finsterer Entschlossenheit argumentiert: Man müsse vor die Fabrife gehen. Man müsse endlich an die Arbeiter ran. (Bei den Worte! Arbeiter und Fabrik hatte er skandierend mit der Faust in die Luff geboxt.) Alles andere sei intellektuelle Spielerei. Dann hatte er sich mit Renate und Nottker über die Bedeutung von Spielerei gestritten. Schließlich hatte er vorgeschlagen, vor der Möbelfabrik von Renates ^ Vater zu spielen. Von da an hatte Renate nichts mehr gesagt. Als ein alter dünner Mann zögernd auf sie zukam, wiederholten Renate, Lister und der Schauspielschüler: Und verlängere unsere Kredite wie wir sie stunden unseren Gläubigern Ich kann nicht mehr lange, ächzte Nottker. Diese Scheißhitze, sagte er schon lauter. Ullrich versuchte, ihn durch einen kräftigen Schenkeldruck zum Schweigen zu bringen. Aber Nottker antwortete mit einem nun beängstigend lauten Ächzen. Listers Genossen klatschten. Der alte dünne Arbeiter grinste. Der grinst ja, dachte Ullrich. Der grinst tatsächlich. Plötzlich spürte Ullrich den Schweiß nicht mehr in den Augen brennen. Er lüpfte, wie sie es einstudiert hatten, seinen Zylinder. Die drei sangen: Und führe uns nicht in Konkurs, sondern erlöse uns von den Gewerkschaften. Und da passierte es. Nottker warf Ullrich ab. Stotternd sagte Nottker: Ich hab'dich getragen so manches Jahr. Ich will dich nicht länger tragen mehr. Stöhnend saß Ullrich auf dem Asphalt. Mein Steißbein, ächzte er. Listers Genossen hatten gelacht und geklatscht, doch dann hatten auch sie begriffen, daß Ullrich viel zu früh abgeworfen worden war. Einen Augenblick war es still. Alle sahen erschrocken auf den ächzenden Ullrich. Ullrich stand langsam auf. Er rieb sich den Hintern, und da begannen sie wieder zu lachen. Erst Renate, dann Ullrich, die Hand auf dem Hintern, dann der schwitzende Nottker, dann die beiden Kommunisten, der alte Arbeiter, der semmelblonde Schauspielschüler und dann, ganz zuletzt, auch Lister. Als sie endlich wieder Luft bekamen, sagte der alte Arbeiter: Hier kann man ja drüber lachen, aber da drinnen? Und dabei zeigte er mit dem Daumen über die Schulter zur Fabrik. 186 10 Lärm, unbeschreiblicher Lärm. jedesmal, wenn Ullrich in die Halle kam, war ihm, als tauche er in diesen Lärm wie in einen beängstigenden Traum: Die unverständlich fremden Bewegungen der Arbeiter an den Maschinen. Vor einer riesigen Presse stand ein älterer Mann. Der steckte mit der rechten Hand schnell einen Stahlstutzen auf einen Dorn, und schon kam der gewaltige Block mit einem Zischen herunter. Dann griff er mit der linken Hand hinein, zog den Stutzen vom Dorn, steckte einen neuen darauf. Der Block zischte herunter. An einigen Stellen der Halle spürte Ullrich das Vibrieren der Maschinen in den Füßen wie ein Kribbeln. Er hatte ständig Angst, er könne mit den ungewohnt schweren Sicherheitsschuhen stolpern. Vorsichtig tappend zog er den Hubwagen an einem Bügel hinter sich her. Zwei Materialkästen standen auf dem kleinen flachen Wagen. Die Arbeit ist idiotensicher, hatte der Meister zu Ullrich gesagt. Er hatte Ullrich erklärt, welche Teile zu welchen Maschinen gebracht werden mußten. Aber mitten in die Erklärung hinein hatte die Sirene geheult, und sogleich hatte dieser Lärm eingesetzt. Den Rest hatte Ullrich nicht mehr verstehen können. Er beobachtete den ungewöhnlich großen Adamsapfel des Meisters. Als habe der sich verselbständigt, wanderte der Adamsapfel beim Sprechen rauf und runter. Ullrich hatte den Meister gefragt, wozu die einzelnen Teile bestimmt seien, die er zu den Maschinen fahren mußte. Schon im Weggehen hatte der Meister gesagt: Ist doch egal. Er hatte gesächselt. Ullrich hatte Kästen mit sonderbar geformten Stahlteilen zu einer Maschine gefahren, an der diese Teile geschliffen wurden. Ein schmerzhaft grelles Kreischen. An der Stirnseite der Halle, in einem Glaskasten, lag das Büro des Meisters. In Halle fünf werden Dieselmotoren gebaut, hatte der Angestellte im Personalbüro zu Ullrich gesagt und dann, weiteren Fragen zuvorkommend: Das Weitere werden Sie am Montag sehen. An der rechten Seitenwand der Halle zog sich eine lange Werkbank entlang, auf der die Motoren montiert wurden. Der Motorblock blieb liegen. Die Arbeiter wechselten sich beim Montieren der Teile ab. In der Mitte der Halle und an der linken Seitenwand standen Maschinen, deren Funktion Ullrich nur zum Teil erraten konnte. Pressen, Schleif-, Bohr- und Fräsmaschinen. Auf dem breiten Mittelgang fuhren kleine Elektrokarren mit Materialkästen. In den schmalen Gängen mußten die Kästen mit handgezogenen Hubwagen transportiert werden. Ullrich zog den Wagen durch den Gang. Die Männer an den Maschi- 1'87 nen riefen sich etwas zu. Ullrich verstand nichts. Die anderen aber grinsten. Viele Arbeiter trugen Oberhemden. Ullrich hatte sich extra einen Overall gekauft. Jetzt kam er sich in diesem sauberen, nach Chemikalien riechenden Overall stutzerhaft vor. Ein Materialkasten donnerte herunter. Ullrich war mit dem Wagen gegen eine Fräsmaschine gestoßen. Der Mann an der Fräse grinste. Er rief einem anderen etwas zu. Sie grinsten beide. Ullrich bückte sich und begann die Teile einzusammeln. Stahlplättchen mit einem keilförmigen Relief. Plötzlich sah er neben sich zwei Stiefel. Er blickte hoch. Ein Arbeiter brüllte ihn an. Ullrich stand auf und hielt ihm das Ohr hin. Wir warten. Verdammt. Mok to. Ullrich kroch auf dem Boden herum und sammelte die Teile ein. Er zog den Wagen zum Ende der Werkbank, stemmte einen Kasten hoch, aber da schüttelte der Arbeiter den Kopf. Nee. Wohin, fragte Ullrich. Der Mann zupfte sich an der Nase, sah in den einen Kasten, den Ullrich angestrengt hochhielt, sah in den Kasten auf dem Wagen und zeigte dann zum Anfang der Werkbank. Ullrich zog den Wagen so schnell wie möglich durch den engen Gang. Er entdeckte den Mann, der ihn angebrüllt hatte. Ullrich stemmte einen Kasten auf die Werkbank. Aber da schüttelte der mit dem Kopf, packte den anderen Kasten auf dem Wagen und hob ihn mit Schwung auf den Tisch. Er hatte nichts gesagt, aber Ullrich hatte verstanden, daß er ihm zeigen wollte, wie man den Kasten mit dem geringsten Kraftaufwand bewegt. Den anderen Kasten, den Ullrich auf die Werkbank gestemmt hatte, hob er mit einem eleganten Schwung wieder auf den Wagen. Der Mann stieß ihn an. Er grinste. Ein junges, braungebranntes Gesicht. Nee, sagte er, der Kasten muß dahin, er zeigte auf eine Maschine. Ullrich zog mit dem Kasten los. Fast gleichzeitig mit dem Heulen der Sirene erlosch der Lärm. Aber Ullrich trug das Dröhnen in seinem Kopf weiter mit sich herum. Wie durch Watte drangen die Stimmen zu ihm. Im Pausenraum, einem langen schmalen Raum, standen nur Bänke >und Tische. Ullrich suchte einen unbesetzten Platz. Er fragte, ob der frei sei. Der Mann sah Ullrich verwundert an, sagte dann aber: Klor, und rutschte etwas zur Seite. Ullrich setzte sich. Er spürte ein schmerzhaftes Ziehen im Rücken und in den Armen. Ullrich hatte erwartet, daß er in den Pausen mit den Arbeitern diskutieren könnte, daß sie ihn ausfragen würden, was er sei, warum er hier arbeite. Aber fast gleichzeitig zogen sie Zeitungen heraus, Bild und Morgenpost, lasen, kauten und tranken hin und wieder aus Thermosflaschen. 188 ■ --------------------------- Dann und wann sagte jemand etwas: Die Emma, was? Warn Hammer. Und der Berti, wie der die Notbremse gezogen hat. War aber Abseits, klar. Ullrich saß da, kaute und starrte die Wand an. Da waren zwei Plakate angepinnt. Eins mit einer roten Überschrift: ERSTE HILFE. Verschiedene Stellungen zur Wiederbelebung waren darauf dargestellt. Von-Mund-zu-Mund-Beatmung. Wie ein Arm geschient wird. Ullrich dachte an diese riesige Presse und an den Mann, der immer wieder schnell unter den herunterzischenden Block greifen mußte. Auf dem anderen Plakat war das Betriebsverfassungsgesetz abgedruckt. Ullrich kaute. Die Zeitungen raschelten. Weiter hinten lachte jemand. Plötzlich schob ihm sein Nebenmann einen Teil der Zeitung zu. Ullrich las: Bild. Er zögerte. Aber dann sagte er: Danke. Noch immer war dieses Dröhnen in seinem Kopf. Er las einen Bericht über den Mord an einem Taxifahrer. Die Sirene ließ ihn zusammenfahren. Vorsichtig zog Ullrich den Hubwagen durch die Gänge. Spaß machte es ihm, die Ladefläche mit dem Bügel hochzupumpen. Quälend war das Hochwuchten der schweren Kästen. Gegen elf sah er immer wieder zur Uhr. Er zählte die Minuten bis zur Mittagspause. Renate und Nottker würden jetzt gerade frühstücken. Der Meister winkte Ullrich zu sich. Ullrich sollte die Metallspäne von den Fräsmaschinen holen und sie dann in einen Container kippen. Einen Augenblick hatte Ullrich neben einer Maschine gestanden und zugesehen, wie mit schrillem Kreischen sich die langen glänzenden Metallspäne unter dem Fräser hervorringelten. Konzentriert blickte der Mann auf das eingespannte Metallteil. Lustig, sagte Ullrich. Der Mann sah Ullrich fragend an. Ein Kerl wie ein Klotz, fast einen Kopf größer als Ullrich. Lustig, brüllte Ullrich. Plötzlich kriegt der ganz schmale Augen und fixiert Ullrich. Dann ruft er was zu einem anderen rüber. Ullrich versteht nichts. Er hebt die Kästen mit den Metallspänen auf den Wagen und zieht sie zu dem Abfallcontainer. Die leeren Kästen fährt er zu den Fräsmaschinen zurück. Na, Süßer, sagt einer. Ullrich versucht zu lächeln. Und der Klotz sagt: Mensch, ich dachte immer, hier gibts gar keine Frauen. Als Nachmittags um vier endlich die Sirene heulte, waren die Blasen an Ullrichs Händen aufgesprungen. Ullrich stempelte seine Karte ab. Als er aus der Halle kam, spürte er den Wind warm auf seiner Haut. Er nahm sich vor, eine Station zu Fuß zu gehen. Er atmete tief durch. 