Ullrich sprang aus dem Bett und stellte das Radio ab. Er ging zum offenen Fenster. Diese Schweine, dachte er, und dann wütend: Sind wir hier in Persien. Wieso, fragte sie. Er antwortete nicht. Am Fenster stehend, spürte er den kühlen, nächtlichen Wind. Gibt es heute noch ein Gewitter, fragte sie. Ich glaube nicht. Schade, sagte sie, ich mag nämlich Gewitter, wenn ich im Bett liege. Er hatte plötzlich den Wunsch, allein zu sein. Kommst du, rief sie vom Bett aus. Er sah, als er sich umdrehte, auf dem Schreibtisch das leere Blatt. Darauf stand unterstrichen: Einleitung. Nichts weiter. r 7 Die Kugel hatte die rechte Großhirnhälfte durchschlagen. In seinem Kopf habe man ein deformiertes Mittelmantelgeschoß gefunden. Da die Schwärzung fehlte, sei nicht zu ermitteln gewesen, aus welcher Entfernung Ohnesorg getroffen wurde. Man gehe jedoch davon aus, daß der Schuß auf den Studenten aus nicht allzu großer Entfernung abgegeben worden sei. Ullrich legte die Zeitung auf den Tisch und sah die Leopoldstraße hinunter. Das wird heute wieder heiß, sagte die Kellnerin, als sie Ullrich die Tasse Kaffee auf den Tisch stellte. Er überlegte, an welchem Tag der Schah in München gewesen war. Am Nebentisch lachte eine Frau, die ein Butterhörnchen in der Hand hielt und zwei breite Goldringe am Zeigefinger trug. Der Mann neben ihr hatte seine Hand auf ihren Rücken gelegt und redete auf sie ein. Ullrich sah die Fotos in der Zeitung. Der Student am Boden liegend. Über ihn gebeugt eine junge Frau in einem weiten schwarzen Abendkleid. Sie hält seinen Kopf. Am Hinterkopf und auf dem Boden: Blut. Daneben ein anderes Foto, drei Polizisten schlagen und treten auf einen am Boden liegenden Demonstranten ein, der sein Gesicht mit den Händen zu schützen versucht. Und dann das Foto von dem lachenden Schah und Farah Diba, die eine kleine Krone im Haar trägt. Ullrich hörte das kreischende Anfahren eines Autos und dann wieder dieses Lachen vom Nebentisch. Zahlen, schrie er, zahlen. Die Kellnerin sah ihn verwundert an, stellte das Tablett auf einem 38 leeren Tisch ab und sagte dabei: Ja, ja, sofort. Er trank seinen Kaffee nicht aus. Er stand auf. Ullrich hörte seine Schritte laut auf dem Pflaster der Leopoldstraße. 8 Er zögerte, dann biß er zu. Zwei-, drei-, viermal. Vergeblich. Ullrich zog seinen Daumennagel mit dem sich spreizenden Nietnagel am Hemd hoch. Jedesmal, wenn er sich am Hemd verhakte, kam dieser kleine, stechende Schmerz. Nadelstiche, dachte Ullrich und zog den Daumennagel erneut über den Hemdenstoff, so daß sich der Nietnagel spreizte und jetzt zwischen Nagel und Nagelbett hervorragte. Nochmals versuchte er, ihn mit den Zähnen abzubeißen. Aber dann bemerkte er, wie ihn sein Nachbar irritiert beobachtete. Ullrich blickte wieder in das Buch und, an dem Nietnagel pulend, versuchte er, sich zu konzentrieren. Sie hatten sich in einem Café in der Nähe der Uni getroffen. Plötzlich sah sie ihn an. Er hatte gerade gefragt, ob sie mal wieder etwas von ihrer Schwester aus Bayreuth gehört habe. Ich bin schwanger, sagte sie, und noch bevor er fragen konnte: Ganz sicher. Ich war beim Arzt. Er versuchte wieder, den Nietnagel abzubeißen. Aber der Riß vertiefte sich nur. Mit dem Finger die Zeilen nachfahrend, las er zum drittenmal einen Absatz. Dichterisch war diese Periode sehr unproduktiv, schon weil Hölderlin noch im Bereich des «Abstrakten» angesiedelt blieb, wo er sich auf die Dauer keineswegs wohlfühlte. Ullrich strich die Stelle im Buch an, obwohl das verboten war und machte am Rand ein Ausrufungszeichen. Gleich nach der Demonstration hatte er sich das Buch gekauft und es in der folgenden Nacht gelesen. Persien, Modell eines Entwicklungslandes. Lothar hatte den Titel am nächsten Morgen gelesen, als Ullrich ihm den Umschlag des Taschenbuches hinhielt und behauptete, er sei überhaupt nicht müde, im Gegenteil. Lothar sagte: Mensch, dein Referat, das schaffst du nie mehr. Du solltest lieber was über Hölderlin lesen. Ja, sagte Ullrich, aber ihm sei heute nacht einiges klar geworden. Ungeheuerlich. Daß es uns hier so gut geht, das liegt daran, daß es den unterentwickelten Ländern so dreckig geht. Zum Beispiel Persien, 39