextes (der 'epischer' Elemente) = 'Krise' des Dramas seit dem Ende des 19. Jahrhunderts? These von Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1956) „Da die Entwicklung der modernen Dramatik vom Drama selber wegführt, ist bei ihrer Betrachtung ohne einen Gegenbegriff nicht auszukommen. Als solcher stellt sich ‚episch‘ ein: es bezeichnet einen gemeinsamen strukturellen Zug von Epos, Erzählung, Roman und anderen Gattungen, nämlich das Vorhandensein dessen, was man das ‚Subjekt der epischen Form‘ [Lukács] oder das ‚epische Ich‘ [Petsch] genannt hat.“ Grundtypen des Dramas 1. Stand der Personen (STÄNDEKLAUSEL; FALLHÖHE ) 'hoch' (Heroen, Feldherren, Könige) vs. 'niedrig' (niedriggestellte und 'private' Personen) 2. Stilebene 'hoher Stil', Vers vs. 'niederer Stil', auch Prosa 3. Stoff (hier nach Opitz) Angelegenheiten aus dem fürstlichen Haus, Kinder- und Vatermord, Trauerfälle, Krieg, Aufruhr etc. vs. Hochzeiten, Betrügereien, Leichtfertigkeiten des Alters oder der Jungen, Geiz, Liebessachen etc. 4. Dramenausgang Tod (= schlechter Ausgang) vs. Heirat (= guter Ausgang)? 18. Jh.: "BÜRGERLICHES TRAUERSPIEL " vs. "WEINERLICHES LUSTSPIEL " (comédie larmoyante) FIGURENKONSTELLATION = wie verhalten sich die Figuren zueinander (bezogen auf das ganze Stück) Beispiel: Lessing: 'Emilia Galotti' (nach Asmuth, S.97; verändert). Vier Eigenschaftskomplexe: 1. Charakter (Intellekt? Gefühl? Moral? etc.). 2. Körperliche Erscheinung (Geschlecht? Alter? Attraktivität? etc.). 3. Soziale Geltung (Stand? Beruf? Besitz? etc.). 4. Sprache (in Verbindung mit 1.-3.). Wie werden die CHARAKTERISIERUNGEN vorgenommen? 1. AUKTORIAL (also durch den Verfasser des Dramas, etwa im Nebentext) • oder 2. 2. FIGURAL (also Charakterisierung durch die einzelnen Figuren selbst, im Haupttext des Stückes). FREMD- und EIGENKOMMENTAR. Gegensatz zwischen 'CHARAKTER' und 'TYPUS' • Charakterdrama und Typendrama als historisch gegensätzliche Ausprägungen vor und nach dem 18. Jh. TYPENKOMÖDIE (1.H. 18. Jh.): Ziel = 'Verlachung' eines moralischen Defekts (sozial abweichendes Verhalten). Lessing: 'Der junge Gelehrte' (UA 1748); 'Der Freygeist' (1749). zweite Ebene: Handlung, Aristoteles, Poetik, Kap. 6-8: GESCHLOSSENHEIT der Handlung: Anfang, Mitte, Schluß. "Demzufolge dürfen Handlungen, wenn sie gut zusammengefügt werden sollen, nicht an einer beliebigen einsetzen noch an beliebiger Stelle enden" (Kap. 7). Lösung der Handlung 'aus sich' • Verbot des Eingriffs von außen (DEUS EX MACHINA ) • Bsp.: Lessing: 'Minna von Barnhelm'. Lehre von den ' DREI EINHEITEN (normative Dramenpoetik seit dem 16. Jahrhundert): 1. EINHEIT DER HANDLUNG 2. EINHEIT DER ZEIT (Handlung innerhalb eines Tages) 3. EINHEIT DES ORTS Aristoteles: Struktur des Dramas: 'VERKNÜPFUNG und LÖSUNG "Jede Tragödie besteht aus Verknüpfung und Lösung. Die Verknüpfung umfaßt gewöhnlich die Vorgeschichte und einen Teil der Bühnenhandlung, die Lösung den Rest. Unter Verknüpfung verstehe ich den Abschnitt vom Anfang bis zu dem Teil, der der Wende ins Glück oder ins Unglück unmittelbar vorausgeht, unter Lösung den Abschnitt vom Anfang der Wende bis hin zum Schluß." ('Poetik', Kap. 18). [weiterführend: Peter Pütz: Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung. Göttingen ^21977]. Gustav Freytag: Die Technik des Dramas (1863): Fünfer-Schema: I. EINLEITUNG (auch Exposition) • [ERREGENDES MOMENT] • II. STEIGERUNG III. HÖHEPUNKT [TRAGISCHES MOMENT] IV. FALL/UMKEHR • [MOMENT DER LETZTEN SPANNUNG] V. KATASTROPHE (hier nach Pfister, S. 239): "Die Einleitung exponiert die konflikthafte Ausgangssituation, worauf durch das erregende Moment eine entscheidende Handlung der Protagonisten oder Antagonisten den Konflikt in steigernder Handlung zum Höhepunkt geführt wird und dann durch ein tragisches Moment der Fall des Protagonisten oder die Umkehr der Handlungsrichtung eingeleitet wird, die schließlich, verzögert durch ein Moment der letzten Spannung, in dem noch einmal Hoffnung erscheint, zur Katastrophe führt." (Pfister, S. 320f.). 'GESCHLOSSENES DRAMA (TEKTONISCHE BAUFORM) vs. 'OFFENES DRAMA (ATEKTONISCHE BAUFORM). [Begriffe von Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München ^111985, S. 215ff.]