. . . forderte Tucholsky einst, 1932, in einem «Avis an meinen Verleger». Die Forderung ist inzwischen eingelöst. Man spart viel Geld beim Kauf von Taschenbüchern. Und wird das Eingesparte gut gespart, dann zahlt die Bank oder Sparkasse den weiteren Bucherwerb: Für die Jahreszinsen eines einzigen 100-Mark-Pfandbriefs kann man sich zwei Taschenbücher kaufen. Pfandbrief und Kommunalobligation Meistgekaufte deutsche Wertpapiere - hoher Zinsertrag - schon ab 100 DM bei allen Banken und Sparkassen Verbriefte: P ; Sicherheit 10 BLITZ BLITZ BLITZ dpa 125 al Attentat auf Rudi Dutschke Gegen 16.35 wurde der Chefideologe des SDS auf dem Kurfürstendamm niedergeschossen. Er schwebt in Lebensgefahr. Der Attentäter hat sich in einem Haus verbarrikadiert. Das Haus wurde von der Polizei umstellt, dpa 11. 4. 68 16.50 Weitere Meldungen über das Attentat im Anschluß an diese Nachrichten, sagte der Rundfunksprecher. Und nun Kurznachrichten. Ullrich sprang auf. Einen Augenblick stand er im Zimmer und wußte nicht, was er zuerst tun sollte, das Licht oder das Radio ausschalten. Dann stürzte er hinaus. Die Treppe hinunterlaufend, zog er seine Parka an. ANLEITUNG FÜR DEMONSTRANTEN (Bitte nicht wegwerfen, an andere Demonstranten weitergeben!) 1. Feste Ketten bilden! Diese zu Blöcken zusammenschließen! Nur in der Masse sind wir stark! Zeitweilig isolierte und abgesplitterte Gruppen müssen sofort wieder Anschluß suchen! Das Springer-Haus schiebt sich wie ein Keil in das Zentrum der Hamburger Innenstadt. Dieser Keil zeigt auf die Börse, die unmittelbar an das Rathaus anschließt. An der Spitze dieses Gebäudekeils steht das dreizehnstöckige Hochhaus, in dem die Büros der Konzernleitung untergebracht sind. Auf dem Dach dieses Hauses weht, wenn Axel Cäsar Springer in der Stadt ist, die Fahne der Bundesrepublik. An das Hochhaus anschließend liegt ein Gebäudetrakt mit den Redaktionen, dahinter die Druckereien, in denen ein Teil der norddeutschen Ausgabe von Bild gedruckt wird. Hinter riesigen Fenstern, gut sichtbar, stehen die Rotationsmaschinen. Das umliegende Viertel ist zum Sanierungsgebiet erklärt. Einige Straßenzüge mit alten Fachwerkhäusern sind bereits abgerissen worden. Durch die Breschen hat man einen freien Durchblick bis zur Landesjustizverwaltung und bis zum Telegrafenamt. Die Ausfallstraßen, über die täglich die LKW-Konvois mit den Ausgaben von Bild fahren müssen, sind die Kaiser-Wilhelm-Straße und die Speckstraße. Die Kaiser-Wilhelm-Straße, eine breite, kopfsteingepflasterte Straße, erweitert sich vor dem Springerhochhaus zu ei- 133 nem Platz. Die schmale Speckstraße, mit Kopfsteinen gepflastert, wird zur einen Seite von alten Backsteinhäusern begrenzt, auf der anderen Seite (hinter den Druckereien) erstreckt sich ein großer Bauplatz. Hier liegt noch das Baumaterial, das für den inzwischen im Rohbau fertigen U-Bahn-Tunnel gebraucht worden war: Steine, Bohlen, Teerfässer, Bretter, Schrauben, Sand und Baumaschinen. Kurz nach dem Attentat auf Rudi Dutschke fordert die Konzernleitung Polizeischutz für den Gebäudekomplex an der Kaiser-Wilhelm-Straße. Der diensthabende Polizeirat im Präsidium benachrichtigt den Polizeipräsidenten in dessen Privatwohnung. Der Polizeipräsident verfügt die genaue Beobachtung des Universitätsgeländes und insbesondere des SDS. Fünfzehn Minuten später startet ein Polizeihubschrauber und überfliegt die Innenstadt. Er kreist über dem Universitätsgelände. Nirgendwo ist eine Menschenansammlung auszumachen. Ullrich läuft zur Universität. Menschen, die lachen, erschrecken ihn. Sie können die Nachricht noch nicht gehört haben. Zwei Schüsse in den Kopf, hatte es geheißen. Ullrich sieht den Polizeihubschrauber über den Häusern kreisen. Er läuft schneller. Atemlos kommt er auf dem Universitätsgelände an. Der Keller ist verschlossen. Auf dem Platz vor dem Philosophenturm