"don't talk back" Sprache produzieren und das Subjekt zu einem im wesentlichen passiven Rezipienten dieser Sprachproduktion wird, beginnt sich der Austausch zwischen Sprache und Wirklichkeit und zwischen Sprechern auf die Reproduktion vorgefertigter sprachlicher Versatzstücke zu reduzieren. Das Subjekt droht tendenziell selbst zum Zitatensemble zu werden. Ich werde in einem späteren Band dieser Reihe extensiv auf diesen Prozeß eingehen, möchte ihn aber hier immerhin erwähnen, weil ein Autor wie Karl Kraus und der expressionistische Gesellschaftskritik radi-kalisierende Dadaismus die Sprachstereotypisierung zum Gegenstand ihrer literarischen Kritik machten. 2.6 Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Expressionismus 2.6.1 Nietzsches historische Nihilismusanalyse 2.6.1.1 Vorbemerkung Bei der problemgeschichtlichen Analyse des Expressionismus stießen wir auf das Phänomen der Ichdissoziation und hier immer wieder auf den Namen Nietzsche, auf die mit seinem Namen verbundene erkenntnistheoretische Ausgangssituation des Expressionismus. Wenn ein Mann das geistige Klima Ende des 19. Jahrhunderts radikal verändert hat, so ist es Nietzsche gewesen. Literaturgeschichtlich fällt diese Wende zusammen mit der 'Überwindung des Naturalismus' - dies der Titel einer 1891 erschienenen Streitschrift von Hermann Bahr -, mit der Kritik an der Wissenschaftsgläubigkeit und am Realitätsbegriff des Naturalismus Allerdings ist die geistige Position Nietzsches selbst so vielschichtig, die Rezeption seines Werkes so gebrochen und z. T. diffus, daß bis heute eine umfassende Darstellung seines Einflusses auf die literarische Moderne um die Jahrhundertwende aussteht.34 "Nihilismus", die Vielheit des Ich, die Lehre vom "Übermenschen", der "Wille zur Macht", die Lebensphilosophie, Kunst als letzte Form der Metaphysik ..., das sind Bruchstücke einer Lehre die der aphoristischen Philosophie Nietzsches entnommen, rasch in Umlauf gerieten und diskutiert wurden in avantgardistischen Zeitschriften, Literatenkreisen, Bohemezirkeln. Zu Beginn des expressionistischen Jahrzehnts lag Nietzsche, wie Ernst Blass die Atmosphäre im Berliner "Café des Westens" charakterisiert, "i m 34 Eine wichtige Grundlage dazu hat P. Pütz durch sein Buch über Nietzsche gelegt (660). 134 der Luft", sein Gedankengut wurde z. T. übertragen durch "Osmose" (W. Paulsen). Das aber macht die Analyse seiner Rezeption auch so schwer. Wenn Gottfried Beim in 'Nietzsche - nach fünfzig Jahren' schreibt: Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinanderdachte, man kann sagen: erlitt, man kann audi sagen: breittrat — alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen . . . (162, 482) ist dies sicher eine pointierte Formulierung; aber sie hält den immensen Einfluß Nietzsches fest und macht so zugleich die Diskrepanz zu den positivistisch aufweisbaren Quellen dieses Einflusses bewußt. In dieser Situation empfiehlt es sich, auf Texte Nietzsches selbst einzugehen, Grundgedanken seiner Philosophie exakt herauszuarbeiten, um diese Ergebnisse mit den Ergebnissen einer konkreten Analyse expressionistischer Texte zu korrelieren. Was aufgenommen, wie es aufgenommen und verarbeitet wurde, ist letztlich nur den literarischen Texten des Expressionismus selbst zu entnehmen. Die Analyse Nietzsches erfolgt so natürlich schon mit Hinblick auf den Expressionismus, insbesondere die erkenntnistheoretische Reflexionsprosa des Expressionismus, wie umgekehrt dessen Analyse ein nicht nur schlagworthaftes, sondern