Thomas Anz Literatur des Expressionismus Verlag J.B. Metzler Stuttgart • Weimar 132 Literatur und Politik Taugenichts-Aufsatz, in der Neuen Rundschau. Wie bei Mann ist hier Ír ^TSUgTŕe Z™lY10n' der >>Ur(lue11 aller Verzweiflung«, der »Mikrobenherchm Geschwür der aussätzigen, sich krümmenden Menschheit« (Werfel 1917, S. 100). Unter Berufung auf chrisS Traditionen und auf den Anarchismus stellte Werfel der po lisch aktiven Erneuerung der Gesellschaft und des Staates die Enľeue ung des Einzelnen und seines Bewusstseins entgegen - eine Gegenübers^ lung, die Hiller in seiner Replik mit dem Hinweis auf di! TheoWk eines aktiven Christentums nicht gelten ließ neoiogie VrJ?7le4ff7ffien Diskussion^' die Hiller mit Thomas Mann und Franz Werfel führte waren nicht die einzigen Aktivismus-Debatten in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. Doch sind die gegenseitigen Argumente weithin gleich geblieben. Der Aktivismus8 hatte Sne innerexpressionistischen Gegner einmal im Lager derer, die wie Weľ fei der prinzipalen Unvereinbarkeit von Geist und Tat, Dichmn, und Pohtik das Wort redeten und einem organisatorischen Zulzm-mensch uss der >Gelstigen< grundsätzlich misstrauten, zum anderen Sľsich iederílterŤhen LÍnŕn 1rSOnderS Ím UmkreÍS teJtoZ Als sich jedoch in den ersten Revolutionstagen im November 1918 RScwTnbUnd (>>BUnd ZUm Zkl<<) als *» geisdg- Arbeiten im SÄ^rns?^^ tSSJ Pr0grai™ (abSedruckt USPD nľlín l /' 288'281) "nmerhin den republikfreundlichen, SSÄÄTeines s sen und prominenten Teils der Anarchismus: Fahnders 1987 (vor 1910); Berg 1999 (Dada). 4.2 Krieg meAdh VwenLder Dkhter S°S,eich in Flam»™ randěn, als jetzt Kriee SÍKÍw Notwendigkeit der europäischen Katastrophe zu erkennen. Als sittliche Wesen aber - ,a, als solche hatten wir die Heimsuchuni? kommen sehen, mehr noch: auf irgendeine Weise ersehnt; hatten im defstef ľehľw^ ' daß eS S°Jmit der Wek> mk uns— Wdnicht mehr weker den uľerjTtťľ? 'V"' dleSe Wek deS Friedens- I" J ^i™^" -e nichľvón den Ungezlefern des Geistes wie von Maden? Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Z.vilisation? [...] Wie hätte der Künstler, der Soľdat im Krieg 133 ; Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, | die er so satt, so überaus satt hatte! Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was f wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung. Hiervon sagten die Dichter, i nur hiervon (Mann 1914, S. 530ff.). | Als Thomas Mann diese »Gedanken im Krieg« im November 1914 ^ publizierte, konnte er sich des Beifalls der deutschen Öffentlichkeit si-1 eher sein. Über jene legendär gewordene Euphorie, die Anfang August í 1914 das ganze deutsche Volk zu ergreifen schien, schrieb Hugo Ball 1918 f in seinem Pamphlet Zur Kritik der deutschen Intelligenz: »Was man die ; deutsche Mentalität nennt, hat sich berüchtigt gemacht: kaum eine offizielle Persönlichkeit, die sich nicht kompromittierte. Pastoren und Dichter, I Staatsleute und Gelehrte wetteiferten, einen möglichst niedrigen Begriff í von der Nation zu verbreiten« (Ball 1919, S. 2). Der kriegsbegeisterten | Stimmung in diesen Monaten vermochten sich auch unter den jungen 'Künstlern viele nicht zu entziehen. Oskar Kokoschka, Rudolf Leonhard, ' Franz Marc, Ernst Toller meldeten sich als Kriegsfreiwillige. Andere, wie J Alfred Lichtenstein, Ernst Wilhelm Lotz oder Reinhard J. Sorge, drück-, ten feierlich ihre Schicksalsbereitschaft aus. In der Neuen Rundschau ; publizierten die literarisch Arrivierteren ihre Kriegsapologien, neben |; Thomas Mann auch die dem Expressionismus verbundenen Autoren ■j Alfred Kerr, Franz