ist niemand zu sehen. Ein junger Mann geht über die Straße in Richtung zum Audimax. Ullrich fragt ihn, ob er irgendwo eine Menschenansammlung gesehen habe. Nein, warum. Auf Rudi ist geschossen worden, ein Attentat. Der Junge sieht Ullrich überrascht an. Er will Einzelheiten wissen. Aber Ullrich hat sich schon umgedreht. Er glaubt, die anderen seien schon vor dem Springer-Hochhaus. Er läuft los. 2. In Entscheidungssituationen diszipliniert und ruhig sein, damit sich Meinungen bilden können. Die meisten Studenten sind zu Ostern nach Hause gefahren. Conny ist im fünfköpfigen SDS-Führungskollektiv, das allwöchentlich neu gewählt wird. Conny hat die Nachricht ebenfalls im Radio gehört und versucht, die anderen Mitglieder des Führungskollektivs anzurufen. Er erreicht nur zwei. Sie verabreden, sich in einer Stunde im Keller zu treffen. Petersen ist schon am Morgen in die Stadt gefahren. Er hatte nicht hinterlassen, wohin er fahren wollte. Die Politische Polizei (POPO) erhält einen Anruf vom Verfassungsschutz, in dem der Termin des SDS-Treffens mitgeteilt wird. Der 134 Student Detlev M., der für den Verfassungsschutz arbeitet, hat den Termin telefonisch durchgegeben. Vor der Geschäftsstelle des Abendblatts am Gänsemarkt bilden sich ab 17.30 Uhr ständig neue Diskussionsgruppen. Vom Polizeipräsidium werden zwei Peterwagen zur Überwachung abgestellt. Vor dem Springer-Haus in der Kaiser-Wilhelm-Straße treffen die ersten Polizisten ein, darunter eine Hundestaffel. Ullrich erreicht die Kaiser-Wilhelm-Straße. Er schwitzt. Die letzte Strecke war er gelaufen. Er ist enttäuscht. Er sieht nur Sonntagsspaziergänger, die in Schaufenster glotzen. Hinter den Glaswänden der Druckerei die riesigen Rotationsmaschinen. Von hier aus war es angekurbelt worden. Die Lügen, die Verdrehungen. Seid nett zueinander. Die bedruckten Papierbahnen rasen durch die Walzen der Rotationsmaschinen. Eine Bombe auf diesen Glaskasten. Ein Polizist hat einen großen Schäferhund an der Leine. Der Schäferhund hebt ein Bein und pißt ein Verkehrsschild an. Eine große dunkle Lache. Ullrich fragt sich, warum er sofort hierher gelaufen war. Warum sind die anderen nicht hier? Vielleicht sind sie an der Geschäftsstelle des Abendblatts am Gänsemarkt. Er läuft durch die ABC-Straße. Jetzt glaubt er, daß viele, die er für Sonntagsspaziergänger gehalten hatte, suchend um den Glaskasten des Springer-Hauses gegangen waren. Das waren keine ahnungslosen Spaziergänger, dachte Ullrich, auch wenn die ganz sonntäglich angezogen waren und keine Barte, keine langen Haare hatten. Die suchten wie er. Etwas tun, denkt er, man muß etwas tun. Diese Schweine. 3. Jeder muß Informationen und Anweisungen weitergeben! Polizisten durch falsche Informationen verwirren! SDS-Mitglieder beginnen, sich im Keller zu versammeln. Auch Petersen ist gekommen. Er hatte es bei einer Freundin gehört. Es wird nur wenig gesprochen. Auf dem Tisch steht ein Transistor, an dem Conny ständig herumdreht. Alle fragen, wer der Attentäter ist. Gegen 19 Uhr soll sich das Führungskollektiv treffen. Der Polizeihubschrauber überfliegt abermals die Innenstadt und das Universitätsgelände. Nur am Gänsemarkt hat sich eine Menschenansammlung gebildet. Der Gänsemarkt liegt innerhalb der Bannmeile. Ansammlungen von mehr als drei Personen sind innerhalb der Bannmeile verboten. Nach dem Bericht eines Streifenführers handelt es sich um diskutierende Passanten, allerdings seien darunter, nach seiner Vermutung, auch zahlreiche Studenten. 