189 In seinem Kopf das Dröhnen. Aber als er aus dem Fabriktor kam, ging er dann doch mit den anderen direkt zur U-Bahn-Station. Sein Rük-ken schmerzte beim Gehen. An der Tür nahm ihm Renate die Aktentasche ab. Wie wars denn? Der Lärm, sagte Ullrich und ließ sich in den Sessel fallen, ein unbeschreiblicher Lärm. Er bat Nottker, den Plattenspieler leiser zu stellen. Aber sonst bist du zufrieden, fragte Nottker. Er hatte das ohne anzustoßen gesagt und mit einem ironischen Ton. Nachts konnte Ullrich nicht schlafen. Er hatte Angst, den Wecker zu überhören. Ullrich konnte sich gerade noch hineinzwängen. Zischend schlossen sich hinter ihm die Türen. Er versuchte, seine Aktentasche zu sich heranzuziehen. Reißen Sie doch nicht so, sagte wütend ein Mädchen. Er sah ihr müdes Gesicht. Die Augen wurden von den schwarzen Lidstrichen wie von Klammern zusammengehalten. Niemand sprach. Nur das Schlagen der Räder, das metallene Zwitschern in den Kurven. Es war, als schliefen sie im Stehen, mit offenen Augen. Wer sich einen Platz erkämpft hatte, las Zeitung. Draußen schien dünnlichtig die Sonne. Am Himmel Schäfchenwolken. Die Müdigkeit war wie ein Brennen in Ullrichs Augen. Er dachte an den Lärm. Die schweren Materialkästen. Er überlegte, ob er nicht einfach über Barmbek hinausfahren sollte bis zu den Landungsbrücken. Im kühlen Morgen an der Elbe sitzen. Er hätte in den nächsten Tagen einfach seine Papiere im Personalbüro abholen können. Manchmal, wenn Klassenarbeiten geschrieben werden sollten, hatte er versucht, liegenzubleiben. Er hatte dann gesagt, er sei krank, wenn seine Mutter zum zweitenmal kam, um ihm wie gewöhnlich die Decke wegzuziehen, lachend. Fieber? Sie legte ihre warme weiche Hand auf seine Stirn. Dann holte sie das Fieberthermometer. Er solle im Po messen, das sei genauer. Sie ging raus. Ullrich hatte das Thermometer schnell auf dem Laken hin und her gerieben. 38 Grad, das reichte. Seine Mutter hatte dann die Entschuldigung geschrieben. In Barmbek stieg Ullrich aus. Es war kurz vor sieben. Vor dem Werkseingang drängten sich Männer und Frauen. Ullrich schob sich durch die schmale Pforte, vorbei an dem Glasfenster, hinter dem der Pförtner mit einem Mann vom Werkschutz stand. Die Höhe der Mauer und des Gitters hatte Ullrich überrascht. Es stimmt tatsächlich, hatte er gedacht, wie ein Gefängnis. Er stempelte seine Karte, als der Zeitstempel gerade von 6.56 auf 6.58 übergesprungen war. Die Sirene. Und dann wieder dieser Lärm. Ullrich zog den Hubwagen mit den Materialkästen durch die Gänge, von Maschine zu Maschine. Eine Maschine schweißte automatisch nierenförmige Teile aus einer Eisenplatte. Ullrich beobachtete, wie der feine Strahl langsam und exakt die Rundungen schweißte. Ein Mann schob eine Klammer vor, die das Teil festhielt. Dann, nach einem Knopfdruck, schweißte das Gerät das Teil heraus. Der Mann löste die Klammer, griff das Teil mit der Zange, und warf es in einen Metallkasten. Ullrich wollte wissen, wie die Maschine eingestellt wird. Aber der Mann verstand kein Deutsch, lächelte nur und sagte: Ja, nix. Dann sagte er etwas in seiner Muttersprache. Ein Grieche, vermutete Ullrich. In der Mittagspause lachten sie wieder über Ullrichs lange Haare. Er versuchte mitzulachen. Hätte ihn jetzt jemand gefragt, ob er Student sei, er hätte es abgestritten. Er versuchte, sich besonders breit hinzusetzen. Seine Zigarette rauchte er besonders bedächtig. Die Gespräche verstummten plötzlich. Andere sahen von ihren Zeitungen auf. Morgen sei eine Versammlung der Vertrauensleute, sagte Roland. Jemand wollte wissen, wie das sei mit dem Frühstücksraum, der sollte doch schon längst gestrichen sein. Nach der Pause zog Ullrich wieder den Wagen durch die Gänge und hob Kästen auf Werkbänke. Als er einen Augenblick nichts zu tun hatte, ging er zu dem Schweißautomaten. Das Gerät schweißte noch immer die gleichen nierenför-migen Teile aus der Eisenplatte. Wie wurde das Gerät nur eingestellt? Der Schweißapparat hing an einem Kran. An der Seite war ein Armaturenbrett angebracht. Knöpfe, Hebel und kleine Lampen. Der Grieche grinste. Ullrich grinste. Der Grieche schob eine neue Eisenplatte auf das Gerät. Ullrich betrachtete die Skala auf dem Armaturenbrett. Er tippte mit dem Finger auf einen Knopf. Lustig, sagte Ullrich und grinste den Griechen an. Der Grieche hatte ihn nicht verstanden, grinste aber auch. Dann schaltet er das Gerät ein. Das Gerät schweißt eine Zacke in die Eisenplatte. Der Grieche schaltet das Gerät aus. Er starrt Ullrich an. Ullrich starrt den Griechen an. Ich Idiot, denkt Ullrich und hat plötzlich Angst. Der Grieche macht eine Bewegung mit den Achseln. Offenbar kann er die Maschine selbst nicht wieder einstellen. Ullrich fragt einen deutschen Arbeiter. Da muß der Einsteller kommen, sagt der. Der Einsteller kam. So ein Depp. 190 191 Nein, das war ich, sagte Ullrich. Aber niemand pflaumte Ullrich in der Mittagspause an. Der Grieche war nicht im Pausenraum. Vielleicht mußte der jetzt nacharbeiten. Ullrich starrte vor sich auf die Morgenpost. Lesen konnte er nicht. Später brachte er dem Griechen eine Coca. Der nickte ihm zu. Die Maschine schweißte wieder die nierenf örmigen Teile aus der Platte. Der Meister, der Ullrich mit der Cocaflasche durch die Halle hatte gehen sehen, rief ihn heran. Ullrich solle mal die Flaschen einsammeln. Ullrich zog mit dem Wagen von Maschine zu Maschine. Als er bei der Fräsmaschine eine Flasche vom Boden aufheben wollte, schüttete ihm der Klotz öl über das Haar. Alle lachten. Jetzt reichts, dachte Ullrich. Er hatte ein Angebot von einem Reisebüro gehabt. Dort hätte er fast das Doppelte verdient, weil er Englisch und Französisch konnte. Proletkult, hatte Nottker gesagt. Als Ullrich mit dem Wagen bei Roland vorbeikam, reichte der ihm eine Handvoll Putzwolle rüber. Ullrich wischte sich damit die Haare ab. Ullrichs aufgeplatzte Blasen brannten. Das Dröhnen im Kopf. Später im Umkleideraum sagte der Klotz: Na, lebst du noch. Er grinste. Ich heiße Erich. Nach einer Woche konnte Ullrich schon unterscheiden: Das Kreischen der Fräsen, das Rattern der Bohrmaschinen, das Stampfen der Motoren. Ohne anzustoßen zog er seinen Wagen durch die Gänge. Manchmal pfiff er: See you later alligator. Jetzt verstand er auch die Zurufe der Arbeiter. (Kiek ens! Wenn der Meister kam.) Er hatte inzwischen auch mehr Zeit. Zwischendurch saß er immer wieder auf dem Klo und las: Markovič, Dialektik der Praxis. Er saß im Overall auf der Klosettbrille. Er zündete sich eine Zigarette an. Der erste Zug. Renate und Nottker schliefen noch. Gestern abend hatte Renate mit Ullrich reden wollen. Wir müssen endlich mal darüber reden, hatte sie gesagt und sich in seiner Kammer auf die Matratze gesetzt. Man sieht dich kaum noch. Abends früh ins Bett, morgens früh raus. Warum machst du das, hatte sie Ullrich mit feierlichem Ernst gefragt. Morgens um zwei fragte sie immer noch: Warum machst du das? Die Trennwand zum nächsten Klo war zwei Handbreit über dem schwarzweiß gekachelten Boden angebracht. (Warum eigentlich?) Ullrich sah eine schwarze Schuhkappe unter einer heruntergelassenen blauen Hose. Eine Zeitung raschelte, das Furzen, dann klatschte es im Becken. Eines Abends hatte Petersen angerufen. Petersen