Blei, Robert Musil und Alfred Döblin (alle 1914). , Selbst der für die Wilhelminische Gesellschaft zuvor untragbare, von der Zensur vielfach verfolgte und von der jungen Generation verehrte ' Frank Wedekind schrieb nun patriotische Zeitungsartikel (Kellermann 1915, S. 451-454). Der als kulturrevolutionäres Ereignis gefeierte Krieg schien jene ) Werte zu verwirklichen, die der Expressionismus der Welt des mittler-I weile über vierzigjährigen Friedens so aggressiv entgegengestellt hatte: 1 eine die Isolation des Künstlers überwindende Gemeinschaft, eine die I Dekadenz aufhebende Vitalität und eine den sozial unverbindlichen |; Ästhetizismus verabschiedende politische Verantwortlichkeit. Wilhelm ; Herzog, der mit Heinrich Mann, Franz Pfemfert, Karl Kraus, Annette : Kolb, Johannes R. Becher, Walter Hasenclever, Leonhard Frank, Franz Werfel, Arthur Schnitzler, Ricarda Huch und vielen anderen zu der ;, in ihrer Größe nicht zu unterschätzenden Gruppe von Schriftstellern I gehörte, die sich durch auffälliges Schweigen, offene Kritik oder f zumindest vorsichtige Distanz der allgemeinen Stimmung verweigerte, ) versuchte in seiner von der Kriegszensur bald verbotenen Zeitschrift !, Das Forum im Rahmen einer Entgegnung auf Thomas Manns Aufsatz 1 die Motivationsbasis für den Kriegsenthusiasmus innerhalb der literarischen Intelligenz so zu beschreiben: 134 Literatur und Politik Da brach der Krieg herein. Und aus kultivierten ichsüchtigen Ästheten wurden Politiker, Volksanbeter. Jetzt schwuren sie ihren Individualismus ab und wollten nur noch Masse sein. [...] Der ahnungslose Kulturmensch jedoch war überrascht, staunte und pries die neue, die herrliche, die große Zeit. Zum erstenmal fand er, der sich bisher mit seiner Indifferenz brüstete, einen Zusammenhang mit seinen Mitmenschen, ja, ihm kamen geradezu soziale Ideen, und aus den kleinen Ichs von gestern wurden plötzlich unterwürfige Enthusiasten der Masse, die keinen anderen Ehrgeiz mehr kennen wollten, als sich dem Mann mit der schwieligen Faust zu verbrüdern. [...] Ja, sie brauchten den Krieg als Erlebnis; sie fühlten sich befreit und gereinigt, und berauscht sprechen sie mit Vorliebe vom Segen des Krieges (Herzog 1914/15, S. 554£). Herzog bezieht sich hier zwar auf Autoren vom Typus Thomas Mann, Hofmannsthal oder Borchardt, die durch den Krieg mit einem Male politisiert schienen, doch treffen seine Überlegungen auch die Autoren der expressionistischen Generation, die sich in ihrer antiästhetizisti-schen Position auf großartige Weise bestätigt sahen. In den Phantasien mancher Autoren aus dem Umkreis des Expressionismus war der Krieg schon vor seinem Ausbruch als Alternative zur langweiligen, banalen und aller Vitalität beraubten Ordnung des Kaiserreichs antizipiert worden (s. S. 58ff.). In Georg Heyms oft zitierten Tagebuchaufzeichnungen ist die als Kritik der Gegenwart geäußerte Sehnsucht nach dem Krieg austauschbar mit der nach einer Revolution: Mein Gott - ich ersticke noch in meinem brachliegenden Enthusiasmus in dieser banalen Zeit. Denn ich bedarf gewaltiger äußerer Emotionen, um glücklich zu sein. Ich sehe mich in meinen wachen Phantasieen, immer als einen Danton, oder einen Mann auf der Barrikade, ohne meine Jakobinermütze kann ich mich eigentlich gar nicht denken. Ich hoffe jetzt wenigstens auf einen Krieg. Auch das ist nichts (Heym 1960, Bd. 3, S. 164). Schon gut ein Jahr vorher, im Juli 1910, hatte Heym notiert: Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack von Alltäglichkeit hinterläßt. