Peter Schneider Lenz Eine Erzählung -...... mt.....■""■r" i SCHNE $0H j Rotbuch Verlag Berlin nicht genug. »Alles schön und gut«, hielt man ihm entgegen, »aber warum überläßt du's nicht uns, ob das ein Hinderungsgrund ist? Warum probierst du's nicht aus, wenn wir es mit dir probieren wollen? Von uns erfährst du schon rechtzeitig, wenn wir dich nicht mehr brauchen können.« Lenz sprach mit B. darüber. B. riet ihm zu bleiben. »Warum probierst du's nicht aus«, wiederholte er, »warum kommst du jetzt mit irgendwelchen eingebildeten Pflichten, wenn du jetzt Gelegenheit hast, vielleicht aus Lust eine politische Arbeit zu machen, die du vorher nur als Notwendigkeit und Zwang empfunden hast?« Am anderen Morgen verabschiedete sich B., Lenz versprach, ihm zu schreiben. Zwischen den Bergen war es kälter als in Rom. Lenz merkte jetzt erst, daß es Herbst geworden war. Immer häufiger wurde er abends gefragt, ob er in seinen leichten Sachen nicht friere. Von überall wurden ihm wärmere Sachen angeboten. Von dem einen erhielt er einen Mantel, von dem anderen einen Pullover, in kurzer Zeit war er neu eingekleidet und nur noch durch seine holpernde Sprache von seinen neuen Bekannten zu unterscheiden. Er ließ sich anstecken von der Unbefangenheit, mit der sie mit ihm und miteinander umgingen. Er gewöhnte sich daran, daß jeder jeden anfaßte, wenn es ihm in den Sinn kam, ohne daß es sich dabei um irgendeine Anspielung gehandelt hätte. Es wurde ihm selbstverständlich, daß man sich für seine Zweifel und Unsicherheiten ebenso interessierte wie für seine Standpunkte. Da er mit den meisten ohne weiteres über L., über einen Traum, über eine Angst sprechen konnte, erschien es ihm nicht mehr so wichtig, darüber zu sprechen. Er beobachtete, daß die persönlichen Konflikte oft von selber, ohne daß es eines Planes bedurft hätte, gelöst wurden. Ein Mädchen, das besonders steif wirkte und selten den Mund aufmachte, wurde von ihren Bekannten ständig in spaßhafte Ringkämpfe verwickelt und herumgestoßen, bis sie sich wehrte und protestierte. Später erfuhr Lenz, sie war von ihrem Vater 82 vergewaltigt und auf einer katholischen Mädchenschule erzogen worden. Die meisten ihrer Bekannten wußten nichts davon, sie verhielten sich aber so, als hätten sie es darauf abgesehen, an Stelle ihres Vaters von ihr verprügelt zu werden. Ein Stotterer, der eine unglückselige Liebe zu unaussprechbaren Wörtern hatte, wurde oft, wenn er sich verhaspelte, unterbrochen. Man tat nicht so, als würde man sein Stottern nicht bemerken, man störte sich daran, machte ihn auch nach, bis er das Wort entweder herausbrachte oder einen Wutausbruch bekam. Das alles ergab sich ohne Verabredung, ohne Plan, es funktionierte so. Oft nach den Versammlungen wurden die Gitarren geholt, und wenn keine aufzutreiben waren, ein Rhythmus mit den Händen auf Tische und Bänke geschlagen, auf den alle zu tanzen begannen. Jemand machte das Licht aus, in der Dunkelheit ergriff einer das Mikrophon und begann zu ächzen und zu stöhnen, dann zu schimpfen und zu schreien. Durch Zurufe aus dem Dunkeln wurde er angefeuert, er improvisierte, halb ernst, halb spaßhaft, eine Beichte über die Untaten, die er als gehorsamer Sohn seiner Eltern begangen hatte, er ging über zu einer Beschimpfung der Zuhörer, er wurde beschimpft, bis jemand das Licht anmachte und alle einen Augenblick lang erstaunt und unsicher dastanden. Lenz blieb. Er schrieb keine Briefe und telefonierte nicht mehr nach Deutschland. Er sehnte sich nirgends zurück und nirgendwo hin. Er lernte wie ein Kind sprechen, durch Nachahmung und Beobachtung. Es fiel nicht mehr auf, wenn er nach einem Wort fragte, das er nicht verstand. Er ging auf die Versammlungen und redete dort, als gehörte er dazu. Da