hatte eine Lehr- 192 Iingsgruppe organisiert. Nächsten Freitag würden sie sich wieder treffen. Das soll eine Basisgruppe werden. Sie treffen sich im Grünen Eck im Hinterzimmer. Kann man mit dir rechnen, hatte Petersen gefragt. Ja, hatte Ullrich ins Telefon gesagt. Nebenan gurgelte das Klosett, dann das Rauschen des nachlaufenden Wassers. Die blaue Hose wurde hochgezogen, die Tür aufgeriegelt und dann zugeschlagen. Als der nächste kam, sich wieder eine Hose am Boden kringelte, stand Ullrich auf. Er ging zu den Waschbecken. Er betrachtete sich in dem fast blinden Spiegel. Ein müdes graues Gesicht, fand er. Er hatte sich die Haare abschneiden wollen. Aber Renate hatte protestiert: Wenn du das tust, bin ich stocksauer. Er rieb sich die Hände mit der sandigen Seife ein. Sie roch nach Marzipan. Die offenen Stellen in der Hand brannten. Warum machst du das, hatte sie immer wieder gefragt. Am Samstag war Ullrich um sieben aufgewacht. Der Schreck, als er auf die Armbanduhr sah. Dann fiel ihm ein, daß Samstag war. Er war wieder eingeschlafen. Um neun stand er auf. Renate schlief noch. Ullrich frühstückte. Danach saß er in seiner Kammer. Auf dem Schreibtisch lagen noch immer die eingefetteten Teile seiner Schreibmaschine. Er begann die Schreibmaschine wieder zusammenzubauen. Gegen elf kam Renate und behauptete, sie sei aufgewacht, als er aufgestanden sei. Sie trank Lapsang Souchong Tee. Seit wann trinkst du den, fragte Ullrich überrascht. Seit einigen Tagen. Der Orangenblütentee hinge ihr einfach zum Hals raus. Ihr gegenübersitzend beobachtete er, wie sie kaute. Sonderbar träge, fand er. Du bist so weit weg, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. Ursula wolle ausziehen, erzählte sie dann,schon in der nächsten Woche. Sie habe sich mit einer anderen Stewardess zusammen eine Neubauwohnung gemietet. Und Nottker? Der hängt durch. Der sitzt rum, grübelt und kiff t. Gestern waren wir im Cosinus. Da hat er plötzlich behauptet, die Zeit der Stolperstellen sei vorbei. Im Cosinus hätten sie übrigens auch den Schauspielschüler wiedergetroffen, den semmelblonden. Der will ein Bewegungstraining aufziehen, für ein neues Theater. Etwas ganz Neues. Ein schräger Vogel. Ullrich wollte raus. Bei dem Wetter, sagte Renate. Ullrich fuhr allein nach Blankenese. Er rannte die lange Steintreppe 193 zum Eibufer runter. Gegen den Wind lief er bis zum Falkensteiner Ufer. Hinter Weidengestrüpp setzte er sich in den Sand. Vom Wind geschützt war ihm plötzlich warm. Einen Augenblick war ihm, als sehe er einen Film: die aufgewühlte dunkelgrüne Elbe, die vorbeiziehenden Schiffe, die Möwen, die Staaks, und in der Mitte des Stroms der mit Buschwerk bestandene Schweinesand. Er streckte sich im Sand aus. Aber dann glaubte er, er könne, so im Sand liegend, für eine Wasserleiche gehalten werden und Spaziergänger erschrecken. Er setzte sich wieder auf. In einer Mittagspause hatten sie einmal über die Lohn-Preis-Spirale geredet. Ullrich hatte gesagt, das sei falsch, man müsse von einer Preis-Profit-Spirale reden. Warum? Also, woher kriegen die Kapis ihren Profit? Ganz einfach, wir (Ullrich konnte wir sagen) arbeiten über die Zeit hinaus, die wir benötigen, um unsere Lebensmittel und sowas zu erarbeiten. Roland hatte eine Unterhaltung am Tisch abgebrochen und hörte Ullrich zu. Am Tisch war es still geworden. Nur Ullrich redete noch. Das sind vier Stunden ungefähr. Was wir über die vier Stunden hinaus arbeiten, das kriegen wir nicht bezahlt, das sacken die Kapis ein, denen die Maschinen gehören. Das ist Mehrarbeit. Und mit dieser Mehrarbeit erarbeiten wir Mehrwert. Plötzlich hatten alle gelacht. Ein schollerndes Lachen. Ullrich hatte nämlich versucht, Platt zu sprechen. Roland war dann eingesprungen. Roland konnte das, was Ullrich gesagt hatte, mit einer Rechnung belegen. Was kostet ein Dieselmotor, was sind die Löhne, weitere Unkosten, Maschinen, Strom, was bleibt dann unterm Strich. Roland hatte die Zahlen im Kopf. Ullrich sprach von Kapitalvernichtung. Zum Beispiel die schnellrostenden Auspufftöpfe, sagte Roland. Die Chromleisten, fügte Ullrich hinzu. Der Rüstungsetat, ergänzte Roland. Wenn man den um die Hälfte kürzen würde, sagte Ullrich, und dann das Geld den Rüstungsarbeitern geben würde, die dann arbeitslos werden, es würde sich volkswirtschaftlich überhaupt nichts ändern. Besser wäre es natürlich, das Geld in den Bau von Schulen und Krankenhäusern zu stecken, sagte Roland grinsend. Wie leicht ist das, dachte Ullrich. Wie er so atemlos und glücklich redete, war ihm, als sei er nach einem langen Marsch ans Ziel gekommen, hier in dem Pausenraum, an diesem Tisch. Die anderen saßen da, hörten zu, stellten Fragen. Erich kratzte sich immer wieder den Kopf. Vergessen lagen die Zeitungen auf dem Tisch. So wie sie gemeinsam redeten, Schulter an Schulter nebeneinandersitzend, Roland und er, wie der eine ein Argument brachte und der 194 andere ein Beispiel dazu, war Ullrich, als hätten sie sich beide seit langem auf diese Diskussion vorbereitet. Doch dann waren Roland und Ullrich sich plötzlich quer gekommen. Erich hatte nach der DDR gefragt. Die neue Gesellschaft, die er meine, hatte Ullrich gesagt, habe nichts mit den bestehenden sozialistischen Gesellschaften zu tun. Das sei etwas Neues. Die DDR sei deshalb gerade kein Beispiel. Die DDR sei ein gutes Beispiel, hatte Roland geantwortet, zum Beispiel das Gesundheitswesen, die demokratische Mitbestimmung in den Betrieben, die Kindergärten, die niedrigen Mieten. Preise, die nicht steigen. Und das mangelhafte politische Bewußtsein der Bevölkerung, fragte Ullrich, die verkorkste Informationspolitik, der Opportunismus vieler Funktionäre? Warst du mal drüben, hatte Roland dazwischengefragt. Die Entfremdungserscheinungen durch die Orientierung am westlichen Konsumverhalten. Diese übergroßen Muttermale der alten Gesellschaft, und Ullrich hatte Lefěvre zitiert. Aber da hatten die anderen schon nicht mehr zugehört. Nur einer wollte noch wissen, was Zwiebeln drüben kosten. Ein großer Skandinavier zog vorbei. Plötzlich, sehr viel später, schwappten Wellen an den schmuddeligen Strand. Ullrich war kalt geworden. Er stand auf und begann zu laufen. Keuchend rannte er den Uferweg entlang. Seine Beine liefen wie von selbst. Spaziergänger blieben stehen und sahen ihm nach. 11 Eines Abends war er aufgetaucht, der Semmelblonde, der Schauspielschüler, Christian. In einem Damenpelz, einen übergroßen Schlapphut auf dem Kopf, die Haare zu einem Zopf zusammengebunden, stand er im Gemeinschaftsraum. Er wollte nur eine Nacht bleiben, wenn das ginge. Es hatte nämlich Krach gegeben, ganz plötzlich und aus heiterem Himmel. Die Frau, mit der er bisher zusammengelebt hat, eine Schauspielerin am Thalia-Theater, habe ihn plötzlich angeschrien. Er hatte die Schwarzbrotscheiben nicht eingewickelt. Die trocknen aus und du gammelst hier rum, habe sie geschrien. Und dabei hatte er gerade Atemtechnik gemacht. Er ist sofort abgehauen. Seine Sachen müsse er noch holen. Er kann doch im Gemeinschaftsraum auf dem Sofa schlafen, schlug Renate vor. Als Ullrich am nächsten Abend aus der Fabrik kam, lag Christian in 195 w Ullrichs Pullover auf dem Sofa und hörte Bob Dylan. Morgen wolle er seine Sachen holen. Renate habe ihm erst mal einen von Ullrichs Pullovern geliehen. Der sieht aus wie ein semmelblonder Chinese, sagte Ullrich nachts zu Renate. Am nächsten Abend sagte Christian: Ich muß endlich mal hin und meine Sachen holen. Er saß im Sessel. Die Beine baumelten über die Armlehne. An den Füßen: Nottkers neue Wildlederstiefel. Vielleicht hat der gar keine Sachen, sagte Ullrich. Was willst du machen, sagte Nottker, seine Halbschuhe ziehen Wasser, damit kann er doch nicht raus, und der muß sich doch ein Zimmer suchen. Christian brauchte Geld. Wir schmeißen einfach zusammen, schlug Renate vor. Was heißt einfach, wollte Ullrich sagen, ich schufte acht Stunden. Aber dann fiel ihm ein, daß die anderen damals auch zusammengelegt hatten, als er kein Geld hatte, und er schwieg. (Was hatte Ursula damals wohl gedacht.) Frühmorgens tappte Ullrich im Dunklen aus dem Haus (er war in die Kammer umgezogen, damit Renate nicht jeden Morgen geweckt wurde) und kam am späten Nachmittag, wenn es draußen schon dunkel war, wieder zurück, aß hastig in der Küche einige Stullen und ließ sich dann in den Sessel fallen, legte die Beine auf den Tisch und wollte lesen. Lenin: Was tun. (Roland hatte das erwähnt.) Aber