vertieftes Verständnis von Nietzsche und der erkenntnistheoretischen Probleme seiner Zeit, die allerdings Nietzsche wie kein anderer klar artikulierte -das vor allem begründete seine Wirkung — voraussetzt.35 2.6.1.2 Interpretation von Nietzsches Aphorismus: 'Hinfall der kosmölogischen Werte' Einer der Aphorismen aus dem Nachlaß Nietzsches, der unter dem Titel 'Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte' nach Nietzsches Tod veröffentlicht wurde, ist überschrieben:36 'Hinfall der kosmologi- 35 Ich gehe bei der folgenden Analyse mit Nietzscheforschern wie K. Löwith und H. Röttges aus von der wesensmäßigen Einheit des Gesamtwerks. Damit soll nicht die in der Forschung herausgearbeitete Akzentverlagerung von einer ersten Gruppe von Schriften (u. a. 'Die Geburt der Tragödie') über eine kritische Ernüchterung ('Menschliches, Allzumenschliches', 'Morgenröte' u. a.) zum Versuch einer positiven Antwort auf den Nihilismus ('Also sprach Zarathustra') geleugnet werden. Aber Röttges hat wohl recht, daß "jene Lehre vom mit der Aufklärung manifest werdenden Nihilismus und seiner Überwindung" sich durch das Gesamtwerk zieht (662, 30), mithin die Einheit des Werkes gerade in seiner durchgehenden Ambivalenz besteht. 38 Vom Herausgeber der dreibändigen Nietzscheausgabe, Karl Schlechta, wurde dieser Nachlaß allerdings aufgelöst und durch eine "manuskriptgetreue-chrono-logische" ersetzt, die allerdings angegriffen wurde. Eine kritische Gesamtausgabe aller Schriften durch G. Colli und M. Montinari ist im Entstehen. 135 sehen Werte'. Der Aphorismus exponiert in gedrängter Form zentrale Gedanken der Philosophie Nietzsches, insbesondere seinen Nihilismusbegriff. Der Einstieg bei diesem Aspekt der Philosophie Nietzsches erfolgt nicht willkürlich, sondern auf Grund derselben Hypothese, die dem ganzen problemgeschichtlichen Teil dieses Bandes zugrunde liegt: der Versuch eines Neuanfangs im expressionistischen Begriff des "neuen Menschen" oder Nietzsches "Übermenschen", die messianische Lehre des "Lebens" und seiner immanenten Steigerungsformen im "Willen zur Macht" und "Dionysischen" sind nur verständlich vor dem Hintergrund einer tiefgreifenden Strukturkrise des Ich, die ihrerseits die im Begriff des Nihilismus festgehaltene radikale Verunsicherung traditioneller Denkformen und Wertsysteme widerspiegelt. Was meint, genau besehen, der Begriff Nihilismus ?: "Hinfall der kosmologischen Werte A. Der Nihilismus als psychologischer Zustand wird eintreten müssen, erstens, wenn wir einen 'Sinn' in allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin ist: so daß der Sucher endlich den Mut verliert. Nihilismus ist dann das Bewußtwerden der langen Vergeudung von Kraft, die Qual des 'Umsonst', die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu erholen, irgendworüber noch zu beruhigen — die Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen ... Jener Sinn könnte gewesen sein: die 'Erfüllung' eines sittlichen höchsten Kanons in allem Geschehen, die sittliche Weltordnung; oder die Zunahme der Liebe und Harmonie im Verkehr der Wesen; oder die Annäherung an einen allgemeinen Glücks-Zustand; oder selbst das Losgehen auf einen allgemeinen Nichts-Zustand — ein Ziel ist immer noch ein Sinn. Das Gemeinsame aller dieser Vorstellungsarten ist, daß ein Etwas durch den Prozeß selbst erreicht werden soll: — und nun begreift man, daß mit dem Werden nichts erzielt, nichts erreicht wird ... Also die Enttäuschung über einen angeblichen Zweck des