Fragen über Fragen -Interviewen will gelernt sein Christiane Stork Das Zeitzeugengespräch erfreut sich bei Jugendlichen großer Beliebtheit: Es ermöglicht einen beispiellos direkten Zugang zur Geschichte, die dem Interviewer quasi gegenübersitzt. Der eigenständige Wert von Zeilzeugeninterviews ist heute anerkannt. Immerhin erhellt oral history« Sachverhalte, zu denen schriftliche Quellen fehlen, und macht Alltagserfahrungen sichtbar, die als Ergänzung und Korrektiv schriftlicher Überlieferung nutzbar sind. Aber wo und wie finde ich die richtigen Zeil zeugen? Was will (und kann) ich von ihnen erfahren? Welches Vorwissen brauche ich? Und wie lässt sich das Gesagte überprüfen und auswerten? Vorbereitung: Suchen und Finden Bereits heim Suchen geeigneter Personen ist das Gespräch wichtig: Schüler erzählen in der FamÜie, Nachbarschaft, Bekanntschaft, an welchem Thema sie arbeiten. Anfragen bei Vereinen, Verbänden oder Altersheimen können /.um Erfolg führen. Auch Artikel in der Idealen Presse helfen weiter: Wer hat ein bestimmtes Ereignis miterlebt und ist bereit, über seine Erinnerungen zu sprechen? Ist ein Zeitzeuge gefunden, sollte man sich möglicher Sprachbarrieren vergewissern und ggf. einen Dolmetschen (einen Mitschüler oder Nachbarn mit entsprechenden Sprachkenntnissen) organisieren. Ebenfalls empfiehlt e&sich, die Kontäktaufnähmezu üben. üb am Telefon oder per Brief: »Guten Tag. ich würde Sie gerne interviewen, ist mit Sicherheit etwas kurz angebunden, also: Name, Informationen zum Geschichtswettbewerb,Thema undlnteresseamZeitzeugen erläutern. Zeitzeugen, die sich scheuen, ihre Geschichte zu erzählen, kann man auch eine Anonymisierung im Beitrag anbieten. Vor dem Interview sollte man das Ziel der Befragung festlegen. Hilfreich ist dabei ein Fragenkatalog, der als »roter Faden« für das Gespräch dient. Auf keinen Fall dürfen aber die Fragen von oben bis unten »abgehakt« werden - ein Zeitzeugengespräch ist kein Verhör! Der Interviewte muss Gesprächspartner bleiben und seine Geschichte erzählen dürfen. Und: Um sinnvolle Fragen stellen zu können, muss der historische Kontext, sowohl allgemeine Hintergründe als auch lokale Besonderheiten, in etwa bekannt sein. Wenn Zeitzeugen nur auf Unkenntnis und Unverständnis beim Interviewer stoßen, kann das Gespräch sonst schnell beendet sein. Empfehlung: Vor dem Ernstfall sollten die Jugendlichen zur Übung etwa einen Lehrer oder einen Bekannten interviewen. Dabei können auch schon die technischen Hilfsmittel - zu jedem Interview gehört ein Aufnahmegerät - überprüft werden. Denn allzu oft lesen wir in Arbeitsberichten unserer Teilnehmer, dass das Mikrofon streikte, die Batterie leer oder der Film voll war ... Durchführung: Fragen - Antworten - Fragen »Nach jeder Antwort ergab sich eine neue Frage«, so eine Teilnehmerin aus Bremen. Im Optimalfall sollte diese Feststellung während des Interviews sogleich Konsequenzen haben. Aber auf Antworten immer flexibel zu reagieren und gleichzeitig den Gesprächspartner beim Thema zu halten ist gar nicht so einfach. Das Fragen, Zuhören und Nachhaken will gelernt sein. Manche Antworten des Zeitzeugen erscheinen zusammenhanglos und widersprüchlich. Wenn man das ersl heim Abhören des Mitschnitts feststellt, ist es gut. wenn es für weitere Nachfragen nicht zu spät ist: Am Ende eines Zeitzeugengesprächs sollte unbedingt die Möglichkeit eines weiteren Treffens angesprochen werden. Kulturelle Unterschiede zwischen Gesprächspartnern und Schülern können weitere Verständigungsprobleme verursachen. Auch hier gilt: nachfragen und sich vergewissern, ob man den Sachverhalt richtig verstanden hat. Nachbereitung: Jetzt kann die Arbeit beginnen! Ebenso wie Quellen nicht für sich selbst sprechen«, sondern interpretiert werden müssen, vermitteln auch Zeitzeugen nicht Geschichte, »wie sie wirklich war«: Sie geben uns Auskunft über ihre Sicht auf ein Ereignis oder eine Situation und sind dabei abhängig von ihrer Erinnerung. Erinnerung ist aber oft lückenhaft. Beim Erzählen der Biografie wird zudem das eigene Leben zu einer logischen Einheit verdichtet, in der Brüche oft nicht mehr auftauchen. Umso