dann lag Christian meistens gerade auf dem Teppich und machte Atemübungen. Wenn man richtig atmet, so hier unten, und er zeigte dabei auf den Bauch, wenn man richtig spricht, nicht auf den Stimmbändern, sondern im Kopf, also hier, bekommt man keine Erkältung, man verliert auch Angstgefühle. Es gab Nachmittage, da kam Ullrich nach Hause und im Gemeinschaftsraum standen Renate, Nottker und Christian Kopf und summten. Da endlich war die Stimme im Kopf. Warum aber, wird der Leser f ragen, führt die spontane Bewegung, die Bewegung in der Richtung des geringsten Widerstands, gerade zur Herrschaft der bürgerlichen Ideologie? Aus dem einfachen Grunde, weil die bürgerliche Ideologie ihrer Herkunft nach viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt. Die Hauptkrankheit ist nicht der Kapitalismus, hatte Christangesagt, die Hauptkrankheit liegt in der Lebensweise, im Essen, in der Luft, im Gemüt. Zum Beispiel die Abchasier. Die werden über 160 Jahre alt, teilweise. Die kriegen mit Hundertzehn noch Kinder. Die äßen nicht viel, aber was sie äßen, das äßen sie nur mit kleinen Bissen, kauten ausführlich, und nach dem Essen stünden sie zwanzig Minuten aufrecht. Dann gingen sie ungefähr zehn Minuten auf und ab und danach legten sie sich zum Schlafen nieder. Zum Beispiel Mais, habt ihr schon mal Mais gegessen, gerade reifgewordenen Mais, der weich gekocht wird? Christian kochte Maisbrei. Furchtbar, diese Pampe, sagte Ullrich. Aber man kann auch die Kolben kochen und die weichen Körner abknabbern. Ullrich knabberte mit Nottker, Renate und Christian am Samstag die Maiskörner von den Kolben. Die Abchasier trinken keinen Kaffee und keinen Tee und rauchen kaum. Zum Süßen nehmen sie Honig, keinen Zucker. Leise ließ Ullrich das Wasser in den Kessel laufen. Draußen war es noch dunkel. Er goß das sprudelnde Wasser auf den Nescafe. Er suchte den Zucker. Der Zucker war weg. Auf dem Tisch stand ein großes Glas Honig. Er schlürfte den ungesüßten Kaffee und starrte auf die drei kleinen Schalen.in denen Christian Körner eingeweicht hatte. Du mußt das mal probieren, hatte Renate gesagt, keine Wurst, sondern nur Weizenkeimlinge, man fühlt sich wirklich besser. Auch Nottker hatte das bestätigt. Das ist wie - er hatte nach einem Vergleich gesucht, aber dann doch keinen gefunden. Man muß es einfach selbst versuchen. Vier Tage lang hatte Ullrich kein Fleisch gegessen. Abends hatte er sich die Weizenkeimlinge eingeweicht, und morgens war er eine Viertelstunde früher aufgestanden, um in Ruhe die Keime, den Schafskäse und die Äpfel zu kauen. Am vierten Tag wurde ihm im Betrieb plötzlich schwindelig. Er fühlte sich schlapp. Er konnte kaum noch die Kästen auf die Werkbank heben. Abends hatte Christian, in Ullrichs Hemd und Socken, behauptet, das sei nur allzu verständlich. Sicherlich würde Ullrich in den Pausen schlingen. Kleine Häppchen, hatte Christian gesagt, gut kauen und einspeicheln. Ullrich saß im Pausenraum, keine Wurst auf dem Brot, dafür Äpfel und ein Joghurtmüsli. Hast du Schwierigkeiten, hatte Roland gefragt und den Daumen am Zeigefinger gerieben. Er wollte Ullrich Geld pumpen. Und nach der Sirene, im Waschraum, hatte ihn Erich, der Klotz, beiseitegenommen: Brukst du Zaster? 196 197 ■ Am Abend hatte Ullrich sein Brot wieder dick mit Mortadella belegt. Christian hatte nur den Kopf geschüttelt. Renate hatte Ullrich besorgt angesehen. Danach waren sie in den Gemeinschaftsraum gegangen. Ullrich las. Christian legte die MC 5 auf. Die Musik dröhnte. Ullrich ging in seine Kammer. Er versuchte zu lesen. Es war eisig kalt. Er ging wieder in den Gemeinschaftsraum. Er trank zwei Gläser Rotwein. Ihm war, als müßte er den Sinn der Zeilen mühsam heranziehen. Macht doch die Musik leiser, sagte Ullrich. Es ist nicht zum Aushalten, verdammt. Die Musik muß im Kopf sein, sagte Christian. Sonst kann man gleich Heintje im Radio hören. Da stand Ullrich auf. Er hatte neuerdings das Gefühl, als sei er gewachsen. (Tatsächlich hatte er zugenommen.) Er ging zum Plattenspieler und drehte ihn leiser. Ganz leise spielten jetzt die MC 5. Seit einiger Zeit spürte er nicht mehr diese ängstliche Unruhe (die Schweißausbrüche, den zugeschnürten Hals), wenn es zum Streit kam, im Gegenteil, er wurde jetzt ruhiger. Manchmal hatte er dann den Wunsch zuzuschlagen. Aber Christian stellte den Plattenspieler nicht lauter. Als Ullrich später mit Renate im Bett lag, hatte sie gesagt, das sei einfach unsozial, wie er sich verhalte. Er könne doch nicht alle majori-sieren, bloß weil er den Tick habe, in der Fabrik arbeiten zu müssen. An einem Sonntagmorgen erzählte Christian beim Frühstück von seinem Freund in Gatow, einem Maler. Der habe sich dort einen Bauernhof gemietet für nur 300 Mark mit Stall und Garten. Da gäbe es noch mehr leere Bauernhäuser. Dort draußen ist die Luft noch nicht verpestet, da herrscht Ruhe, kein Durchgangsverkehr, das ist Zonenrandgebiet, dort kann man zu sich selbst finden. Endlich könnte man auf organischer Basis Gemüse ziehen, keinen Kunstdünger, keine giftigen Gase, keine verschmutzten Flüsse. Der Rhein zum Beispiel, nicht vorstellbar der Gedanke, daß dort schon bald vier Kraftwerke stehen sollen. Der Rhein wird dann kochen. Die Natur ist aus dem Gleichgewicht geraten. Ullrich widersprach: Das liegt nicht an der Zivilisation, das liegt am Gesellschaftssystem. Da muß man ansetzen. Aha, sagte Christian, mit diesen ganzen deformierten Gestalten. Man muß erst den Menschen ändern, man muß mit dem Einfachsten anfangen, mit dem Wichtigsten, mit dem Essen. Wir müssen die Aufgabe auf uns nehmen, einen solchen allseitigen politischen Kampf unter der Leitung unserer Partei zu organisieren, damit alle oppositionellen Schichten diesen Kampf und diese Partei 198 nach Maßgabe ihrer Kräfte unterstützen können und es auch wirklich tun. Ende September verhungern in Biafra täglich zwischen 8000 und 10000 Menschen. Die Aufständischen sind nur noch im Besitz einer größeren Stadt: Umuahia. In Vietnam wird die Flotte der Flugzeuge, die Chemikalien versprühen, von vier auf acht Maschinen verstärkt. Weitere drei Maschinen vom Typ C 123 sollen im Oktober noch hinzukommen. Bisher wurden allein in Südvietnam über vier Millionen Morgen Dschungelgebiet entlaubt. Innenminister Benda will den Bundesgrenzschutz gegen «innere Aufrührer» aufrüsten. Grenzschutzeinheiten sollen im Landesinneren «in der Nähe der Ballungsräume» (Benda) stationiert werden, um «im Falle eines inneren Notstandes» eingreifen zu können. In der letzten Septemberwoche konstituiert sich die Deutsche Kommunistische Partei. Roland wird Mitglied. Im Pausenraum war niemand überrascht, ausgenommen Ullrich, der nicht wußte, daß Roland in der illegalen KPD gewesen war. Schon nach vier Tagen gab es auch eine kommunistische Betriebsgruppe. Drei Mann. Die anderen beiden kannte Ullrich nicht, die arbeiteten in anderen Hallen. Ullrich war noch einmal in den Keller gegangen. Im Keller diskutierten sie noch immer über den Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die ČSSR. Die verschiedenen Gruppen, obwohl in der Verurteilung des Einmarsches und in der Ablehnung der Politik der UdSSR einig, stritten sich heftig darüber, ob die Verurteilung von der korrekten Generallinie aus vorgenommen wurde. Da man sich aber gegenseitig vorwarf, die falsche Generallinie zu vertreten, war logischerweise jeweils auch die Begründung für die Verurteilung der Invervention falsch, also opportunistisch. Viele Abkürzungen verstand Ullrich inzwischen nicht mehr: ROTZPO SLB WISO-MLISK FDLP EAK Von dem blauen Dunst tränten ihm die Augen. Er war dann bald gegangen. Auch im Hinterzimmer vom Grünen Eck hatten sie über die CSSR diskutiert, aber nur ganz kurz (Petersen: die Sozialbürokraten in Moskau). Jeden Freitag traf sich dort die Betriebsbasisgruppe, die Petersen aufgezogen hatte: fünf Lehrlinge und ein junger Arbeiter. Sie lasen gemeinsam Lohn, Preis, Profit. Petersen hatte sich in die Lohnsteuerproblematik eingearbeitet. Er wollte den Kollegen beim 199 Ausfüllen des Lohnsteuerjahresausgleichs helfen. Vielleicht kommt man so an die Arbeiter ran, hatte er gesagt. Manchmal kam auch Tammo zu den Teffen. Ein kleiner, schwarzhaariger Student mit knallblauen Augen, der jedesmal von der Notwendigkeit redete, Betriebsgruppen zu gründen. Tammo arbeitete in keinem Betrieb. Zerschlagt den Uni-Provinzialismus, rief er. Der abstrakt moralische Internationalismus muß liquidiert werden. Mobilisierung