Werdens als Ursache des I "Nihilismus: sei es in Hinsicht auf einen ganz bestimmten Zweck, sei es, verallgemeinert, die Einsicht in das Unzureichende aller bisherigen Zweck-Hypothesen, die die ganze 'Entwicklung' betreffen (— der Mensch nicht mehr Mitarbeiter, geschweige der Mittelpunkt des Werdens). Der Nihilismus als psychologischer Zustand tritt zweitens ein, wenn man eine Ganzheit, eine Systematisierung, selbst eine Organisierung in allem Geschehen und unter allem Geschehen angesetzt hat: so daß in der Gesamtvorstellung einer höchsten Herrschafts- und Verwaltungsform die nach Bewunderung und Verehrung durstige Seele schwelgt (— ist es die Seele eines Logikers, so genügt schon die absolute Folgerichtigkeit und Realdialektik, um mit allem zu versöhnen ...). Eine Art Einheit, irgendeine Form des 'Monismus': und infolge dieses Glaubens 136 der Mensch in tiefem Zusammenhangs- und Abhängigkeitsgefühl von einem ihm unendlich überlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit . . . 'Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des einzelnen' ... aber siehe da, es gibt kein solches Allgemeines! Im Grunde hat der Mensch den Glauben an seinen Wert verloren, wenn durch ihn nicht ein unendlich wertvolles Ganzes wirkt: d.h. er hat ein solches Ganzes konzipiert, um an seinen Wert glauben zu können. Der Nihilismus als psychologischer Zustand hat noch eine dritte und letzte Form. Diese zwei Einsichten gegeben, daß mit dem Werden nichts erzielt werden soll und daß unter allem Werden keine große Einheit waltet, in der der einzelne völlig untertauchen darf wie in einem Element höchsten Wertes: so bleibt als Ausflucht übrig, diese ganze Welt des Werdens als Täuschung zu verurteilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als wahre Welt. Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen Bedürfnissen diese Welt gezimmert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht hat, so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine metaphysische Welt in sich schließt, - welche sich den Glauben an eine wahre Welt verbietet. Auf diesem Standpunkt gibt man die Realität des Werdens als einzige Realität zu, verbietet sich jede Art Schleichweg zu Hinterwelten und falschen Göttlichkeiten - aber erträgt diese Welt nicht, die man schon nicht leugnen will . . . - Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Wertlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff 'Zweck', noch mit dem Begriff 'Einheit', noch mit dem Begriff 'Wahrheit' der Gesamtcharakter des Daseins interpretiert werden darf. Es wird nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht 'wahr', ist falsch ..., man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden . .. Kurz: die Kategorien 'Zweck', 'Einheit', 'Sein', mit denen wir der Welt einen Wert eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen — und nun sieht die Welt wertlos aus ... B. Gesetzt, wir haben erkannt, inwiefern mit diesen drei Kategorien die Welt nicht mehr ausgelegt werden darf und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns wertlos zu werden anfängt: so müssen wir fragen, woher unser Glaube an diese drei Kategorien stammt, — versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ihnen den Glauben z\^kündigen! Haben, wir diese drei Kategorien entwertet, so ist der Nachweis ihrer Unanwend-barkeit auf das All kein Grund mehr, das All zu entwerten. — Resultat: Der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus, — wir haben den Wert der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingierte Welt beziehen. 