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln. Was haben wir auch für eine jammervolle Regierung, einen Kaiser, der sich in jedem Zirkus als Harlekin sehen lassen könnte. Staatsmänner, die besser als Spucknapfhalter ihren Zweck erfüllten, denn als Männer, die das Vertrauen des Volkes tragen sollen (ebd., S. 138f.). Auf der Basis einer ähnlichen, ebenfalls von Nietzsche angeregten vitalistischen Dekadenzkritik (s. S. 52) veröffentlichte der spätere Krieg 135 Aktivist Robert Müller 1912 in einem Sonderheft Krieg der frühexpressionistischen Wiener Zeitschrift Der Ruß dessen Reinerlös dem Verein zur Schaffung einer österreichischen Luftflotte zugedacht war, eine Apologie des Krieges. »Der Krieg ist nicht als solcher wünschbar«, hieß es hier einschränkend, »sondern in seinen ethischen Erscheinungen und in seiner Produktivität« (Müller 1912, S. 7). Dies entspricht der Einstellung gegenüber dem realen Krieg, die zwei Jahre später in weiten Teilen der deutschen Intelligenz dominierte. Nicht als politisches, ökonomisches oder militärstrategisches Geschehen, sondern als qualitativ neue Erlebnisquelle wurde der Krieg so begeistert begrüßt (s. S. 59). Wie sich Krieg und Kunst miteinander vereinbaren ließen, zu dieser häufig gestellten Frage hatte wiederum Thomas Mann wichtige Diskussionsanregungen gegeben. Die von ihm konstruierten Gegensätze und Entsprechungen (Kultur vs. Zivilisation = Krieg vs. Friede = Soldat vs. Zivilist = Künstler vs. Zivilisationsliterat) stützten sich unter anderem auf militärästhetische Phänomene wie Organisation, Ordnung, Exaktheit, repräsentativer Schmuck, die in Verbindung mit Begeisterung, Risikobereitschaft und Engagement gemeinsame Merkmale des Soldaten und Künstlers seien. Mit solchen Denkformen stand Thomas Mann auch jenen Expressionismusanhängern fern, die anfangs noch den Krieg als Verbündeten der neuen Kunst hinstellten. Im Umkreis des Expressionismus wurden freilich solche Stellungnahmen schon Anfang 1915 selten. Zu dieser Zeit überschrieb der dieser Bewegung nahe stehende Kunstkritiker Wilhelm Hausenstein in den Weißen Blättern einen Aufsatz mit »Für die Kunst«. Der Leser wusste nach der Lektüre, wie er den Titel zu ergänzen hatte: Gegen den Krieg. »Kein Krieg bringt Kunst hervor«, behauptet Hausenstein hier, und gegen die aufblühende Kriegsliteratur, die in diesen Jahren vor allem in der Lyrik große quantitative Erfolge aufweisen konnte, wendet er ein: »Weshalb ist das meiste, das mit künstlerischem Anspruch aus dem Krieg und für den Krieg gezeichnet und geschrieben wird, so belanglos? [...] Wie kam es, daß ungefähr alle europäischen Dichter und gerade die Dichter Schwaches oder baren Unsinn geschrieben haben, als sie vom Krieg zu reden anfingen - wobei Inhalt und Form gleich unwert waren?« (Hausenstein 1915, S. 40). Besonders mit den Abstraktionstendenzen in der neuen Kunst sei der Krieg unvereinbar: »Der Krieg ist etwas ungeheuer Gegenständliches. Nur die im Gegenständlichen wirken können, sind jetzt Künstler: Militärs, Politiker, Techniker, Organisatoren. Die Kunst, mit der wir bis an die Schwelle des Krieges gegangen waren, war nicht gegenständlich. Wir lebten im Sommer 1914 136 Literatur und Politik in einem Augenblick, in dem die Kunst zu einer unerhört abstrakten Formalität gediehen war« (ebd., S. 46). In Hausensteins Parteinahme für die Kunst und gegen den Krieg fand freilich eine pazifistische Antikriegskunst, wie sie schon ab 1915 für die expressionistische Literaturszene prägend wurde, keine Berücksichtigung. Sie entsprach eher der aktivistischen Kunstauffassung, die sich gerade durch den Krieg besonders legitimiert sah. »Kein einziger Expressionist war Reaktionär. Kein einziger war nicht Anti-Krieg. Kein einziger, der nicht an Brüderschaft und Gemeinschaft glaubte.