der Massen. Tammo redete, als müsse er Luftballons aufblasen. Er deutete mit dem Zeigefinger auf die Lehrlinge: Die revolutionäre Front, dann in die Luft zeigend: Der radikale Kampf muß in die Betriebe getragen werden. Zerschlagt die Gewerkschaften. An einem Samstagabend saßen sie im Gemeinschaftsraum und sahen einen Hitchcock (Der unsichtbare Dritte). Plötzlich klingelte es. Roland. Ullrich führte ihn in den Gemeinschaftsraum. Sie sollten sich nicht stören lassen, sagte Roland und gab Renate die Hand, er wolle nur kurz mit Ullrich sprechen. Den Lapsangtee schlug er aus. Sie gingen in Ullrichs Kammer. Verdammt kalt hier, sagte Roland und zog ein zusammengefaltetes Blatt aus der Manteltasche. Das soll ein Flugblatt werden. Lies doch mal, auf Fehler und so. In der Endmontage sollten die Vorgabezeiten für den Akkord verkürzt werden. Woher wißt ihr das, fragte ihn Ullrich. Roland, im Mantel auf dem Stuhl sitzend, sagte nur: So was wissen wir eben. Das Flugblatt muß am Montag verteilt werden. Ullrich hatte den Text sorgfältig durchgelesen, aber nur zwei Komma hineingesetzt. Er schlug dann noch eine Kürzung vor. Sehr gut, sagte Roland und gab Ullrich an der Wohnungstür einen Knuff gegen den Oberarm. Wie findet ihr den, fragte Ullrich, als er in den Gemeinschaftsraum zurückkam. Mit dem arbeite ich in einer Halle. Ein Kommunist. Lustig, sagte Nottker. Was, fragte Ullrich. Was der für Augen hat, sagte Renate, wie Glasmarmeln. Nottker legte die Fünfte von Beethoven auf. Die waren schon wieder angeturnt. Ullrich zog die Parka über und setzte sich in seine Kammer. Eine Lesewut hast du, hatte Renate einmal zu Ullrich gesagt, wer hat dich bloß gebissen. Sie hatte dann Ullrichs Gang nachgemacht, ein ruhiger, wiegender Gang. Der war neu, behauptete sie. Du hast sogar deinen Gang geändert. Am Montagmorgen wurden schon im Umkleideraum die Flugblätter gelesen. Zurufe. Flüche. Fragen. Auch nach der Sirene und in dem 200 Lärm, der heute langsamer und schleppender einsetzte als sonst, war eine sonderbare Unruhe in der Halle. Immer wieder sah Ullrich zwei oder drei Arbeiter zusammenstehen und reden. Sogar auf den Klosetts hingen die Flugblätter. Mit Tesafilm an die Tür geklebt. Da stand auch plötzlich ein Spruch auf einer Abortwand: Akkord ist Mord. Im Glaskasten des Meisters tauchten immer wieder Typen in Anzügen und Sakkos auf. Abteilungsleiter, der Personalchef und Leute von der Vorstandsetage. Die rotieren ganz schön, sagte Roland zu Ullrich, als der ihm einen Materialkasten auf die Werkbank hob. Zu Hause, beim Abendbrot, fuchtelte Ullrich mit dem Butterbrot in der Luft herum: In der Frühstückspause hat keiner über Fußball geredet und dabei hatte der HSV doch gerade ein Spiel vergeigt. Da war plötzlich eine unheimliche Ruhe im Raum, als der Roland redete. Pscht, sagte Renate kauend. Man muß beim Essen in sich hineinlauschen, sagte Christian. Leckt mich am Arsch, rief Ullrich aufspringend, ihr Körner-Apostel. Er rannte raus. Vor der Haustür überlegte er, wohin er gehen sollte. Er fuhr zu Petersen. Streik, sagte Petersen, da muß man streiken. Nebenan war wieder dieser bellende Husten von Petersens Wirtin zu hören. Endlich reinhauen. Hab ich auch gesagt, sagte Ullrich, aber der Roland schätzt das anders ein. der meint, da würden nicht alle mitziehen, und vor allem, die würden nicht durchhalten. Außerdem ist es ja nur ein Gerücht, die haben die Informationen so hintenherum bekommen. Dann hätte man warten müssen. Die Vorgabezeiten erst kürzen lassen und dann draufschlagen. Die DKPler müssen zu Aktionen gezwungen werden. Es ist zum Kotzen. Da ist endlich mal eine streikreife Situation und die wiegeln ab. So einfach ist das auch nicht, sagte Ullrich. So ein Streik ist kein Happening. Da hängen unheimlich viele Menschen dran. Die haben Familien. Da muß man überlegen, wie die Frauen zu Hause reagieren. Ullrich wurde sich plötzlich bewußt, daß er wie Roland argumentierte, obwohl er noch am gleichen Morgen mit Petersens Argumenten gegen Roland andiskutiert hatte. Wenn so ein Streik in die Hose geht, wenn da nicht alle mitziehen, dann ist das ein ungeheurer Rückschlag, hatte Roland zu Ullrich gesagt. Gerede, sagte Petersen. Die Arbeiter wissen spontan am besten, was richtig ist. Und nun behaupte ich: 1. Keine einzige revolutionäre Bewegung kann ohne eine stabile und die Kontinuität wahrende Führerorganisation Bestand haben; 2. je breiter die Masse ist, die spontan in den 201 1 Kampf hineingezogen wird, die die Grundlage der Bewegung bildet und an ihr teilnimmt, um so dringender ist die Notwendigkeit einer solchen Organisation und um so fester muß diese Organisation sein (denn um so leichter wird es für allerhand Demagogen sein, die unentwickelten Schichten der Masse mitzureißen). Lister war da, sagte Renate am Abend. Der wollte dich sprechen. Kam direkt aus der DDR. Hatte wieder dieses Leuchten in den Augen, das DDR-Leuchten. Ich werde verrückt, wenn ich diese Typen sehe, die so stocksteif rumlaufen, bei denen ist jede Spontaneität futsch, sagte Christian. Sie saßen alle im Kreis auf dem Teppich. Jeder sollte den anderen einmal betasten. Die Augen schließen und mit den Händen das Gesicht des anderen ertasten, dann die Formen des Körpers, die Wärme des anderen Körpers spüren. Ullrich hatte Renates Gesicht mit seinen Händen berührt, ein weiches, feines Gesicht, bis sie sagte: Was hast du für rauhe Hände. Nach zwei Tagen erklärte die Betriebsleitung, daß die Zeiten neu ermittelt werden (die Refa-Leute hatten zuvor die Zeiten ausschließlich bei ausländischen Arbeitern gestoppt). Die lassen erst mal Dampf ab, sagte Roland. Aber die neuen Zeiten kommen. Jetzt machen sie das auf die sutsche Tour. Später im Waschraum sagte er zu Ullrich: Komm doch mal am Sonnabend zu uns mit deiner Freundin, so um acht. Ullrich wußte, daß sich Arbeiter feierabends kaum trafen. Da ging jeder seiner Wege. Das ist ungewöhnlich, hatte Ullrich zu Renate gesagt. Schon am Freitagabend überlegte er, was er Roland und seiner Frau mitbringen könnte. Wein oder Blumen. Ullrich war für Rotwein: Davon hat man wenigstens was. Renate sagte: Blumen, wenn schon. Am Samstagmorgen war er dann zur Uni gelaufen und hatte dort in einem Buchladen die Brennende Ruhr von Grünberg gekauft. Ein Raubdruck. Nach dem Abendbrot begann er sich umzuziehen. Ullrich suchte im Schrank nach einer Krawatte. Christian behauptete, er habe eine sehr schöne grüne Krawatte, aber die liege leider immer noch in der Wohnung der Schauspielerin. Schließlich hatte Ullrich eine gefunden (rotschwarz gestreift). Vor dem Spiegel mußte er den Knoten mehrmals schlagen, das eine Ende der Krawatte war jedesmal entweder zu lang oder zu kurz. Renate lachte und lachte: Du machst dich richtig fein, direkt feierlich. Ullrichs Jackett spannte. Er konnte es nicht zuknöpfen. Renate müsse einen Büstenhalter unter ihrem schwarzen durchsichtigen Kleid tragen. Man muß die ja nicht gleich vor den Kopf stoßen. Das sind die einfach nicht gewöhnt. Dann müssen sie das lernen, sagte Nottker und stieß mehrmals bei dem Wort lernen an. Komm doch mal in die Fabrik, sagte Ullrich. Punkt acht standen sie vor dem Neubau. Mach aber auch einen Diener, sagte Renate, wenn du die Hand gibst. Halt doch die Klappe, die können das doch hören. Ullrich zeigte auf die Sprechanlage. Oben, am Fahrstuhl, wartete Roland in Kordhosen und Pullover. Mensch, du hast dich ja fein gemacht, sagte er zu Ullrich. Ullrich gab Roland das Buch. Sabine, Rolands Frau, die er Schätzchen nannte, trug auch Kordhosen. Renate gab ihr die Blumen. Einen Augenblick stand Ullrich wortlos in der Diele, während Roland das Buch auswickelte und Schätzchen die Blumen bewunderte. In der Diele hing ein Spiegel mit einem schmiedeeisernen Rahmen. Ihr seht aus, als wollt ihr in die Oper, sagte Roland, richtig feierlich. Los, kommt mal rein in die gute Stube. Ullrich nahm sich die Krawatte ab, steckte sie in die Jackentasche. Im Wohnzimmer zog er die Jacke aus. Renate sah plötzlich aus, als hätte sie die Motten in ihrem schwarzen Schlabberkleid. Sie setzten sich. Ullrich und Roland in die Sessel. Schätzchen und Renate aufs Sofa. An der einen Wand des Wohnzimmers stand ein riesiger Schrank aus Palisander. In der Mitte ein mit grünen Butzenscheiben verglaster Teil, in dem Bücher standen. Die Titel waren durch das farbige Glas nicht zu lesen. Aber Ullrich erkannte die blauen Bände der Marx-Engels-Ausgabe. Bin ich gespannt drauf, sagte Roland, das Buch hochhaltend. Plötzlich ging langsam die Wohnzimmertür auf und ein kleiner Junge in einem Flanellpyjama kam herein. Du sollst doch schon schlafen. Er muß doch mal gucken, sagte Sabine. Das ist Peter. Peter gab Renate und Ullrich die Hand. Und wer ist das? Das ist Renate und das ist Ullrich, der arbeitet bei mir im Betrieb. Und dann, nach einer kleinen Pause, fügte Roland hinzu: Aber eigentlich studiert er. Ullrich ärgerte sich darüber, wie Roland das betont hatte. Dabei hatte er ihm einmal gesagt, er habe sein Studium an den Nagel gehängt, endgültig. 