137 - Schluß-Resultat: Alle Werte, mit denen wir bis jetzt die Welt zuerst uns schätzbar zu machen gesucht haben und endlich ebendamit entwertet haben, als sie sich als unanlegbar erwiesen - alle diese Werte sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur fälschlich projiziert in das Wesen der Dinge. Es ist immer noch die hyperbolische Naivität des Menschen: sich selbst als Sinn und Wertmaß der Dinge anzusetzen." (651/676) Martin Heidegger hat zurecht darauf hingewiesen, daß der Titel 'Hinfall der kosmologischen Werte' nicht eine besonders eingeschränkte Klasse von Werten meint, etwa im Sinne der Dreiteilung traditioneller Philosophie in Kosmologie, Psychologie und Theologie, der die Dreiheit Natur, Mensch, Gott entspräche. "Diese Vermutung ist irrig. Kosmos bedeutet hier nicht 'Natur' im Unterschied zum Menschen und zu Gott, 'Kosmos' bedeutet soviel wie 'Welt', und Welt ist der Name für das Seiende im Ganzen." (655, 35) Es geht in diesem Aphorismus um den "Nihilismus als psychologischen Zustand", d. h. um die Rückwirkung einer historischen Zustandsform von Wirklichkeit auf den Menschen, um eine geschichtsphilosophische Erfahrungsform von Wirklichkeit. Zudem formuliert der Aphorismus den Begriff Nihilismus gleichsam selbst als seinen Prozeß. Der Abschnitt A gliedert sich in drei, den psychologischen Zustand des Nihilismus beschreibende Teile und eine quintessenzartige Zusammenfassung. Die erwähnten drei Teile vollziehen immer wieder denselben Gedankengang: "erstens, wenn wir einen 'Sinn' in allem Geschehen gesucht haben ...", "zweitens ..., wenn man eine Ganzheit, eine Systematisierung, selbst eine Organisierung in allem Geschehen und unter allem Geschehen angesetzt hat..." und drittens die "Ausflucht... eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als wahre Welt". Es wird hier jeweils der Prozeß einer Sinngebung der Welt durch den Menschen beschrieben. Der Mensch legt etwas in die Welt hinein, deutet sie sinnvoll, zuletzt durch die Verlagerung der Welt der Wahrheit in ein Jenseits zur diesseitigen Welt. Diesen Formen von Sinnstiftung geschieht aber nun das immer Gleiche: sie erweisen sich, bloße Projektionen des Subjekts zu sem. Der "in allem Geschehen" gesuchte Sinn ist s e 1 b s t "nicht dann". Die Welt selbst ist gar nicht sinnvoll, sittlich, wahr; nur unsere Vorstellungen haben sie mit diesen Sinndeutungen überzogen. Die ersten drei Absdinitte beschreiben also einen sich mehrfach wiederholenden Prozeß der Projektion und ihre Entlarvung. Nihilismus nun ist zunächst und vor allem der Prozeß der Selbstauflösung von Werten, nach deren Maßgabe sich der Mensch die Welt zu-recht-"gezimmert" hat. "Was ist im Grund geschehen? Das Gefühlter Wertlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff 'Zweck', noch mit dem Begriff 'Einheit', noch mit dem Begriff Wahrheit 138 der Gesamtcharakter des Daseins interpretiert werden darf ... Kurz: die Kategorien 'Zweck', 'Einheit', 'Sein', mit denen wir der Welt einen Wert eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen - und nun sieht die Welt wertlos aus." Mit anderen Worten: Ideologiekritik als Medium der Auflösung umgreifender Weltdeutungen, als Zersetzungsprozeß übergreifender Werte - seien sie transzendent wie die Vorstellung eines höchsten guten und wahren Wesens: Gott, seien sie geschichtsimmanent wie die "Zunahme der Liebe und Harmonie im Verkehr der Wesen" - schafft zuletzt einen Zustand