wichtiger ist die Auswertung des Interviews: Als erstes müssen die wichtigsten Gesprächsausschnitte verschriftlicht werden (»Transkription«). Widersprüchliche Aussagen sollten markiert werden, um sie ggf. in einem zweiten Interview mit dem Zeitzeugen als Frage aufzugreifen. Die Sachaussagen müssen anhand anderer Informationsquellen (schriftliche Quellen, Literatur) überprüft werden. Einschätzungen und Bewertungen eines Zeitzeugen sollten mil weiteren Recherche-oder Interviewergebnissen verglichen werden. Denn, so banal es ist: »Jeder Mensch ist anders« und hat je nach Alter, Geschlecht, Nationalität, Religion, Beruf, sozialem Status usw. eine unterschiedliche Perspektive. Verwaltungsbeamte etwa sehen die Unterbringung z. B. von Asylbewerbern in ihrer Gemeinde unter anderen Vorzeichen als die Betroffenen selbst oder aber auch die Bevölkerung des Ortes. Der Chef einer Firma wird die Frage nach der Gleichberechtigung von ausländischen und einheimischen Arbeitern womöglich anders beantworten als seine italienischen, türkischen oder deutschen Beschäftigten (vgl. Beispiel). Um das einzelne Interview einordnen und bewerten zu können, ist deshalb Muitiperspektivitäf der Quellen bzw. Zeitzeugen gefragt. 48 SPUREN SUCHEN 2002 Befragung italienischer Arbeiter (li.) durch Schülerinnen und Schüler aus Obernkirchen Beispiel: Interview-Auszug In der niedersächsischen Glasfabrik Heye in Obernkirchen wurden ab 1955 Gastarbeiter, vor allem aus Italien, beschäftigt. Schüler interviewten 1988 den Firmeninhaber sowie verschiedene italienische Beschäftigte. Interview-Tipps Vorbereitung ggf. Kontaktaufnahme mit Zeitzeugen üben Ziel der Befragung festlegen sich über Zeitzeugen und historischen Kontext informieren Fragenkatalog formulieren und in Themenbereiche gliedern »Trockenübung« mit Lehrer. Eltern. Mitschülern... Interviewpartner über Interesse an bestimmten Themen informieren: in das Projekt mit einbinden! Termin vereinbaren und Technik überprüfen (Kassettenrekorder, Fotoapparat) Beim Interview Fotos oder andere Quellen als Cesprächsanlass benutzen Nachfragen und sich ggf. vom Fragenkatalog lösen ggf. einen weiteren Termin vereinbaren oder Rückmeldung ankündigen Nachbereitung Transkription der wichtigsten Cesprächsausschnitte Deutung: das Gesagte nicht unkritisch als »Wahrheit« übernehmen Überprüfung anhand anderer Informationsquellen (andere Zeitzeugen, aber auch Literatur) ggf. zweites Interview mit gleichem Zeitzeugen vereinbaren Zeitzeugen über Ergebnisse informieren Interview mit Friedrich Heye Frage: Wann kamen die ersten Gastarbeiter aus Italien hierher? Herr Heye: 30 Jahre sind wohl schon einige hier. Manche bleiben hier .... manche sagen, nein, wenn wir in Rente gehen, dann fahren wir nach Italien zurück. Frage: Haben die Italiener auch Aufstiegschancen, genauso viel wie Deutsche? Herr Heye: Ja. Interview mit Herrn Bonen Frage: Herr Bonen. wann kamen Sie nach Deutschland? Herr Bonen: Ich bin seit 1958 in Deutschland.... Frage: Gibt es Aufstiegsmöglichkeiten für Italiener? Herr Bonen: Ja, man kann aber nur Vorarbeiter werden. Meister sind immer Deutsche. Frage: Haben Sie das Gefühl, dass Deutsche bevorzugt werden? Herr Bonen: Naja. Dazu möchte ich nichts sagen. Frage: Gibt es Unterschiede bei Heye zwischen deutschen und italienischen Arbeitern? Herr Bonen: Das Verhältnis ist gut. es gibt keine Unterschiede. Aus: Körber-Archiv Nr. 10359: Overton, Simona u. a.: Heye-Glas Obernkirchen: Auch eine Geschichte von Fremden, S. 77 f. und S. 82 f. Chef und italienischer Arbeiter antworten unterschiedlich. Laut Herrn Bonen gibt es nur eingeschränkte Aufstiegschancen. In einem zweiten Gespräch könnte der Firmeninhaber nach den Gründen dafür gefragt werden. Die direkte Frage verursacht bei Herrn Bonen einen Loyalitätskonflikt - er will seine Firma nicht schlecht machen. Der Unterschied - die Bevorzugung der deutschen Arbeiter - ist ja auch schon benannt worden. Mögliche Fragen wären, warum nach Meinung Herrn Bonens dieser Unterschied besteht, inwiefern ersieh dadurch benachteiligt fühlt, ob das bei seinen italienischen Kollegen Unmut verursacht usw. 2002 SPUREN SUCHEN 49