202 203 Komm, sagte Sabine, Peter auf den Arm nehmend, wir gehen jetzt ins Bett. An der Wand hing eine Graphik. Drei Phantombomber über einem brennenden vietnamesischen Dorf. Aus dem Flammenmeer ragten skelettierte Bäume. Ullrich war wieder aufgestanden und hatte sich das Bild von nahem angesehen. Ein Genosse, erklärte Roland, ein Maler in München, Schellemann. Kennst du den? Nein, sagte Ullrich. Den mußt du kennenlernen. Ein Klotz. Ein Urvieh. Der trinkt jeden unter den Tisch. Ein Dickmann mit Herz. Sabine trug eine Platte mit belegten Broten herein. Roland entkorkte eine Flasche Rotwein. Burgunder. Später waren sie auf die Betriebsgruppe im Werk gekommen. Erich arbeitet jetzt in der Gruppe mit. Wann trefft ihr euch eigentlich, hatte Ullrich gefragt. Freitags, sagte Roland. Aber ich fände es besser, wenn du Lehrer wirst, als wenn du zu uns in die Betriebsgruppe kommst. Meinst du denn, daß ich komme. Bin ich ziemlich sicher, sagte Roland. Es war schon sehr spät, als sich Renate und Ullrich verabschiedeten. Im Fahrstuhl küßten sie sich. Du hast ganz schön getrunken, sagte Ullrich. Vor dem Haus, in der naßkalten Dezembernacht, begann Renate zu lachen. Diese Geschichte von dem Kirchentag. Die Flugblattraketen. Und dann die roten Fahnen, die an Fallschirmen runterkamen. KPD lebt. Und dann die Frau von dem Genossen, lachte Ullrich, die bei dem Treff für eine Nutte gehalten wurde. Wie die nach dem Preis gefragt wird. Fünf Mark, sagt sie, weil sie keine Ahnung hatte. Aber das war viel zu billig. Und der Freier war sauer, weil sie dann nicht wollte. Und die Nutten waren sauer, weil die sie für eine Amateurin hielten, die die Preise versaut. Kannst du noch fahren, fragte Ullrich und küßte sie im Wagen. Lustig, deine Kommunisten, ganz anders als der Lister. Wie nennst du die Kapitalisten immer, hatte Roland lachend gefragt. Kapis, hatte Ullrich gesagt. Roland und Schätzchen wollten sich ausschütten vor Lachen. Immer wieder hatte Roland das Buch in die Hand genommen und darin geblättert. Er habe seit Jahren keine Romane mehr gelesen. Theorie und Sachbücher ja, aber keine Literatur. Zuletzt Tráven. Der Grünberg war Kommunist, hatte Ullrich gesagt, ich hab nämlich mal ein Referat über Arbeiterliteratur schreiben wollen. Roland hatte nachdenklich in dem Buch geblättert: Ich find das wirklich wichtig, wenn du Lehrer wirst. Das ist ein dufter Typ, sagte Renate, auch die Frau ganz locker und witzig. Sie ließ den Motor im Leerlauf aufheulen. Aber der Schrank, hast du diesen fürchterlichen Schrank gesehen? Was hast du gegen den Schrank, fragte Ullrich und zog den Arm von ihrer Schulter. Na, hör mal, dieser Klops. Vielleicht kam der Schrank aus der Möbelfabrik ihres Vaters, dachte Ullrich. Dieses gräßliche Bild in der Villa ihrer Eltern. Zwei Fingerspitzen, durch eine Stahlklammer verbunden. Schweigend saß er neben ihr. Was ist denn? Nichts, sagte Ullrich, nichts. In der Woche darauf waren Christian, Nottker und Renate nach Gatow gefahren. Sie wollten dort einen Bauernhof besichtigen. Renates Vater wollte, wenn nötig, Geld für die Miete zuschießen. Ullrich war zu Hause geblieben. Er hatte gesagt, er müsse endlich mal seiner Mutter schreiben. Aber wieder hatte er den Brief halbfertig liegenlassen und Lenin weitergelesen. Neben dem Sessel auf dem Teppich lag eine große Papprolle. Eine Rolle, in der Graphiken verschickt werden. Auf diese Rolle legte sich Christian j eden Morgen mit dem Rücken, vom Kopf bis zum Steißbein, ganz ausgestreckt. So entspannt man sich und atmet richtig. Richtiges Atmen ist das A und O. Man fühlt sich sicher und ruhig. Neuerdings lagen morgens auch Renate und Nottker auf dieser Papprolle. Sie blieben ganz ernst dabei. Probier doch mal, hatte Renate zu Ullrich gesagt, danach fühlt man sich wie neu. Ein Studentenzirkel knüpft Beziehungen zu Arbeitern an undbeginnt zu arbeiten, ohne jede Verbindung mit den alten Funktionären der Bewegung, ohne jede Verbindung mit Zirkeln an anderen Orten oder auch nur in anderen Stadtteilen (oder in anderen Lehranstalten), ohne jede Organisation der einzelnen Zweige der revolutionären Arbeit, ohne jeden systematischen Plan für eine Tätigkeit auf längere Zeit. Ullrich war noch einmal in Petersens Basisgruppe gegangen. Zwei Lehrlinge waren neu hinzugekommen. Petersen verlas einen Rechenschaftsbericht über die Arbeit im vergangenen Monat. Dann hatte Tammo wieder das Wort ergriffen. Neue Formen des revolutionären Kampfes müßten entwickelt werden. Ein Kampf, der sich konsequent gegen die bestehende Gewerkschaft richten müsse, die allein der Disziplinierung der Arbeiter diene. Systemsprengen. Zerschlagen. 204 205 / ^ r*« Tammo schob die Lippen vor, zeigte die Unterzähne beim Sprechen. Schweigend saßen die Lehrlinge herum. I Tammo zeigte mit dem Finger auf Ullrich: Auch er muß sich entscheiden. Was machst du überhaupt in deinem Betrieb? Hast du vielleicht noch andere Interessen? Private Scheiße? Dann zeigte Tammo mit dem Zeigefinger auf Petersen, der blaß und übermüdet am Tisch saß und Strichmännlein auf ein Blatt malte. Der Hauptwiderspruch muß verstärkt werden. Mao sagt: Wir können ein Ding nur ergreifen, wenn wir es fest packen, ohne den Griff auch nur im mindesten zu lockern. Die politische Gewalt kommt immer aus den Gewehrläufen, sagte I Tammo und stand auf, er müsse noch zu einer anderen Gruppe. Tammo hatte wieder einmal sein Bier nicht bezahlt. Tammo war so schnell nach seiner Rede verschwunden, daß Ullrich ihm nicht einmal hatte widersprechen können. Dafür hatte er sich dann mit Petersen gestritten. Petersen hatte von der revisionistischen Politik der DKP gesprochen, die vor lauter Taktiererei die revolutionäre Linie aufgegeben habe. Ihre Moskauhörigkeit. Was heißt denn das? ohne die UdSSR gäbe es kein Kuba und kein Nordvietnam mehr! I Die Revolution in Kuba ist doch gegen den Willen der Sowjets gemacht worden. Bei denen stehen doch wirtschaftliche Überlegungen an erster Stelle. Die Entwicklung der Wirtschaft in den sozialistischen Ländern hat doch auch eine revolutionäre Bedeutung, das kann man doch nicht so isoliert sehen. Dieser unkritische Dogmatismus. ! Diese undialektische Praxisferne. ] Ullrich kam sich wie in einem Boxring vor. Er saß am linken Kopfende des Tisches, Petersen am rechten. Dazwischen die Lehrlinge. Redete Petersen, sahen die Lehrlinge nach rechts, konterte Ullrich, sahen die Lehrlinge nach links. Manchmal mußten sie die Köpfe ganz schnell j hin und her wenden. | Die Anziehungskraft der Komitees (oder des Kampfbundes) nimmt | zu, es wächst das Ausmaß seiner Tätigkeit, und das Komitee erweitert \ diese Tätigkeit ganz spon tan: dieselben Menschen, die vor einem Jahr oder einigen Monaten in Studentenzirkeln auftraten und die Frage «Wohin gehen?» zu beantworten suchten, die Beziehungen zu den [ Arbeitern anknüpften und unterhielten, Flugblätter verfaßten und verbreiteten, knüpften nun Beziehungen zu anderen Gruppen von Revolutionären an, schafften Literatur herbei, machten sich daran, eine lokale Zeitung herauszugeben, beginnen von der Veranstaltung einer Demonstration zu reden und gehen schließlich zu offenen Kampfhandlungen über (wobei eine solche offene Kampfhandlung, je 206 nach den Umständen, entweder schon das erste Agitationsflugblatt oder die erste Nummer einer Zeitung oder die erste Demonstration sein kann). Und gewöhnlich führt gleich der Beginn dieser Aktion zum sofortigen und vollständigen Auffliegen. Sofort und vollständig, eben weil diese Kampfhandlungen nicht das Resultateines systematischen, im voraus durchdachten und von langer Hand vorbereiteten Planes für einen langen und hartnäckigen Kampf waren, sondern sich einfach aus dem spontanen Wachstum der taditionell betriebenen Zirkelarbeit ergeben haben. Spätabends kamen Renate, Nottker und Christian zurück. Sie erzählten begeistert: Ein großer Hof, mit einem riesigen