absoluter Sinn- und Zwecklosigkeit von Wirklichkeit, weil sich durch sie der Glaube an ein einheitliches sinnstiftendes, in der Wirklichkeit selbst wirkendes Prinzip zersetzt hat. Der Abschnitt B eröffnet hier noch einen interessanten Aspekt. Er deutet "alle diese Werte ... psychologisch nachgerechnet" als "Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur fälschlich projiziert in das Wesen der Dinge." Mit anderen Worten: die großen Werte der Menschheit, die großen Begriffe, mit der ihre Geschichte leitbildhaft vorangetrieben wurde, sind selbst nur Fiktionen, die als Herrschaftsinstrumente eines permanenten "Willens zur Macht" fungieren. "Wille zur Macht": das ist für Nietzsche die Kategorie, nach deren Maßgabe Leben eigentlich sich vollzieht. Alle anderen Ideen, Begriffe und Vorstellungen sind aufgesetzt, bloße Fiktionen, die nur verschleiern, worum es eigentlich geht. Man könnte sagen, daß hier ein trauriger Skeptizismus seinen kulturmüden Blick auf die Welt richtet, selbst nicht weniger perspektivisch verzerrt, ja im schlechten Sinne 'subjektiv' als die Perspektiven und Begriffe, die entlarvt werden sollen. Das hieße aber die Bedeutung Nietzsches gehörig unterschätzen, indem man den ideologiekritischen Geschichtsprozeß, in dem er wissend steht, unterschätzt. Nietzsches Nihilismusanalyse ist kein schrulliger Einfall eines schlechtweggekommenen kränkelnden Misanthropen. Sie hätte sonst schwerlich die Wirkung gehabt, die sie hatte und - inklusive seiner Analyse der ihrem Wesen nach nihilistischen Form von Selbstbetäubung in Rausch, Ersatzreligionen und Surrogatzielsetzungen - mehr unbewußt als bewußt immer noch hat: "Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus." (651, 634) "Was bedeutet Nihilismus? - Daß die obersten Werte sich ent-werten. Es fehlt das Ziel. Es fehlt die Antwort auf das 'Wozu?'." (ebd., 557) j Entscheidend ist also, daß die Ursache des Nihilismus nicht in der In-j dividualpsychologie Nietzsches oder gar seiner Krankengeschichte verankert ist, sondern in einem übergreifenden Öwrchichtsprozeß: einmal durch die Hypostasierung von und den Glauben an Vernunftkategorien. "Schon das Hineinlegen dieser Werte in die Welt ist Nihilismus." (Heidegger 655, 58) Zum anderen durch den ideologiekritischen, aufklärerischen Prozeß der Auflösung solcher Vernunftkategorien und letzter Werte. 139 2.6.1.3 Nietzsches Nihilismusbegüff als radikale Konsequenz dei Ideologiekütik der Aufkläxung Das aber ist ein Prozeß, der seit der Renaissance durch die Wissenschaften und die Philosophie unaufhaltsam in Gang gekommen ist. Vor allem wird in ihm wie in einem Säurebad das Christentum als die abendländische Form von Metaphysik, d. h. einer Lehre von jenseitigen Welten, von einem höchsten Seienden, das zugleich die absolute Wahrheit sei, einem an die Wurzel gehenden Skeptizismus unterworfen. Nach Nietzsche setzt das neuzeitliche philosophische "Attentat auf die Grundvoraussetzungen der christlichen Lehre" nachdrücklich bei Descartes ein. Sein fundamentaler Zweifel an der Gewißheit alles Seienden findet ja bekanntlich nicht mehr in Gott, sondern im zweifelnden Ich selbst das unumstößliche Fundament einer sicheren Erkenntnis. Die moderne Philosophie ist von hier an versteckt oder offen antichristlich. Daß Descartes letztlich eine christliche, d.h. metaphysische Denkweise beibehält, die trotz und vor allem Zweifel "an einen guten Gott als Schöpfer der Dinge glaubt", deutet nach Nietzsche auf eine Inkonsequenz der gesamten modernen