er die Bedürfnisse der Studenten und der Arbeiter, die er kennenlernte, jeden Tag offen vor sich sah, zweifelte er nicht an den Begriffen, mit denen er sie ausdrückte. Er las wieder viel. Er beteiligte sich daran, die Arbeit der Studenten aus der Universität hinauszutragen in die Stadtviertel und Fabriken, er machte sich Feinde. Manchmal, wenn er aus seinem Fenster 83 hinaus sah auf die Berge, erinnerte er sich mit einer gewissen Unruhe an ein Kunststück, das ihm als Kind Eindruck gemacht hatte. Ein Seiltänzer balancierte auf einem Drahtseil, das von einem Haus zum Kirchturm gespannt war, mit einem langen Stab in den Händen bergan. Es ging ihm gut, wenn er durch die paar Straßen des Zentrums ging. Er sah alles und wurde gesehen. Jeden Tag wurden ihm von dem nächstbesten Bekannten diese kleinen Veränderungen mitgeteilt, die in Deutschland nur eine lang vertraute Geliebte an ihm bemerkte: wie er heute aussehe, daß ihm dieser Pullover nicht stehe, was mit ihm los sei, er wirke diesmal so lustlos. Jede Regung wurde auf frischer Tat ertappt und zur Rede gestellt, er lernte, dieselbe Aufmerksamkeit gegenüber seinen neuen Freunden zu entwickeln. Er wunderte sich, wie das möglich war: solange er allein in Italien war, lief er mit dem Gefühl herum, keine einzige Frau auf der Welt von sich überzeugen zu können, und solange er dieses Gefühl hatte, war es auch so - während er jetzt das Gefühl hatte, jede Frau, die ihm gefiel, herumkriegen zu können, und seit er dieses Gefühl hatte, stimmte das auch. Er strengte sich an, die Erwartungen, die an ihn heran getragen wurden, zu erfüllen. Er fühlte deutlich, daß er tatsächlich Pflichten übernommen hatte und daß der Haß über ein eigenes Versagen sein eigener Haß war. Nicht weil er Angst hatte, die anderen würden ihn heruntermachen, sondern weil sie traurig und enttäuscht gewesen wären. Es gab keinen Grund, irgendetwas von sich zu verstecken. Vielleicht erlebte er deswegen ganz unerwartet Szenen aus seiner Kindheit wieder. Einmal wurde er morgens aus dem Bett geholt, um einen Fiat anschieben zu helfen, der nicht anspringen wollte. Zu zweit mußten sie den Wagen mehrmals anschieben, bis er schließlich ruckend weiterfuhr. Die unerwartete Anstrengung, noch fast im Halbschlaf, erschöpfte ihn so, daß ihm schwindlig wurde und er sich auf die Türschwelle setzen mußte. Wie er dasaß, war wieder dieser Riß da, so stark, daß er unmöglich nur von dieser Anstrengung herrühren konnte. Lenz fiel und fiel unaufhaltsam, durch viele Jahre zurück. Als er jetzt aus halbgeschlossenen Augen zu den Bergen hin-aufschaute, die scharf und kalt in der Sonne standen, sah er die Berge wieder, zwischen denen er aufgewachsen war. Es war Krieg. Sein zehnjähriger Freund zeigte ihm, wie dort oben seine Mutter mit einem Mann, der nicht sein Vater war, im Geröll spazieren ging. Er hielt ihm das Fernglas an die Augen und beschrieb ihm so genau, was sich dort oben abspielte, bis er die Gestalten seiner Mutter und des fremden Mannes zu erkennen glaubte. Er spürte eine unerträgliche Angst, daß seine Mutter ihn mit diesem fremden Mann verließ. Dann sah er in rascher Folge andere Bilder, die mit dem ersten zusammenhingen. Er erinnerte sich, wie er als achtjähriger Junge mit seinem Freund nächtelang durch die Wälder und Dörfer der Umgegend streifte und erst in den frühen Morgenstunden nachhause kam. Eines Morgens, als es schon hell wurde, hatte ihn seine Mutter im Nachthemd und mit einem Stock erwartet. Sie hatte ihn blutig geschlagen und am nächsten Morgenwar sie weggefahren zu seinem Vater, der in einer anderen Stadt lebte, und war dort gestorben. Das vor Wut und Ratlosigkeit verzerrte Gesicht seiner Mutter war das letzte, was er von ihr gesehen hatte. Die Nachricht