135 Der Polizeipräsident, der erneut in seiner Privatwohnung angerufen wird, gibt die Anweisung, vorerst nichts gegen die diskutierenden Gruppen zu unternehmen. Vom Polizeipräsidium wird ein weiterer Peterwagen zum Gänsemarkt beordert. Aus der ABC-Straße kommend, sieht Ullrich den Auflauf vor der AbentíWaŕŕ-Geschäftsstelle. Endlich, denkt er, endlich. Er läuft über den Gänsemarkt. Die Menschen stehen dichtgedrängt in Gruppen und diskutieren. Alle Scheiben sind noch ganz. Ullrich versucht, über die Köpfe der im Kreis Stehenden hinweg eine Diskussion zu verfolgen. Eine Studentin diskutiert mit einer älteren Frau. Ihr müßt mal arbeiten, nich. Klugschnacken kann jeder. Ullrich kann die Antwort der Studentin nicht verstehen. Er drängt sich näher ran. Da lachen ja die Hühner, sagt ein Mann neben der Studentin. Ullrich fährt den Mann an: Was heißt denn das, da lachen die Hühner? Wer sind denn hier die Hühner? Das sind doch die Bild-Zei-tungsleser. Ullrich redet auf den Mann ein, als hätte er endlich den Gegner gefunden. Er beschuldigt plötzlich die alte Frau und den Mann. Ihr glaubt dem, während der in seiner Villa sitzt, am Falkensteiner Ufer, da oben. Der Quatsch von der Chancengleichheit, ihr lest das und glaubt das auch noch. Möglicherweise habt ihr noch ein schlechtes Gewissen, daß ihr es nicht auch zu einer Villa gebracht habt. Ihr glaubt, das liegt an euch. Ich mach das falsch, denkt Ullrich, während er redet, ich mach das falsch. Die beuten euch aus, und ihr fühlt euch noch wohl, wenn die andere kaputtmachen. Ihr jubelt und die machen uns kaputt und euch. Verschwinde doch, sagt der Mann, geh doch rüber, geht doch alle rüber, warum geht ihr nicht rüber. Der Mann sagt das gehässig. Er weiß offenbar nicht weiter. Ullrich fühlt sich plötzlich bedrängt. Er spürt die Körper. Er ist eingekreist. Er riecht die Ausdünstungen aus dem Mantel der alten Frau. Er denkt einen Augenblick an seine Eltern. Er möchte weg. Aber er bleibt. Arbeiter und Studenten sind doch in der gleichen Situation, sagt er. Dann komm mal mit in die Fischfabrik, min Lütten, sagt die Alte und alle lachen. Ich kann mich nicht ausdrücken, denkt Ullrich, etwas fehlt. Ich kann die Frau nicht erreichen, aber auf die kommt es doch an. Die Studentin redet wieder. Sie war ruhig geblieben. Jetzt springt sie ein. Sie redet von Interessen. Wer hat ein Interesse daran, daß bestimmte Dinge nicht bekannt werden? Zum Beispiel, was die an euch verdienen? Wie gut die das macht, denkt Ullrich. Sie hat das Abitur nachgemacht, sie hat früher als Schneiderin gearbeitet. 4. Falls bei einer Entscheidung kein Konsens entsteht, sich auf alle Fälle an die größte Gruppe anschließen! In den Abendnachrichten wird von einem großen Teach-in in Berlin berichtet. In Hamburg fährt der Polizeipräsident ins Präsidium und bestellt die leitenden Beamten zu einer Lagebesprechung für 22 Uhr. Dann telefoniert er mit dem Innensenator. Der gibt die Anweisung, Vorkehrungen gegen eine mögliche Demonstration zu treffen, die sich gegen das Springer-Haus richten könnte. Der Hamburger Bürgermeister, der über Ostern an die Ostsee gefahren ist, soll in seinem Ferienort benachrichtigt werden. Der Polizeipräsident verordnet eine sofortige Ausgangssperre für die gesamte Bereitschaftspolizei. Der Verfassungsschutz erhält von seinem Spitzel die Nachricht, daß zur Zeit das Führungskollektiv des SDS tage. Der Einsatzleiter am Gebäudekomplex Kaiser-Wilhelm-Straße meldet, daß immer mehr Personen vor dem Springer-Haus auftauchen und wie suchend umhergehen. Nach dem Aussehen zu schließen, seien es hauptsächlich Studenten. Das Führungskollektiv tagt in einer offenen Sitzung. Petersen spricht: Der Zusammenhang zwischen dem Attentat auf Rudi und der seit Wochen systematisch geführten Kampagne der Presse, insbesondere der Springer-Presse, sei eindeutig. Das müsse auch der Öffentlichkeit vermittelt werden. Es wird eine Aktion gegen das Springer-Haus beschlossen. Ziel der Aktion soll es sein, erstens: Die Auslieferung der Wochenendausgabe von Bild zu verhindern. Zweitens: Eine Demonstration zu organisieren, die eine möglichst breite Öffentlichkeit erreichen soll. Dafür sollen Plakate, Losungen und Transparente angefertigt werden. Es wird festgelegt, wo Barrikaden errichtet werden sollen. Mit Nagelbrettern soll ein Durchbruch der Zeitungswagen verhindert werden. Zwei Flugblätter sollen aufgesetzt werden. Eins zur Anleitung von Demonstranten, eins zur Aufklärung der Bevölkerung. Letzteres soll in der Innenstadt und im Hafen verteilt werden. Es wird erwogen, Redaktionen und Druckereien zu stürmen. Die Vertreter des antiautoritären Flügels, insbesondere Conny und Petersen, sind dafür (eine Handvoll Sand in die Rotationsmaschinen und Bild erscheint nicht mehr). 