« Die so pauschal von Iwan Goll (1921, S. 108) rückblickend beschriebene Einstellung der Expressionisten zum Krieg trifft nicht die Sachlage in den ersten Monaten nach seinem Beginn, doch schon ein Jahr danach findet sich in der Tat kaum mehr ein dem Expressionismus nahe stehender Intellektueller, der mit Pro-Kriegsäußerungen an die Öffentlichkeit getreten wäre. Im Gegenteil: Die aktiven Pazifisten stammten während des Ersten Weltkriegs zu weiten Teilen aus der expressionistischen Bewegung, und die expressionistischen Zeitschriften wurden zum wichtigsten Forum intellektueller Kriegsgegnerschaft. Die Kriegsbegeisterung der jungen Künstler hatte oft nur wenige Monate, manchmal wenige Tage angedauert. Desillusioniert wurden sie unter anderem durch die mit tradierten Kriegs- und Heldenvorstellungen nicht mehr übereinstimmende Realität der Materialschlachten, durch die Zerstörungskraft der neuen Kriegstechniken (s. S. 119f), durch das Massensterben an der Front und die vielen Gefallenen gerade auch aus den eigenen Reihen. Im September 1914 schrieb der in Galizien eingesetzte Sanitätsleutnant Georg Trakl nach der Schlacht bei Grodek ein innerhalb der 1914 einsetzendenden Flut von Kriegslyrik (Anz/Vogl 1982) singuläres Gedicht, sein letztes. Mit dem lyrischen Sujet des goldenen Herbstabends kontrastiert dieser Klagegesang in kühnen Bildkombinationen und in Dissonanzen zwischen metrischer wie syntaktischer Fragmentierung und erhabener Rhythmisierung die »schwarze« Szenerie des Todes. Grodek Am Abend tönen die herbstlichen Wälder Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen Und blauen Seen, darüber die Sonne Düster hinrollt; umfängt die Nacht Sterbende Krieger, die wilde Klage Ihrer zerbrochenen Münder. Doch stille sammelt im Weidengrund Krieg 137 Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt | Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle; Alle Straßen münden in schwarze Verwesung. Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain, Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter; Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes. O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre, Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz, Die ungebornen Enkel. (Trakl 1969, Bd. 1, S. 167) Trakl erlitt unter dem Eindruck der Schlacht einen Nervenzusammenbruch, versuchte sich zu erschießen und wurde zur Beobachtung in das Garnisonshospital Krakau eingewiesen. Dort nahm er sich mit ( einer Überdosis Kokain das Leben. Else Lasker-Schüler gedachte seiner in zwei Versen: Georg Trakl Georg Trakl erlag im Krieg von eigener Hand gefällt. So einsam war es in der Welt. Ich hatt ihn lieb. (Lasker-Schüler 1996, Bd. LI, S. 198) Trakls Gedicht erschien 1915, das von Lasker-Schüler 1917. Die Stimmen der Klage und der Trauer, die sich in den Veröffentlichungen der Expressionisten während des Krieges häuften, waren Zeichen für einen Mentalitätswandel, der die anfängliche Euphorie hinter sich ließ. Rudolf Leonhard, Fritz von Unruh, Ernst Toller, der damals noch sehr junge Bertolt Brecht oder Klabund sind bekannte Beispiele für Wandlungen von der Kriegsbegeisterung zur Kriegskritik. Sie vollzogen sich, glaubt man den Erinnerungen der betroffenen Autoren (s. S. 66), häufig in Form schockhafter Schlüsselerlebnisse. Die expressionistischen Aufrufe zur Erneuerung des Menschen und der Gesellschaft I fielen nun zusammen mit den Appellen zur Beendigung des Krieges. '{) Dieser wurde