Philosophie: So sehr sie einerseits kritisch an der Abschaffung von letzten metaphysischen Wahrheiten arbeitet, so heimtückisch baut sie doch Metaphysik wieder in ihr Denken ein. Insbesondere hätten die Deutschen "nach der (reformatorischen) 'Abschaffung' des theologischen den 'weiterentwickelten' Typus des philosophischen Priesters geschaffen, und nur ihre 'Instinkt gewordene Unsauberkeit in psychologies' hat sie gehindert, die bloß scheinbare Emanzipation ihrer Philosophie bzw. deren Herkunft aus Theologenbluť zu durchschauen."37 "Unter Deutschen versteht man sofort, wenn ich sage, daß die Philosophie durch Theologen-Blut verderbt ist. Der protestantische Pfarrer ist Großvater der deutschen Philosophie..." (650, 1171). Der Prototyp dieser "unbewußten Falschmünzerei" ist Kant, indem er einerseits wissenschaftliche Erkenntnisse philosophisch begründet, zum anderen aber dem Wissen seine Schranken weisend nun geradezu wissenschaftlich ein Jenseits der Vernunft setzt, "ein Schleichweg zum alten Ideal", (ebd., 1171) Hegel gar war nach Nietzsche der "Verzögerer par excellence" des "unbedingt redlichen Atheismus". Hegels Aufhebung des Absoluten als eines Transzendenten zugunsten einer Absolutsetzung des Subjekts und seiner Geschichte, seine Aufhebung der absoluten Vernunft in den endlichen Prozeß der Geschichte, der geradezu zur Anbetung des Wirklichen als des Vernünftigen führt, ist nun 37 Diese Nietzschesätze zitiere ich aus der Arbeit von G. Grau über Nietzsche (653, 36), an dessen kluge Darstellung der Auflösung metaphysischer Kategorien in Nietzsches Philosophie ich mich auch im folgenden anlehne. 140 allerdings "der entscheidende Umschlag von der kritischen Restauration zur destruierenden". "Gleichwohl bedingt selbstverständlich diese Verabsolutierung des zwar modifizierten, aber gerade dadurch noch einmal umgreifend aktualisierten Christentums eine weitere Verzögerung im Prozeß der absoluten Aufhebung, bedeutet die geschichtsdialektische eine erneute Retardierung der logischen Selbstauflösung des Christentums in der Geschichte ... Am Ende hat es fast den Anschein, als finge sich die Macht der Religion in der Historie noch einmal in einer 'Religion der historischen Macht'." (Grau 653, 50 u. 51) So hat alle große Philosophie in der Neuzeit ein j anusartiges Doppelgesicht. Einerseits die Macht metaphysischer Weltordnung zerstörend, bleibt sie in einer Art Heimweh diesem Denken doch verhaftet. Allerdings wird Hegels Aufhebung der Religion in die Philosophie und der Rechtfertigung der Geschichte als der Offenbarung der absoluten Vernunft in dem Maße zu einer Herausforderung an die Kritik, als die realpolitischen Zustände zumal in Deutschland aller Vernunft ins Gesicht schlugen. Gerade diese Diskrepanz war ein treibender Faktor der Kritik, auch der durch Autoren wie Strauß, Feuerbach, Bauer, Marx, Stirner, entwickelten Religionskritik, Autoren, die Nietzsche allerdings nur z. T. kannte. Nietzsche selbst versteht sich als der eigentliche Vollstrecker dieser aufklärerischen ideologiekritischen Tradition. Die historische Widerlegung als die endgültige. -Ehemals suchte man zu beweisen, daß es keinen Gott gebe, - heute zeigt man, wie der Glaube, daß es einen Gott gebe, entstehen konnte und wodurch dieser Glaube seine Schwere und Wichtigkeit erhalten hat: dadurch wird ein Gegenbeweis, daß es keinen Gott gebe, überflüssig. (649, 1073) Nicht nur sieht sich also Nietzsche als Vollstrecker einer historischen Tradition, das historische Denken