136 137 Die Vertreter des traditionalistischen Flügels, insbesondere Lister, sind dagegen. (Die Arbeiter haben kein Verständnis dafür, daß man ihnen die Produktionsmittel versaut. Man muß mit der Arbeiterklasse zusammenarbeiten.) Die Arbeiterklasse sei hoffnungslos korrumpiert, sie sei verbürgerlicht, sei selbst schon beteiligt an der Ausbeutung der Völker in der Dritten Welt. Auf die verbürgerlichten Arbeiter komme es im Augenblick nicht an, von ihnen könne keine revolutionäre Tat erwartet werden. Der antiautoritäre Flügel setzt sich mit großer Mehrheit durch. Man will auf jeden Fall versuchen, die Gebäude zu stürmen. Fast drei Stunden hatte Ullrich in der kalten Nacht vor der Geschäftsstelle des Abendblatts gestanden und diskutiert. Die Menschenmenge war langsam gewachsen. Die Diskussionen hatten sich, je später es wurde, langsam geändert, auch die Diskutanten. Es waren jetzt zumeist junge Menschen. Man redet darüber, wie man am besten gegen Springer vorgehen könne. Die meisten wollen die Scheiben einwerfen, gleich hier an der Geschäftsstelle. Wie kann man sich wehren gegen vier Millionen Zeitungen? Ullrich versucht, Conny anzurufen. Niemand meldet sich. Er läuft nach Hause. Seit Mittag hat er nichts mehr gegessen. Eine Scheibe einschmeißen. Diese Schweine. Diese verdammten Schweine. Haß. Zu Hause hört er Nachrichten. Bundeskanzler Kiesinger hat an Dutschkes Frau Gretchen ein Telegramm geschickt, in dem er ihr seine Anteilnahme versichert. Ullrich würde dem gern eine in die Fresse hauen. Er versucht sich vorzustellen, was der sagen würde. Ullrich ißt Brot und trinkt Kaffee. Er kann es im Zimmer nicht mehr aushalten. Er läuft wieder zum Keller. Der Keller ist abgeschlossen. Er läuft zur Geschäftsstelle am Gänsemarkt. Dort stehen noch immer einige Gruppen und reden. Ullrich denkt an die Rotationsmaschinen hinter den großen Scheiben. Ihm fällt der Abend in München ein, als er in seinem Zimmer mit Gaby im Bett gelegen hatte und die Nachrichten von der Schah-Demonstration durchkamen. Als sie Benno Ohnesorg erschossen hatten. Damals hatte er nicht gewußt, was er tun sollte. Seine Wut hatte sich gegen Gaby gerichtet. Gaby, die im Bett gelegen hatte, mit diesen stumpfsinnig dicken Titten. Er hatte nicht einmal gewußt, warum er auf Gaby wütend war. Diese Schweine, dachte er, man muß etwas tun. Er läuft zur Kaiser-Wilhelm-Straße. 5. Laßt Euch nicht von Saboteuren, die im Besitz von Megaphonen sind, von Eurem Vorhaben abhalten! Der Innensenator ruft den Polizeipräsidenten an. Die Lage ist ruhig. Gegen 1.30 Uhr haben sich die Gruppen von Diskutanten vor der 138 Geschäftsstelle aufgelöst. Der Verfassungsschutz meldet, daß für morgen eine Demonstration angesetzt ist. Die Springer-Gebäude sollen blockiert werden. Gegen 2 Uhr werden am Gänsemarkt zwei der drei Peterwagen abgezogen. Der verbleibende Peterwagen wird in einer Seitenstraße postiert. Ullrich geht langsam um das Springer-Haus. Auf dem U-Bahn-Bauplatz hat er eine schwere Schraubenmutter aufgehoben. Er hält sie in seiner Parkatasche mit der Faust umschlossen. Das Eisen ist schon warm. Dreimal geht Ullrich um den Gebäudekomplex. Er sieht die riesigen Rotationsmaschinen. Der Wind ist schneidend kalt. Ullrich ist es heiß. Mehrere Polizisten gehen mit Hunden Streife. In