Garten. Das Haus strohgedeckt. Obstbäume. Weit und breit kein Verkehr, ganz ruhig, wunderbar. Du mußt mitkommen, sagte Renate. Am Scheißgeld soll es nicht liegen. Ullrich sagte: Nein. Der Gedanke an den Streit mit Petersen quälte ihn. Er hatte wütend gegen Petersen argumentiert, aber zugleich hatte er oft Zweifel an dem gehabt, was er sagte. Er hatte seine eigenen Zweifel niedergeschrien. Eines Abends kam Ullrich später nach Hause. Draußen schneite es. Ein feuchter, dickflockiger Schnee. Graubraun lag der Matsch auf den dunklen Straßen. Zu Hause hing er seine nasse Parka über die Badewanne. Nottker und Christian waren nicht im Gemeinschaftsraum. Er ließ sich in einen Sessel fallen und zog Renate an der Hand zu sich. Er fuhr ihr mit der Hand an der Innenseite ihres Oberschenkels hoch. Wie wars denn heute mit der Atemtechnik. Gut, sagte sie und ließ sich auf Ullrichs Schoß ziehen. Dann sah sie ihn einen Moment an und sagte: Ich habe heute mit Christian geschlafen. Ullrich hörte sein Herz schlagen. Eigentlich wollte er gar nicht fragen, aber er fragte dann doch: Warum? Was für eine idiotische Frage, dachte er und fragte nochmals: Warum? Es war gut, sagte sie, verstehst du, es war schön. Wir hatten uns berührt und plötzlich haben wir zusammen geschlafen. Plötzlich habt ihr zusammen geschlafen, wiederholte Ullrich. Seine Stimme klang merkwürdig belegt. Ja, sagte sie und klammerte sich an Ullrich, aber das ändert nichts an uns, das hat überhaupt nichts mit uns zu tun. Das ist richtig, dachte er, aber zugleich war ihm, als zöge sich sein Magen zusammen, als habe er einen Stein in der Brust, der ihm das Atmen schwer machte. Er stieß sie hoch, hielt sie aber mit einem wütenden Griff am Arm fest. 207 Ich schufte und ihr bumst hier rum, schrie er. Er konnte einfach nicht anders. Renate sah ihn einen Augenblick starr an, dann, sich losreißend: Du redest wie ein Spießer. Ihr liegt auf dem Sack. Ihr futtert eure Körner. Wie siehst du überhaupt aus? Sieh dich mal an. Du siehst aus wie deine Großmutter. Dieser schwarze Fetzen. Eure Haschpfeifchen, eure Schlapphüte. Ihr Schmarotzer. Ullrich rannte ins Bad, riß seine Parka vom Bügel und rannte die Treppe hinunter. Und plötzlich, in das Getrampel seiner Schritte und in seine gedankenlose Wut hinein, wurde ihm klar, daß sein Brüllen verlogen war und ungerecht. Er hatte aus einem ganz anderen Grund gebrüllt. Daß Renate mit Christian geschlafen hatte, war ihm nur ein willkommener Anlaß gewesen. Ihr Schmarotzer. Und im Hinunterlaufen dachte er, ich sollte wieder rauflaufen. Ich hätte schon lange mit ihr reden sollen. Aber dann dachte er an Christian, und er lief aus dem Haus. Er ging ins Cosinus. Da saßen scheinbar noch immer die gleichen Typen. Auch der Student mit dem Vollbart bediente noch. Es hat sich nichts verändert, dachte Ullrich. Er ließ sich an dem großen runden Tisch vollaufen. Einmal glaubte er so etwas wie Angst oder Alleinsein zu spüren. Aber dann merkte er, daß er das hatte spüren wollen. Er lachte über jeden Witz, der am Tisch erzählt wurde. Er erzählte selbst einen: Warum lächelt Lübke immer, wenn es blitzt? Weil er glaubt, er wird fotografiert. Später hatte sich Ullrich mit einem Typen am Tisch prügeln wollen. Zwei Mann hielten Ullrich fest. Jemand hatte ihn nach Hause gefahren. Als Ullrich am nächsten Morgen zur Stempeluhr kam, war seine Karte schon abgestempelt. Das war streng verboten. Ullrich zog den Hubwagen durch die Gänge. Du bist ja immer noch nich klor im Kopp, wat, sagte Erich und hob sich selbst den Materialkasten auf die Maschine. Das taten die meisten an diesem Morgen. Im Waschraum gab Roland Ullrich Feuer. Ullrich heulte beinahe. Setz dich aufs Klo, sagte Roland, da kannst du pofen. Wir holen dich, wenn wir dich brauchen. 12 Ullrich stand zwischen seinen beiden Koffern auf dem Bahnsteig. Nottker drehte sich eine Zigarette. Renate starrte auf die Bahnsteiguhr. Das ruckartige Vorspringen des schwarzen Minutenanzeigers. Sie waren viel zu früh auf dem Bahnsteig angekommen. Das Gespräch hatte immer wieder gestockt. Immer wieder hatte Ullrich nach belanglosen Sachen gefragt, als sei er verpflichtet, das Gespräch in Gang zu halten. Auf einmal hatte Renate angefangen zu weinen. I Während ihr die Tränen herunterliefen, lachte sie und sagte: Ich bin | doch eine sentimentale Ziege. Endlich das Quäken des Lautsprechers: Auf Bahnsteig zwölf hat Einfahrt der D-Zug nach München über - Die Wartenden griffen zu den Koffern. Rufe. Darüber der Lautspre-I eher. Der Zug lief ein, die E-Lok, der Gepäckwagen, dann die Personenwagen. Ullrich und Nottker hatten je einen Koffer gepackt und schleppten sie nach vorn. Quietschend hielt der Zug. Das Zischen eines Bremsventils. Ullrich riß die Waggontür auf, stieg ein. Nottker stemmte ihm den Koffer hoch. Aus dem Schwung heraus, rief Ullrich. Ganz schöne Ottos, schnaufte Nottker. j Ullrich lief durch den Gang, fand schließlich ein Abteil, in dem nur ein í Mann saß. Ullrich legte seine Parka auf den freien Fensterplatz. Dann j wuchtete er die Koffer in das Gepäcknetz. Nottker kletterte wieder j aus dem Waggon. Ullrich stand oben in der offenen Tür, unten auf j dem Bahnsteig Renate und Nottker. Sie redeten von der Fahrzeit und I in welchen Städten der Zug halten würde. Dann schwiegen sie wieder. Jemand stieg ein, drängte sich an Ullrich vorbei. Ullrich stand wieder schweigend in der Tür. Dann endlich kam wieder das Quäken des Lautsprechers: Bitte die Türen schließen. Ullrich zog sofort die Tür zu. Aber dann fiel ihm ein, daß er Renate nicht einmal umarmt hatte. Er versuchte das Türfenster herunterzu- ! ziehen. Es klemmte. Er zerrte an dem Griff. Renate sagte etwas. Er | sah nur die Bewegungen ihres Mundes. Er rüttelte am Fenster. Dann I fuhr der Zug an. • Winkend gingen Nottker und Renate neben dem anfahrenden Zug j her. Nottker blieb langsam zurück, während Renate neben dem ! schneller werdenden Zug herlief. Ihr wehendes schwarzes Haar. Ullrich drückte sein Gesicht an die schmutzige Scheibe. Plötzlich blieb sie stehen. Einen Moment noch sah er ihr blaues Seidentuch in der Luft. Der Bahnsteig wurde schnell schmaler, brach ab, dann das Gewirr der : Schienen, die sich gabelten und wieder zusammenliefen. Drüben, am Rande der Gleise, der schmutziggraue Klinkerbau der Hauptpost. Durch die weißgraue Wolkendecke leuchtete an einigen Stellen blau- 1 i 208 209 er Himmel. Es riecht nach Frühling, hatte Ullrich behauptet und hörbar die Luft durch die Nase eingesogen, als sie aus dem Haus gekommen waren. Er hatte dann aber nicht sagen können, wonach es roch. Sie hatten die Koffer in Renates Minicooper verstaut. Renate hatte für Ullrich Mohnkuchen gebacken. Den hatte sie aus Gatow mitgebracht. Vor fast zwei Wochen waren Christian, Renate und Nottker ausgezogen. Gemeinsam mit Ullrich hatten sie die Möbel und Bücher hinuntergetragen und auf einen LKW geladen, den Renate von ihrem Vater ausgeliehen hatte und den Christian nach Gatow fahren sollte. Ullrich hörte plötzlich den Hall seiner Stimme in den leeren Zimmern. Komm doch mit, sagte Renate, du kannst doch die zwei Wochen noch in Gatow wohnen. In Gatow gibt es keine Bücher. Er lachte, um ihr zu zeigen, daß es ein Witz und keine Anspielung sein sollte. Aber als er dann durch die leere Wohnung ging, die bis auf seine Kammer ausgeräumt war, überlegte er, ob er nicht mitfahren sollte. Seine Schritte hallten in den Räumen. Aber er war dann doch geblieben. Der Zug schlingerte über Weichen. Ullrich ging zum Abteil. Neben dem Mann saß jetzt ein altes Ehepaar. Warum denk ich sofort, daß das ein Ehepaar sein muß, bloß weil die alt sind, überlegte Ullrich. Er nickte den beiden zu. Die sagten: Guten Tag, fast gleichzeitig. Ullrich setzte sich dem Mann gegenüber ans Fenster. Der Mann blätterte in einem Fahrplan, leckte immer wieder den Zeigefinger an, blätterte. Die beiden Alten sprachen leise miteinander. Die Frau holte aus einem Plastikbeutel (Karstadt) Äpfel, Brotstullen und gekochte Eier. Der alte Mann zog aus einer Tasche eine Thermosflasche heraus. Die Frau bot Ullrich einen Apfel an. Ullrich war so überrascht, daß er ablehnte. Ich habe schon gegessen, sagte er. Er streckte die Beine aus, schräg an dem Mann vorbei, der wie gehetzt in dem Fahrplan blätterte. Anfang Januar hatte Christa ihn besucht. Sie saß, als er abends nach Hause kam, im Sessel, die Beine übereinandergeschlagen, die Haare hochgebunden. Du bist immer noch Arbeiter, hatte sie gesagt. Später hatte Ullrich versucht, sich an den Tonfall zu erinnern. Hatte sie das ironisch gesagt? Er hatte (nach der anfänglichen Überraschung) ruhig neben ihr gesessen, bis ihm auffiel, daß sie auch in Bamberg das Haar hochgebunden getragen hatte. Er war unruhig geworden und schließlich aufgestanden und vor ihr im Zimmer hin- und hergegangen, während sie von ihrer Arbeit im Bayerischen Rundfunk erzählte. 