allenfalls noch als notwendiges Durchgangsstadium zu y der erhofften neuen Ära des Friedens und der Mitmenschlichkeit J akzeptiert. In Hasenclevers Revolutionstragödie Antigone von 1917, in der die klassische Tragödienheldin zur Leitfigur des internationalen Pazifismus wird, spricht »ein Mann aus dem Volke« die hoffnungsvol-l\ len Sätze: Paläste wanken. Die Macht ist zu Ende. Wer groß war, stürzt in den Abgrund, Literatur und Politik Die Tore donnern zu. Wer alles besaß, hat alles verloren; Der Knecht im Schweiß seiner Hände Ist reicher als er. Folgt mir! Ich will euch führen. Der Wind steigt aus den Trümmern, Die neue Welt bricht an. (Hasenclever 1990, Bd. II.l, S. 415) Die leitenden, primär ethisch motivierten Ideen der intellektuellen Opposition gegen den Krieg waren Brüderlichkeit, Gemeinschaft und Gewaltlosigkeit. Die Beschwörung einer partei- und klassenübergreifenden >Volksgemeinschaft<, mit der Wilhelm IL im August 1914 auch die vorher staatskritischen Intellektuellen ideologiepolitisch zu integrieren verstand, wurde von den meisten bald als zu national begrenzt empfunden. Sie stellten ihr die ins Internationale ausgeweitete Utopie der Menschheitsverbrüderung gegenüber oder - etwas bescheidener und politisch konkreter - die Vorstellung eines europäischen Völkerbundes. Die antinationalistische Idee der Völkerverständigung und der europäischen Gemeinschaft prägte 1914/15 die anfangs weniger kriegs- als kriegspropagandakritischen Aufsätze in Wilhelm Herzogs Forum, das sich auch in der Auswahl seiner Beiträger und der Themen betont international gab. Programmatisch hob seine europäische Gesinnung auch 1917 das Zeit-Echo unter dem neuen Herausgeber Ludwig Rubiner hervor. Für Franz Pfemferts Aktion war die forcierte Beschäftigung mit Autoren und Kulturen jenseits deutscher Grenzen ebenfalls von programmatisch antinationaler Bedeutung. Sondernummern der Zeitschrift sind Schriftstellern aus Russland, England, Frankreich, Italien, Polen, Belgien und der Tschechoslowakei gewidmet. Der expressionistische Internationalismus hob sich bewusst ab von dem Krieg der Geister (Kellermann 1915), in dem sich parallel zum militärischen Kampf die künstlerische und wissenschaftliche Intelligenz der kriegführenden Länder ihre Gefechte lieferte. Gerhart Hauptmann und Thomas Mann exponierten sich als geistige Repräsentanten Deutschlands. Thomas Mann, der vor dem Krieg in den Zeitschriften des Expressionismus noch mit gewisser Sympathie rechnen konnte und Beiträge in der Aktion und im Forum erscheinen ließ, wurde aufgrund seiner Kriegsessays zu dem vom politischen Expressionismus bevorzugt kritisierten Autor. Hatte er den Krieg zum Kampf der deutschen Kultur gegen die Zivilisation Englands und vor allem Frankreichs hochstilisiert, so stieß er damit in den expressionistischen Zeitschriften auf entschiedene Kritik. In Absetzung von den seit Kriegsbeginn in Deutschland üblichen Haßgesängen (Ernst Lis- Krieg 139 sauer) auf die Feindesländer veröffentlichte das frankophile Forum seit Dezember 1914 in einer gesonderten Rubrik »Dokumente der Liebe«, darunter den damals Aufsehen erregenden Aufsatz »Au-dessus de la mélee« des Hauptmann- und Thomas Mann-Gegenspielers Romain Rolland. In den Weißen Blättern erschien im November 1915 Heinrich Manns Zola-Essay, ein gegenüber der Zensur notdürftig getarnter profranzösischer Angriff auf den Wilhelminischen Staat und seine Kriegspolitik sowie auf jene Schriftsteller (besonders seinen Bruder), die diesen Krieg rechtfertigten. ; Die Zensur setzte dem Spielraum expressionistischer Opposition gegen den Krieg enge