der Faust hält er die Schraubenmutter. Ullrich lacht plötzlich. Ein Polizist mustert ihn mißtrauisch. Seid nett zueinander. Jetzt stehen hier Polizisten mit Schäferhunden. Gegen 3 Uhr wird eine Schaufensterscheibe der Geschäftsstelle des Abendblatts am Gänsemarkt eingeworfen. Vermutlich wurde der Stein aus einem vorbeifahrenden Auto in das Schaufenster geschleudert, meldet der dort stationierte Peterwagen. Sofort werden die beiden abgezogenen Peterwagen wieder zum Gänsemarkt beordert. An der Kaiser-Wilhelm-Straße ist alles ruhig. Ullrich wartet vor der Druckerei. Aber der Polizeiposten bleibt in Sichtweite. Ullrich hat Angst vor dem großen Schäferhund. Er läuft zum Gänsemarkt. In seiner Tasche umklammert er die Schraubenmutter. Vor der Geschäftsstelle halten zwei Peterwagen mit rotierendem Blaulicht. Einige Nachtbummler stehen neugierig herum. Am Boden liegen Scherben. Endlich, denkt Ullrich. Er geht nach Hause, legt sich ins Bett und schläft sofort ein. Gegen Mittag wacht er auf. Er hat Kopfschmerzen. Er setzt Wasser auf, schmiert sich ein paar Brote, filtert Kaffee. Draußen scheint die Sonne. Nach der zweiten Tasse läßt der Druck im Kopf nach. Am Ende des Wintersemesters hatte Ullrich mit Christa im Cosinus gesessen. Sie wolle nach München zurückgehen, hatte sie gesagt. Ullrich war nicht einmal überrascht. Er sah sie neben sich, ihre kleine gerade Nase, ihre hohe Stirn, ihre sanften runden Lippen, ihr untadelig dezenter Lidstrich. Sie drehte das Bierglas auf dem Filz. Die Schaumkrone war schon abgesunken. Nur eine kleine Blaseninsel schwamm noch auf dem Bier. Er erschrak, wie fremd sie ihm bereits war. Er war sogar erleichtert, daß sie nach München ging. Sie hatten dann nur noch über belanglose Sachen geredet. Ullrich geht zum Keller. Schon auf der Treppe hört er das Hämmern. 139 Als würde etwas umgebaut. Die Luft ist grau vom Zigarettenqualm. Das Klingeln der Telefone. Wortfetzen. Das Knattern zweier Schreibmaschinen. Vor der Abziehmaschine eine Schlange. Man löst sich » beim Kurbeln ab. Wenn einer müde wird, springt ein anderer ein. | Wann gehts los? * Die Abziehmaschine ist umlagert. Jeder will einen Packen Flugblätter. Sie werden sofort ausgetragen. Neue Gesichter. Steine in den Glaskasten. Eine Hand voll Sand in die Rotationsmaschinen und der ganze Klump steht. 6. Falls ein Objekt besetzt worden ist: Eng zusammensetzen! Ein- §i haken! Der Spitzel Detlev M. benachrichtigt den Verfassungsschutz, daß im I \ Keller Nagelbretter hergestellt werden. Er habe auch Benzinflaschen I i gesehen. Molotowcocktails. Der Verfassungsschutz benachrichtigt "|| die Politische Polizei. Der Polizeipräsident benachrichtigt den Innen-senator. Der gibt den Durchsuchungsbefehl. Fünf Überfallwagen umstellen den Keller. Der Keller ist leer. Vor der Universität wird zur gleichen Zeit ein improvisiertes Teach-in abgehalten. Der einzige Student, Mitglied des SDS, der im Keller Wache hält, wird von der Polizei festgenommen, als er Widerstand gegen die eindringenden Polizisten leistet. Mehrere Nagelbretter werden sichergestellt. Molotowcocktails werden nicht gefunden. Am späten Nachmittag verteilt Ullrich Flugblätter am Hauptbahnhof. Rudi schwebt noch immer in Lebensgefahr. Zwei Kugeln wurden ihm aus dem Kopf entfernt. Man weiß nicht, ob er jemals wieder imstande sein wird, zu reden. Diese Schweine, sagt Ullrich und hält wütend den Passanten seine Flugblätter entgegen. Im Polizeipräsidium ist ein Einsatzstab gebildet worden. Der Innensenator befindet sich im Polizeipräsidium. Aus Schleswig-Holstein wird Bereitschaftspolizei zur Verstärkung angefordert. Einige Hundertschaften werden im Innenhof des Springer-Hauses an der Kaiser-Wilhelm-Straße stationiert. Bürgermeister Weichmann ist nach Hamburg zurückgekommen. Der Polizeihubschrauber kreist über dem Universitätsgelände. Einige hundert Menschen haben sich vor dem Audimax versammelt. Der Beginn der Demonstration war für 18 Uhr angesetzt worden. Treffpunkt: Moorweide. Unter den Rednern ist auch Petersen. Danach soll sich die Demonstration formieren und über den Gänsemarkt zum Springer-Haus marschieren. 