selbst wird ihm zum eigentlichen Instrument, mit dem er Religion und Metaphysik aus den Angeln zu heben glaubte. Der Satz "Gott ist tot", zum ersten Male im 125. Stück der 'Fröhlichen Wissenschaft' geäußert und ein Hauptbestandteil der Lehre Zara-thustras, ist der Schlußstein unter den historischen Selbstauflösungsprozeß der Metaphysik, gehämmert mit den Mitteln des historischen Denkens. Der moderne Nihilismus ist also kein launischer Einfall eines 'Nihilisten', der an nichts glauben kann, sondern die logische Konsequenz des modernen Denkens, der modernen Naturwissenschaften und ihres Wahrheitsbegriffs - wahr ist, was sich im Experiment nachweisen läßt -, des modernen Historismus. Die Welt ist - nach Nietzsche - voll von Symptomen dieses gewußten oder unbewußten l^hilismus: "Am Sterbebette des Christentums. - Die wirklich aktiven Menschen sind jetzt innerlich ohne Christentum, die mäßigeren und betrachtsameren Menschen des geistigen Mittelstandes besitzen nur noch ein zurechtgemachtes, nämlich ein wunderlich vereinfachtes Christentum . .." (649, 1072). Erscheinungsformen des Nihilismus: "Die Arten der Selbstbetäubung. - Im Innersten: 141 nicht wissen, wohinaus? Leere. Versuch, mit Rausch darüber hinwegzukommen ... Versuch, besinnungslos zu arbeiten, als Werkzeug der Wissenschaft ... die Mystik ... die Kunst..." (651, 911) "Das Zugrunde-gehen präsentiert sich als Sich-zugrunde-richten, als ein instinktives Auslesen dessen, was zerstören muß. Symptome dieser Selbstzerstörung der Schlechtweggekommenen: die Selbstvivisektion, die Vergiftung, Berauschung, Romantik, vor allem die instinktive Nötigung zu Handlungen, mit denen man die Mächtigen zu Todfeinden macht (— gleichsam sich seine Henker selbst züchtend), der Wille zur Zerstörung als Wille eines noch tieferen Instinkts, des Instinkts der Selbstzerstörung, des Willens ins Nichts." (ebd., 855) "Der moderne Sozialismus will die weltliche Nebenform des Jesuitismus schaffen: jeder absolutes Werkzeug. Aber der Zweck, das Wozu? ist nicht aufgefunden bisher" (ebd., 428); "... und in praxi bleibt es bei der Falschmünzerei der Geschichte zugunsten des 'guten Menschen' (wie als ob er allein der Fortschritt des Menschen sei) und dem sozialistischen Ideal (d. h. dem Residuum des Christentums und Rousseaus in der entchristlichten Welt)." (ebd., 633) In diesem Zusammenhang möchte ich nicht ausführlicher darauf eingehen, inwieweit Nietzsches Denken selbst noch im Horizont jener Metaphysik bleibt, die er zu erledigen glaubt. Ich schließe mich hier dem Urteil und Hinweis von Heinz Röttges in seiner Arbeit 'Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung' an, wenn er sagt: "Relevant in diesem Zusammenhang scheint mir besonders die Nietzschekritik Heideggers, der wohl die am weitesten reichende Interpretation Nietzsches vorgetragen hat, in den 'Holzwegen' zu sein, wo er den Nihilismus schon in der Fragestellung Nietzsches, nicht erst in der Antwort zu erblicken glaubt..." (662, 30) In der Tat haben Heideggers Aufsatz 'Nietzsches Wort 'Gott ist tot" und seine späteren Nietzsche-Vorlesungen mit großer Klarheit herausgearbeitet, in welchem Maße Nietzsches eigener Denkansatz noch in einer von ihm selbst undurchschauten Form neuzeitlich metaphysisch ist. Die Rede von "Werten", die Lehre vom "Willen zur Macht" und vom "Übermenschen" können geradezu als die Radikalisierung des von Nietzsche analysierten Nihilismus in Form des zur Herrschaft kommenden neuzeitlichen Subjektivismus interpretiert werden. Auch