von ihrem Tod hatte er gleichgültig aufgenommen. Erst viel später spürte er den Riß, den es ihm damals gegeben hatte. Dann fiel ihm ein, wie er Jahre später verzweifelt durch die Wälder gerannt war auf der Suche nach irgendwas, was er nicht kannte. Ihm fiel das Gefühl des Triumphes ein, das er hatte, wenn er nachts und verspätet zu L. zurückkam und sie wütend aus dem Haus lief. Es war ihm, als habe er sie immer wieder in Situationen gebracht, die sie verletzten, als wollte er beweisen, daß es ihm nichts ausmachte, der Mörder seiner Mutter zu sein. Am Abend, als Lenz seinen Freunden in Stichworten von seinem Erlebnis erzählte, kam es ihm nicht mehr so wichtig vor. Sie hörten ihm neugierig zu. Was er erzählte, erschien ihnen 84 85 nicht seltsam oder abwegig, aber durch das Erzählen rückte alles wieder weit weg. Er merkte, daß er das Erlebnis, das er beschrieb, dadurch hinter sich ließ, daß er es beschrieb. Lenz befreundete sich mit einem Arbeiter, den er an einem der ersten Tage kennengelernt hatte. Er wurde häufig von Roberto zum Essen eingeladen, er begleitete ihn auf seinen Gängen durch die Stadt, am Nachmittag oder am Samstag vormittag ging er mit zum Einkaufen, zu Besuchen, zu Versammlungen. Lenz fiel auf, daß sich Robertos Wohnung in allem von den Wohnungen unterschied, in denen Lenz verkehrte. Die Möbel waren nicht teurer, aber sie wurden peinlich sauber gehalten, jedes Möbelstück hatte einen festen Platz. Lenz fiel ein, daß der Stuhl, den er vor Wochen einmal neben einen Schrank gestellt hatte, um hinaufzulangen, noch immer neben dem Schrank stand. Weder ihm noch einem der Studenten, mit denen er zusammenwohnte, war in der Zwischenzeit eingefallen, den Stuhl an seinen alten Platz zurückzustellen. In Robertos Wohnung gab es keinen Wäscheberg im Badezimmer und keinen fünf Tage alten Abwasch in der Küche. Die Mahlzeiten wurden nicht improvisiert, und wenn Lenz Robertos Frau beim Einkauf begleitete, bemerkte er, daß Anna zwar meistens möglichst billig einkaufte, aber manchmal nahm sie einen besonders teuren Wein oder ein besonders gutes Stück Fleisch. Lenz fiel ein, daß seine Studentenfreunde zwar ebenfalls teure und billige Sachen einkauften, aber dieser Wechsel war ziemlich absichtslos, was sie essen wollten, fiel ihnen in dem Moment ein, wo sie die Ware sahen. Die Rechnung erstaunte sie nicht, weil sie sowieso davon ausgingen, daß die Lebensmittelkonzerne die Waren zu überhöhten Preisen verkauften. Eines Abends fragte ihn Anna, ob es ihm schmecke. Lenz antwortete mit den üblichen Redensarten, aber plötzlich fand er diese Achtlosigkeit verletzend. Sie bedeutete, daß Anna ihre Phantasie umsonst angestrengt hatte. Er überlegte, warum er nicht sagen konnte, ob ihm diese Art das Fleisch zuzubereiten, lieber war als eine andere, warum ihm das wie eine überflüs- sige Floskel vorgekommen wäre. Er hatte sich abgewöhnt, auf das Essen zu achten, weil die übertriebene Bedeutung, die das Essen im Bürgertum hatte, tatsächlich eine Achtlosigkeit gegenüber anderen, wichtigeren Dingen darstellte. Eine ähnliche Erfahrung machte Lenz mit seinem Verhältnis zu Büchern. Roberto zeigte ihm seine Lieblingsbücher, bei jedem fragte er, ob Lenz es kenne. Kannte er es nicht, so drängte er Lenz, es mitzunehmen, er müsse es unbedingt lesen. Lenz gestand, daß er längere Zeit kaum gelesen habe, jedenfalls keine Romane. Ob Lenz nicht genug Zeit dafür habe. Lenz erwiderte, er habe früher zuviel gelesen. Wie man denn zuviel lesen könne, f ragte Roberto, das verstünde er nicht. Häufig begleitete Lenz die beiden, wenn sie zu einem Freund oder zu einer Versammlung gingen. An jeder Straßenecke lief ihnen jemand über den Weg, den sie grüßten, sie kannten den Tabakhändler, den Kellner, die