140 Ullrich hat alle Flugblätter verteilt. Er läuft vom Hauptbahnhof zur Moorweide. Er umklammert die Schraubenmutter. Diese Schweine. Den kalten Ostwind, der scharf über die Alster fegt, bemerkt er nicht. Er achtet nicht auf den Verkehr. Er spürt, daß alles anders sein könnte. Daß er keinen Haß haben müßte. Einer, der das verhindert, ist Springer. Die Moorweide ist schwarz von Menschen. Er trifft Conny, der eine riesige Ballonmütze aus blauem Frottee trägt, darin eingelegt ein gelber Stern. Petersen in Lederjacke, auf dem Kopf einen Plastikhelm, Bully, Lister, Erika und die anderen. Alle waren da. Aus dem Lautsprecher quäkt es. Ullrich kann nichts verstehen. Er sieht die Gesichter der anderen. Ernste Gesichter. Ullrich friert plötzlich. Der Demonstrationszug formiert sich. In der ersten Reihe Conny und Petersen. Unterhaken, wird durch die Reihen gerufen. Sie haken sich unter. Brecht Springer die Gräten alle Macht den Räten Ullrich läuft. Er spürt seine Nebenmänner, er hört ihre Stimmen. Ullrich ruft: Ho Ho Ho Chi Minh. Er spürt ein Würgen in der Kehle. Er muß mit dem Rufen aussetzen. Haut dem Springer auf die Finger Ullrich ist heiß. 7. Beim Durchbrechen von Polizeiketten: Die vorderen Ketten brechen nicht durch, sondern lassen sich widerstandslos (!) von den hinteren Ketten durch die Polizei schieben! Hintere Ketten schieben! Der Polizeihubschrauber kreist über dem Demonstrationszug. Während die Spitze schon den Gänsemarkt erreicht hat, ist das Ende noch an der Überführung des Dammtorbahnhofs. Siebentausend schätzt der mitfliegende Kommissar. In der Dämmerung, tief unten, die unruhigen Flämmchen der Fackeln. Der Verkehr staut sich auf dem Gorch-Fock-Wall bis zum Karl-Muck-Platz. Sie hocken sich auf den Stephansplatz. Ein Hubschrauber knattert über sie hinweg. Die gelben Positionslampen blinken. Sie warten, bis sich der Block vor ihnen einige hundert Meter entfernt hat. Sie stehen auf. Sie haken sich ein und laufen los: Axel wir kommen Der Ostwind ist kalt. Ullrich schwitzt. Die Gesichter neben ihm sind nicht mehr ernst. Er erkennt seine Freude in den Gesichtern der anderen wieder. Eine Freude, die verändert. Er kann, wenn er sich umdreht, das Ende des Zugs nicht ausmachen. Er ist noch nie mit so 141 vielen Menschen zusammen gegangen. Er war herumgelaufen und hatte gesucht. Jetzt war er angekommen. Er hatte die anderen gefunden. Es sind Menschen, die er nie zuvor gesehen hatte. Er hatte sie untergehakt, er konnte lachen und reden mit ihnen, als kennten sie sich schon lange. Was er fühlt, ist eine Freude, die über ihn hinausgeht, die ihm ein Gefühl der Weite und Stärke gibt. Eine Freude, die vom Haß getragen wird, ein Haß, der verändert. Die neben ihm gehen, waren wie er aus ihren Zimmern gelaufen. Jetzt marschieren sie eingehakt und rufen: Haut dem Springer auf die Finger. Menschen, die am Straßenrand stehen, reihen sich ein. Solidarisieren, mitmarschieren. Sie sind eine Kraft geworden. Sichtbar. Hörbar. Ullrich denkt plötzlich an Springer. Er muß Angst haben, denkt Ullrich. Wenn er jetzt am Straßenrand stehen würde, er müßte sich entsetzlich allein vorkommen. Ullrich hat Mitleid mit dem Mann Springer. Aber dann sieht er die Polizisten. In Ullrichs rechten Arm hat sich ein alter Mann eingehakt. Er war einfach vom Bürgersteig in den Block gelaufen und hatte sich eingehakt. Bravo, hatten sie gerufen. Etwas ist anders geworden, denkt Ullrich, etwas ist neu. Etwas, was alle betrifft. Der Einsatzleiter hat den gesamten Gebäudekomplex mit Absperrgittern abriegeln lassen. Die Nachtausgabe von Bild