der Begriff "Nihilismus" als Konstatierung der Sinnlosigkeit ist ja orientiert an einem metaphysischen Begriff von 'Sinn'. Der Begriff Nihilismus ist, als Negation von Metaphysik, ein selbst noch metaphysischer Begriff. f '"* Die Metaphysikkritik Nietzsches, sein fundamentaler Zweifel an einem letztlich Wahren, Guten, an den großen 'Idealen' "Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe ..." (649, 1015) schafft aber für eine Generation, die ökonomisch und sozialpsychologisch ohnehin verunsichert, in eine Situation "transzendentaler Obdachlosigkeit" — um einen -frühen Begriff von Georg Lukács aufzunehmen — sich gestoßen sieht, einen Zustand erkenntnistheoretischer Bodenlosigkeit. Dies um so mehr, als sie die Voraussetzungen dieser Kritik selbst nicht mehr durchschaute. 142 2.6.1.4 Ideologiekritische Auflösung des traditionellen Subjektbegriffs Denn auch das Subjekt, jene Kategorie, in der Descartes letztlich eine sichere Erkenntnis verankert weiß und die Hegel zum allein Wahren und Absoluten erklärt, wird bei Nietzsche als Residuum von Metaphysik entlarvt. Noch vor der Psychoanalyse entdeckt er, "daß all unser sogenanntes Bewußtsein ein mehr oder weniger phantastischer Kommentar über einen ungewußten, vielleicht unwißbaren, aber gefühlten Text .. ." ist (649, 1095), daß der Begriff 'Subjekt' "die Fiktion" ist, "als ob viele gleiche Zustände an uns die Wirkung eines Substrats wären .. ." Meine Hypothese: Das Subjekt als Vielheit. (651, 473) JDie Einsicht in die Vielheit und Diffusität der Triebvorgänge im Subjekt, Vor allem aber die Einsicht in die Diskrepanz zwischen der Unbe-wußtheit solcher Triebvorgänge und einer zurechtgemachten Oberflächeninterpretation im Bewußtsein zersetzen die Einheit des Subjektbegriffs und das Vertrauen auf die Möglichkeit einer gänzlich vernunftmäßigen Selbstdurchdringung und Steuerung des Ich. So geht es dem Subjekt-begriff ähnlich wie den transzendent-metaphysischen Begriffen: Das 'Subjekt' ist nur eine Fiktion: es gibt das ego gar nicht, von dem geredet wird, wenn man den Egoismus tadelt, (ebd., 534) Wenn aber an diesem "Ego" die Erkenntnistheorie der modernen Philosophie und Wissenschaft selbst festgemacht war, dann wird diese Subjektkritik zu einem Todesstoß für jene Erkenntnistheorie, jedenfalls für die Sicherheit und Gewißheit, mit der sie glaubte, etabliert zu sein. Eine Konsequenz des Nihilismus scheint zu sein, daß jenes Ich, von dessen 'sicherer' Erkenntnisgrundlage aus sich die Aufklärung in ihrer Destruktion des mittelalterlichen Substanz- und Gottesbegriffs vollzog und das bei Hegel und Goethe als eine in sich vermittelte, mit sich identische und harmonische Totalität gedacht und erfahren wird, unter dem Zugriff der ideologiekritischen Reflexion sich auflöst in eine Vielheit, in ein Bündel undurchschauter Triebe, in einen klaffenden Abgrund zwischen Unbewußtem und Bewußtem. Diese Zerstörung des traditionellen Subjekt-Begriffs aber wird in der erkenntnistheoretischen Reflexionsprosa eines IGottfried Benn, Carl Einstein, Jakob van Hoddis zum zentralen Thema. {Bei van Hoddis und dem Dadaisten Huelsenbeck wird der descartsche Grundsatz geradezu selbst parodiert: DAD AD AD ADA - DIE DAME die ihre alte Größe erreicht hat die Impotenz der Straßenfeger ist skandalös géWorden wer kann sagen ich bin seit er bin und du seid dulce et decorum est pro patria mori oder üb immer Treu und Redlichkeit. .. (733, 204)38 Zur Kritik der Sprachklischees in der Zitatcollage siehe: S. Vietta(lll). 143