Frauen, die ihre Einkaufstaschen nachhause schleppten, ständig blieben sie stehen und wechselten ein paar Worte. Von jedem wußten sie, mit welcher Partei er sympathisierte, was er vor zehn Jahren gemacht hatte, sie nahmen jede Gelegenheit wahr, ihre Meinungen auszutauschen. Lenz fragte Roberto, ob die Leute wüßten, daß er Kommunist sei und daß der Staat mehrere Prozesse gegen ihn führte, wegen der Anstiftung zu einer Eisenbahnblockade, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Rädelsführerschaft bei einer Fabrikbesetzung. »Natürlich wissen sie es«, antwortete Roberto, »es stand ja alles in der Zeitung drin. Aber ich bin hier aufgewachsen, mich kennt jeder, ich habe mich auch schon vor diesen Aktionen für meine Kollegen eingesetzt, und sie wissen, daß ich einer von ihnen bin. Auch wenn jetzt viele mit meinen Ansichten und mit manchem, was ich getan habe, nicht einverstanden sind, sie sagen sich, irgend etwas wird der sich schon dabei gedacht haben. Einer, den man solange kennt, kann nicht von einem Tag auf den anderen verrückt geworden sein.« Auf den Arbeiterversammlungen wurde hauptsächlich über die täglichen Vorkommnisse im Betrieb gesprochen. Lenz wunderte sich darüber, mit welcher Wut und Rücksichtslosig- 86 87 keit die Arbeiter immer wieder Entscheidungen der Gewerkschaften kritisierten, ohne daß einer der Begriffe fiel, die die Studenten propagierten, »langer Arm des Unternehmers«, und dergleichen. Lenz fragte seinen Freund, wie er diese Angriffe mit seiner Funktion als Ortsfunktionär der kommunistischen Gewerkschaft vereinbaren könne. »Natürlich bleibe ich in der Gewerkschaft, solange es überhaupt geht«, sagte er, »warum soll ich ihnen und euch den Gefallen tun, freiwillig das Feld zu räumen. Natürlich habe ich hier mehr Schwierigkeiten als in euren Gruppen, aber ich habe auch mehr Einfluß. Wir können euch brauchen: ihr könnt uns Dinge erklären, die wir nicht verstehen, ihr habt uns Kampfformen vorgemacht, die wir schon fast vergessen hatten, ihr könnt uns helfen, Flugblätter zu schreiben, die ohne eure Hilfe nicht zustande kämen. Aber wie lange werdet ihr dabei bleiben? Eure Begeisterung für unsere Sache, woher kommt die? Ihr habt nicht die gleichen Probleme wie wir, weil ihr nicht dieselbe Arbeit machen müßt wie wir. Solange wir euren Ideen folgen, geht alles gut. Was wird aber, wenn es uns nicht mehr nützt, euren Ideen zu folgen, wenn wir euch enttäuschen müssen? Wenn wir uns über einen Erfolg freuen, der euch zu geringfügig erscheint? Wir kennen unsere Interessen, weil wir sie täglich verteidigen müssen. Aber eure Interessen, kennen wir die? Kennt ihr sie? Worunter leidet denn ihr? Was wollt ihr für euch? Das werden wir schon merken, aber solange ich das nicht weiß, warum soll ich euch mehr trauen als einem Gewerkschaftsfunktionär, von dem ich mindestens weiß, daß er seinen Posten behalten will? Ihr gefallt mir, weil ihr mutig seid. Aber ihr verbergt irgendwas.« Eines Morgens, als Lenz in seinem Cafe saß, um einen Capuc-cino zu trinken, wollte er den Kellner nach einem Kaffeelöffel fragen, den er vergessen hatte. Das Wort für Löffel fiel ihm nicht ein. Er war schon aufgestanden, um dem Kellner nachzulaufen. Aber dann erinnerte er sich, daß er schon mehrmals nach dem entsprechenden Wort gefragt hatte und daß er es jedesmal wieder vergessen hatte. Die Vorstellung, dem Kellner durch Zeichen verständlich machen zu müssen, was er wollte, war ihm in diesem Augenblick so widerwärtig, daß er zu seinem Platz zurückkehrte und mißmutig den ungezuckerten Capuccino herunterschlürfte. Er konnte einigermaßen fließend reden, in den zehn Stunden, die er täglich mit den Studenten zusammen war, hatte er gelernt, die schwierigsten Dinge auf italienisch zu sagen, ohne zu stocken, konnte er über Entfremdung, doppelte Ausbeutung, sexuelle Repression reden, aber das Wort für Kaffeelöffel wußte er immer noch nicht. Plötzlich war ihm, als säße er neben sich und sähe sich da sitzen. Die braunen Cordhosen gehörten dem Stotterer Massimo, den Mantel hatte er von einem Marxisten-Leninisten, mit dem er immer häufiger Streit bekam, den Pullover hatte eines Abends sein Arbeiterfreund aus dem Schrank geholt. »Was machst du bloß in all diesen fremden Sachen?