soll in der kleinen, schlechtbeleuchteten Speckstraße durchgebracht werden. Mit Unterstützung des Wasserwerfers und mit Knüppeleinsatz. Der Einsatzleiter gibt den Kommissaren der Bereitschaftspolizei die Instruktionen. Währenddessen wird im Innenhof des Springer-Hauses heißer Kaffee an die Bereitschaftspolizisten ausgegeben. Die ersten Demonstranten erreichen die Kaiser-Wilhelm-Straße. Einzelne Blöcke des Demonstrationszugs werden von den Genossen des SDS zu den verschiedenen Ausfallstraßen geführt. Die Demonstranten setzen sich vor den Absperrgittern aufs Pflaster und haken sich ein. Ullrich ist mit einem Block in die Speckstraße gelaufen. Eine dunkle, mit Kopfsteinen gepflasterte Straße, die von der U-Bahn-Baustelle begrenzt wird. Hier versuchen die bestimmt durchzubrechen, hatte Petersen gesagt, hier können sie unbeobachtet knüppeln. Ullrich setzt sich auf ein Teerfaß und raucht eine Zigarette. Plötzlich stürzt ein Greiftrupp der Polizei hervor, packt Petersen. Sie schlagen ihn zusammen und schleifen ihn hinter das Abstellgitter. Alle hatten wie erstarrt gestanden. Nur Conny schlägt einem Polizisten die Mütze vom Kopf. 8. Verhaftung von Mitdemonstranten durch Rufe melden! Polizisten isolieren und den Gefangenen zur Menge durchzerren! Diese Schweine. Die Bullen. Ullrich ballt die Faust um die Schraubenmutter. Das Eisen ist warm. Wir müssen eine Barrikade bauen, sagt Conny. Pflastersteine. Baumaterial. Jemand läßt einen Flachmann herumgehen. Das warme Brennen in der Kehle. Plötzlich entdeckt Ullrich Renate. Hallo. Ich hab euch gesucht, sagt sie, ich wußte, daß ihr hier seid. Sie hält Ullrich die kalten Hände an die Wangen. Eiskalt, sagt Ullrich. Jemand reicht ihr den Flachmann. Sie verzieht das Gesicht. Ullrich möchte alle berühren. Es ist wie ein Fest. Auf diesen Frühling kommt ein heißer Sommer, sagt Conny und umarmt Renate. Endlich ist mir warm, sagt sie, der Schnaps. Ihr Haar weht ihr immer wieder ins Gesicht, und immer wieder dreht sie dann das Gesicht in den Wind. Ullrich legt ihr den Arm um die Schulter. Sie küßt ihn. Dem Einsatzleiter wird gemeldet, daß in der Speckstraße mit dem Bau einer Barrikade begonnen worden sei. Pflastersteine würden aus dem Straßenpflaster gebrochen, außerdem würden Bohlen, Bretter und Teerfässer von der U-Bahn-Baustelle herangeschleppt. Der Einsatzleiter bespricht sich nochmals mit den Kommissaren der Bereitschaftspolizei. Es bleibt bei der Entscheidung, daß in der Speckstraße der Durchbruch versucht werden soll. Zwei Hundertschaften sollen mit Schlagstöcken gegen die Demonstranten vorgehen. Zwei Zehnerschaften sollen währenddessen die Barrikade räumen. Die Windschutzscheiben der LKWs, in denen die Zeitungen ausgeliefert werden sollen, werden mit Zeitungsbündeln abgedeckt. Dadurch sollen die Fahrer vor Steinwürfen geschützt werden. Der Einsatzleiter inspiziert die Posten vor den Abstellgittern der Speckstraße. Er beobachtet den Bau der Barrikade. Dann gibt er den Befehl, eine weitere Zehnerschaft zur Verstärkung an die Absperrgitter Speckstraße zu schicken. Petersen wird von einem Kommissar der politischen Polizei verhört. Er verweigert die Aussage. Er hat eine stark blutende Platzwunde am Kopf. Er will mit einem Anwalt telefonieren. Das wird abgelehnt. 9. Bei Verhaftungen: Nur Personalien angeben, Dienstnummer des verhaftenden Polizisten feststellen, Namen von mitverhafteten Demonstranten (Zeugen) notieren! Sofort über Polizeitelefon die Rechtshilfe anrufen! Tel.: 349091 142 143 Dritter Teil Ullrich reicht den kalten Pflasterstein mit einem kleinen Schwung und leicht gebückt seinem Vordermann zu, der jedesmal schnauft, wenn er den Stein nimmt. Ullrich denkt daran, wie er aufgesprungen war, wie er aus seinem Zimmer gelaufen war, genau wie die anderen, die in der Schlange standen und die Pflastersteine weiterreichten, bis nach