Grenzen. Sie verfälschte damit das Bild der bestehenden intellektuellen Kräfteverhältnisse zugunsten der kriegsapologetischen Publizistik und - was den Expressionismus betrifft -einer politikabstinenten Kunst, wie sie vor allem von Herwarth Waldens Sturm gepflegt wurde. Hinweise auf das Kriegsgeschehen finden sich hier selten. Regelmäßig erschienen ^ff%$ gefallene Dichter und Mitarbeiter (vgl. Kolinsky 1970, S. 9, «tt.). Die politisch engagierten Zeitschriften des Expressionismus hatten es, wenn" sie sich nichfwie Alfred Kerrs Pan der Geist< und >Seele< die politischen Gewaltverhältnisse als Resultat der Zivilisation beziehungsweise des technischen Zeitalters angriffen. Die Geschichte der deutschen Exilliteratur während des Ersten Weltkrieges ist noch nicht geschrieben worden. Die Internationale Krieg 141 der exilierten Kriegsgegner (in ihrem Vaterland als >vaterlandslos< diffamiert) hatte in der neutralen Schweiz ihren Mittelpunkt. Nach dem Vorbild Schickeies verlegte Ludwig Rubiner als neuer Herausgeber das Zeit-Echo, das nach Kriegsausbruch als »Kriegstagebuch der Künstler« (Untertitel des 1. Jahrgangs) essayistische, dichterische und zeichnerische Stellungnahmen von Künstlern verschiedenster Richtungen veröffentlichte, mit dem 3. Jahrgang (Mai 1917) von München nach Bern. Er gab dieser Zeitschrift damit ein neues, dezidiert pazifistisches Profil. In der Schweiz lebte schon vor 1914 Hermann Hesse, der - ebenfalls nach einer kurzen patriotischen Begeisterungsphase - während des Kriegs mit pazifistischen Schriften hervortrat (Koester 1977, S. 305ff.). In der Schweiz lebten auch Iwan Goll und Ernst Bloch. Ende 1916 ließen sich in Zürich nieder: Albert Ehrenstein, Leonhard Frank, Ferdinand Hardekopf sowie die Frühdadaisten Richard Huelsenbeck, Hugo Ball und seine Frau Emmy Hennings. Zeitweilig hielten sich in der Schweiz auch Stefan Zweig, Franz Werfel, Alfred Wolfenstein, Else Lasker-Schüler, Hugo Kersten und Walter Serner auf. Vor allem über Romain Rolland knüpfte die oppositionelle deutsche Intelligenz in der Schweiz internationale Kontakte. So wenig wie im Schweizer Exil kam es in Deutschland zu einem tragenden organisatorischen Zusammenschluss der Kriegsgegner, obwohl es an entsprechenden Versuchen nicht fehlte. Auf Walter Hasenclevers Anregung hin versammelte sich zur Jahreswende 1914/15 ein Konzil der Kriegsgegner, an dem unter anderem Martin Buber, Albert Ehrenstein, Rudolf Leonhard, Kurt Pinthus und Paul Zech teilgenommen haben sollen (Kolinsky 1970, S. 12f). Franz Pfemfert sammelte 1915 unter dem Risiko der Illegalität Freunde und Mitarbeiter seiner Zeitschrift zur Antinationalen Sozialisten Partei Gruppe Deutschland, die allerdings erst mit der Novemberrevolution 1918 politisch offen hervortrat. Kurt Hiller schließlich gründete im August 1917 seinen ebenfalls kriegsgegnerischen >Bund zum Zieh. Das alles waren jedoch Organisationsversuche, die partikular und wenig wirksam blieben. Die gegen Ende des Krieges zunehmenden und in Revolutionsaufrufe einmündenden Künstlerproteste gruppierten sich um einzelne Zeitschriften und Jahrbücher, deren Denkformen zu heterogen waren, um eine organisierte oppositionelle Einheit zuzulassen. Krieg: Koester 1977; Vondung 1980; Körte 1981 (Lyrik); Stark 1982; Anz/ Vogl 1982 (Anthologie der Kriegslyrik); Krull 1984, S. 71-83 (Erzähltexte); Maier 1990 (Kriegslyrik August Stramms); Anz 1996; Anglet 1997 (Kriegslyrik); Roland 1997 und 1999 (deutsche literarische >Kriegskolonie< in Belgien 1914-1918); Schneider/Schumann 2000 (grundlegende Sammlung von Aufsätzen über 14 Autoren); Vogl 2000a.