«, fragte Lenz den, der am Tisch saß und ungezuckerten Capuccino trank. Mittags, auf dem Weg zu einer Versammlung, wurde Lenz von zwei Herren in Anzügen angesprochen. Ob er Lenz heiße. Als Lenz die Herren nach ihrer Absicht fragen wollte, hakten sie ihn links und rechts unter. Mehr fliegend als laufend landete er in einer Seitenstraße, in einem Auto. Es handelte sich um seine Aufenthaltsgenehmigung, die Sache sei gleich erledigt. Auf der Fahrt zum Polizeipräsidium stellten die beiden Herren Lenz Fragen. Sie wußten, wer seine Freunde waren, auf welchen Versammlungen er gewesen war, welche Ansichten er geäußert hatte. Auf dem Polizeipräsidium ließ man ihn einige Stunden warten. Dann kam ein anderer Herr und legte Lenz ein mit einem Siegel versehenes Schriftstück vor. Es wurde Lenz nicht gestattet, seine Sachen zu holen oder zu telefonieren. Er wurde zur Grenze gebracht. Auf der Fahrt redete niemand mit ihm, er machte auch keinen Versuch dazu. Sie fuhren in das Gebirge, Lenz sah einen Zug nach Italien herunterfahren. Bei der raschen Fahrt durch die vielen Kurven wurde ihm schlecht. Er mußte aussteigen, sich übergeben. Danach war 88 89 er plötzlich ganz klar im Kopf. Er sah ruhig hinaus, die Berge waren ihm gleichgültig, keine Erinnerung, keine Spur von Angst. Ein paar Tage später lief er mit B. durch die alten Straßen. Was er sah, machte ihn ungeduldig. Immer noch saßen die gleichen Leute in den gleichen Cafes, immer noch die gleichen Lieder aus den Boutiquen, immer noch die gleichen Schlagzeilen in den gleichen Zeitungen, das Hochhaus des Verlegers stand immer noch. Und sonst? Die Betriebsgruppe interpretierte immer noch am gleichen Text herum, erfuhr Lenz, der Student Dieter hatte immer noch seinen strahlenden Blick, immer noch gründeten Studenten neue Parteien. »Wie und warum soll sich das denn alles verändert haben«, fragte B., »etwa deswegen, weil du nicht da warst?« Später merkte Lenz, daß er wieder zu schnell gewesen war. Der Student Dieter hatte es satt bekommen, nachts Uhren zu reparieren, hatte im Betrieb gekündigt und bereitete sein Examen vor. War das was Neues ? Immerhin. Wolf gang hatte von einem Tag auf den andern die Koffer gepackt und ohne ein Wort der Erklärung das Zimmer in seiner Wohngemeinschaft aufgegeben. Er hatte Spaß daran, sich eine eigene Wohnung einzurichten. Das Paar, das seit drei Jahren in Trennung lebte, hatte sich getrennt. Neue Gruppen waren entstanden, die auch mal Musik zusammen hörten. Lenz wurde schon neidisch, daß diese Veränderungen ohne ihn stattgefunden hatten. B. erzählte Lenz dann, er müsse von zuhause ausziehen, er habe keine Lust, Lenz das jetzt zu erklären, jedenfalls wolle er verreisen, weit weg, am liebsten nach Lateinamerika. Was Lenz denn jetzt tun wolle. »Dableiben«, erwiderte Lenz. 9° Peter Schneider,geboren 1940 in Lübedc,aufgewachsen inGrainau und Freiburg. Lebt seit 1961 in Westberlin. Er veröffentlichte zahlreiche Aufsätze (vor allem im »Kursbuch«) und schrieb - mit Dieter Bitterli - Fernsehfeatures für den WDR, »Schulkampf«, »Frau Elisabeth Markquardt - Geschichte eines Lebens, das in den Geschichtsbüchern nicht vorkommt« und »Männeremanzipation«. 1970 erschien sein Band »Ansprachen - Reden, Notizen, Gedichte«.