vorn, kurz vor dem Abstellgitter, wo die Barrikade wächst. Er hatte gewußt, wohin er laufen mußte. Er war schon gestern hier gewesen. Er wußte, wo der Grund lag, plötzlich kannte er ihn, den Grund für seinen Haß, für seine Einsamkeit, seine Ziellosigkeit, seine Angst, seine Lügen, seine Gehässigkeit, für sein Aufschneiden, seinen Neid und immer wieder für die Lügen. Das war veränderbar. Wie leicht er die schweren Steine weiterreicht. Er fühlt sich kräftiger und stärker. Wie schnell die Barrikade vorn vor dem Absperrgitter wächst. Wachs und werde zum Wald! eine beseeltere, vollentblühende Welt! Ein Trupp Polizisten mit Tschakos und graugrünen Mänteln marschiert zum Absperrgitter. Macht kaputt, was euch kaputtmacht. Mit Schwung reicht er den Stein seinem Vordermann zu. Er glaubt, die Wärme der Hände der anderen an dem Pflasterstein zu spüren, den ihm sein Hintermann zureicht. Schön, sagt er, wir brauchen Musik, eine Kapelle. Sein Vordermann lächelt. Ein dünnes Lächeln in einem angestrengten Gesicht, aber ein glückliches Lächeln. Der Stein wandert von Hand zu Hand. Vorn wird er auf die Barrikade geschichtet. Die Barrikade wächst. Stein um Stein. Vor der Barrikade die Absperrgitter und dahinter die Bereitschaftspolizei. In Zweierreihe. Dahinter, wie ein großer grauer Panzer, der Wasserwerfer. Im Hintergrund der gewaltige Gebäudekomplex der Springerdruckereien und der Redaktionen. Alle Fenster hell erleuchtet. Im Hof der Druckerei formiert sich der LKW-Konvoi mit der Samstagausgabe von Bild. Die Hundertschaften marschieren zur Barrikade. Ein Lautsprecherwagen fährt vor. Hier spricht die Polizei. Räumen Sie die Straße. Eingehakt sitzen die Demonstranten vor der Barrikade. Sie singen. Sie singen die Internationale. Nur wenige kennen den Text. Aber alle singen den Refrain. An dieser Stelle kamen sie nicht durch. Die Barrikade war schon zu hoch. Die sie verteidigten zu viele. 1 Ullrich war von der Musik im Nebenzimmer aufgewacht. Please tell her thanks a lot I cannot move my fingers are all in a knot I don't have the strings to get up and take another shot Renate schlief noch. Sie atmete ruhig und gleichmäßig. Vorsichtig drehte er sich ihr zu. Ihr Mund war leicht geöffnet. Ullrich hatte geträumt. Er hatte in einer Röhre gesessen. Plötzlich waren die Abwässer gestiegen. Nebenan spielte Bob Dylan Mundharmonika. Nottker war also schon aufgestanden. Gestern nacht hatten sie Musik gehört, geraucht und Tee getrunken. Nottker hatte wieder Beethoven aufgelegt. Ausgerechnet die Fünfte. Nicht schon wieder diese Kiste, hatte Ullrich gebeten. Aber Nottker hatte darauf bestanden, wenn er angeturnt sei, sehe er die Fünfte farbig. Da gibt es Blautöne und Violetts, die sich ausbreiten, pulsieren, ins Rot überlaufen, besonders im ersten Satz, behauptete Nottker, das sei einfach wahnsinnig. Ullrich hatte vorgeschlagen, die Mothers of Invention zu hören. Die sind gelbstichig, hatte Nottker gesagt, und Gelb könne er nun mal einfach nicht ausstehen. In Ullrichs Kopf war wieder diese wattige Müdigkeit. Bob Dylan sang. Einstein disguised as Robin Hood with his memory in a trunk passed this way an hour ago with his friend a jalous monk Gleich nachdem Ullrich mit Renate, Ursula und Nottker in die Altbauwohnung eingezogen war, hatte Nottker ihm gezeigt, wie man den guten Dreiblattjoint dreht. Zwei Zigarettenblättchen werden an den Längsseiten aneinandergeklebt, ein Blättchen wird an die Seite quer geklebt. In das tütenförmig zusammengerollte Papier wird ein Pappmundstück eingelegt. Tabak aus eineinhalb Zigaretten wird zu etwa zehn Prozent mit Shit vermischt. Der letzte Zentimeter vor dem Mundstück enthält nur Tabak. Man inhaliert aus der hohlen Faust. Ullrich hatte inhaliert. Hatte sich eine neue Dimension eröffnet, ein Übermarx, aus dessen Kopfhaar Che Guevaras Bart und Gesicht hervorwuchs? 145