210 Ihr Chef hatte ihr vor einigen Tagen eine Sendung gestrichen. Eine Sendung politischer Gedichte über die faschistische Junta in Griechenland. Die Sendung sei ihm, so hatte ihr Chef wörtlich gesagt, zu einseitig, da hätte auch die andere Seite zu Wort kommen müssen. Aber wer ist denn die andere Seite, hatte Christa empört gesagt. Ullrich hatte den Wunsch, mit ihr wegzufahren. Sofort. Noch heute Nacht. Er erzählte von einem Redakteur, der auf einem Teach-in gesprochen hatte. Der hatte Ärger bei Springer bekommen, weil er einen Artikel über Vietnam geschrieben hatte. Ullrich erzählte so zusammenhanglos, daß Christa immer wieder nachfragen mußte. Wie selbstverständlich sie dieses teure Kleid trug, in leuchtendem Grün. Der hatte sich den Artikel aber nicht streichen lassen, erzählte Ullrich und überlegte, wohin er mit ihr fahren sollte. Der hat sich gewehrt. Und, fragte Christa, und dann. Er wurde gefeuert. Fristlos entlassen. Eben, sagte Christa, draußen sieht es ganz anders aus. Später hatte er sich darüber geärgert, daß er nicht gleich gesagt hatte: Du meinst wohl in der Fabrik. Sie nannte Leute beim Vornamen, von denen Ullrich früher Romane gelesen hatte. Weihnachten war sie auf einer Fete von Augstein. Politisch indiskutabel, der Mann, sagte sie, aber sonst ganz nett. Ullrich setzte sich wieder. Interessante Leute, sagte sie. Er hatte plötzlich diese häßliche kleine Laufmasche an ihrem Strumpf entdeckt. Schwarze Strümpfe, die so auffällig dezent zu dem grünen Kleid paßten. Nachdem sie gegangen war, fragte er sich, ob sie schon immer so gewesen war, oder war er es, der sich so verändert hatte? Er hatte in seiner Kammer gesessen und gegrübelt. Er hatte nach einem Wort für seine Stimmung gesucht. Trauer. Er hatte kein anderes finden können. Ein altmodisches Wort, das ihn beunruhigt hatte. Mit hohlem Poltern fuhr der Zug über die Eibbrücke. Am Fenster huschten die schwarzen Eisenträger und Verstrebungen vorbei. Dahinter vom Wind graugrün aufgerauht die Elbe. Am Horizont die Türme der Stadt. Ullrich hätte aufspringen mögen, irgend etwas tun. Gern wäre er jetzt neben dem Zug hergelaufen. Warum ausgerechnet Volksschullehrer, hatte Renate gefragt. Ich kann es einfach nicht glauben, nur Volksschullehrer, hatte sie mehrmals gesagt, so, als wolle Ullrich ihr etwas verheimlichen. Zwei Tage nach dem Besuch bei Roland hatte Ullrich sich einen Leitfaden der Pädagogik gekauft. Ullrich las, während der semmel- 211 blonde Christian auf seiner Papprolle Atemübungen machte. Nottker hatte das Buch mit spitzen Fingern angefaßt. Pädagogik. Du tust mir leid. Hast recht, sagte Ullrich. Merkst du gar nicht, du gehst doch rückwärts. Ja, ja, sagte Ullrich. Er ertappte sich immer häufiger dabei, ja, ja zu sagen, ohne zuvor genau zugehört zu haben. Wie bist du plötzlich darauf gekommen, hatte auch Petersen gefragt, nachdem Ullrich ihm erzählt hatte, daß er Lehrer werden wollte. Da sind noch die Arbeiterkinder, hatte Ullrich gesagt, da kann man noch was machen. Als Roland sagte: Werd mal Lehrer, da hat er nur ausgesprochen, was mir irgendwie schon klar war, nur eben unausgesprochen. Früher erschien mir alles wie erstarrt, wie unabänderlich festgelegt. Ist das jetzt deine revolutionäre Strategie, hatte Petersen gefragt: Alle in die Volksschule. Natürlich nicht. Jeder an seinen Platz. Und organisiert. Als Einzelkämpfer machen sie dich fertig. Aber dann hatte Ullrich gemerkt, daß Petersens Frage nicht ernst gemeint war. Ullrich hatte sich inzwischen erkundigt, wieviele Semester ihm angerechnet würden, wie viele Praktika er machen mußte. Das kommende Jahr hatte er schon genau eingeteilt. Abends, wenn er aus der Fabrik kam, las er. Und schließlich hatte er auch Ingeborg geschrieben, einen langen, ausführlichen Brief. Ihre Antwort war vier Tage später gekommen. Sie war Referendarin an einer Oberschule in München. Sie hatte von den Arbeitskreisen geschrieben und von der Gewerkschaft (dort muß unbedingt ein reaktionärer Vorstand abgewählt werden). Ullrich müsse sofort in die GEW eintreten, dort müsse endlich eine vernünftige Politik gemacht werden. Und dann mit ihrem Freund hatte sie eine Projektgruppe für die Gesamtschule aufgezogen. Die Süderelbe. An dem Ufer stand hohes Schilf. Auf dem dunklen Wasser: Möwen. Wie sie am ersten Weihnachtstag am Eibufer entlanggegangen waren. Renate in der Mitte. Ihre Angst vor Möwen, seit sie den Hitchcock gesehen hatte. Der Händedruck in seiner Parkatasche. Conny in seiner Schaffellweste. Vor einer Woche hatte Conny angerufen. Ob er einige Nächte bei Ullrich schlafen könne. Ullrich hatte ihm gesagt, die Wohnung sei leer, sehr viel Platz, aber verdammt ungemütlich. Er würde sich freuen, wenn er käme. Ullrich hatte ihn gar nicht erkannt, als er die Tür öffnete. Der Bart war ab. Die Haare kurz geschnitten, die Koteletten gestutzt, der Nacken sorgfältig ausrasiert. Und unter seinem blauen Regenmantel trug er nicht sein Schaf, sondern ein dunkelgraues Jackett. Conny ging an dem staunenden Ullrich vorbei in den früheren Gemeinschaftsraum. Conny sagte nur: Hallo, und setzte sich auf den einzigen Stuhl in der Wohnung. Mensch, weißt du noch, damals der Polizei-VW. Ja, sagte Conny, etwas sehr dilettantisch das. Conny kramte eine Zigarette aus der Packung und hielt die Packung dann Ullrich hin. Connys Hand zitterte leicht. Was machst du, hatte Conny dann gefragt. Ullrich erzählte, daß er bis vor zwei Wochen in einer Fabrik gearbeitet habe. So beruhigt man sein schlechtes Gewissen, hatte Conny gesagt und war aufgesprungen. Er schnippte die Asche auf den Boden. Jetzt glauben plötzlich alle, wenn sie ein paar Monate im Blaumann rumlaufen, hätten sie ihr Teil getan. Die Arbeiterklasse, wenn ich das schon höre. In Vietnam krepieren sie, in Südamerika, und ihr lauft stolz mit einem Schraubenschlüssel durch die Gegend. Der blanke Opportunismus ist das. Die Arbeiter können die Scheiße nicht verändern, die sitzen nämlich selber schön dick drin, so schön, daß sie sich wohlfühlen. Connys Stimme hallte. Was schlägst du denn vor, hatte Ullrich ruhig gefragt, was soll man machen? Da hatte Conny einen Revolver aus der Jackentasche gezogen: Das. Später wußte Ullrich nicht, was ihn mehr erschreckt hatte, dieses nervös verkniffene Gesicht von Conny oder der schwarze Revolver. Aber einen Augenblick hatte er den albernen Wunsch, Conny mal um den Revolver zu bitten. Ullrich hatte noch nie einen richtigen Revolver in der Hand gehabt. Aber er hatte dann nur gesagt: Was willst du jetzt mit einem Ballermann? Conny hatte mit der Pistole herumgefuchtelt: Wir brauchen Waffen. Die andere Seite ist doch schon dran. Bundesgrenzschutzeinsatz gegen streikende Arbeiter, Notstandsübungen, Panzerspähwagen für die Bullen. Dann schieß doch mal mit dem Ding einen Panzer ab. Das kann man nur rechtzeitig bekämpfen. Aus dem Untergrund. Entschlossen und mit Waffen. Ullrich hatte nur: Aber, gesagt, da war ihm Conny schon ins Wort gefallen. Das ist das Aber, das ich überall höre. Dahinter verkriechen sich alle. Da gibts plötzlich Tausende von Abers. Man muß wählen. Auch du mußt dich entscheiden. Conny hielt den Revolver hoch: Alles andere ist Spruch. Die Revolution machen nicht ein paar Intellektuelle mit einem Colt in 212 213 der Jackentasche, hatte Ullrich gesagt. Da gibts nur den langen organisierten Weg in die Betriebe, in die Schulen, in die Universitäten, in die Wohngebiete. Mit den Arbeitern, für die Arbeiter. Conny war dann doch nicht über Nacht geblieben. Er hatte seinen Mantel übergezogen und gesagt: Wir werden uns wiedersehen. Er hatte Ullrich nicht einmal die Hand gegeben. Im Treppenhaus sagte er nochmals: Wir werden uns wiedersehen. Ullrich hatte über diesen Satz nachgegrübelt. Conny wollte vielleicht damit sagen, daß er recht behalten würde. Er hatte das wie eine Drohung gesagt. Aber es hatte eher verzweifelt geklungen. Ihm war plötzlich, als säße er in diesem weißen leeren Zimmer wie in einem Gefängnis. Er war rausgelaufen. Draußen* regnete es. Er ging wieder hinauf und versuchte zu lesen. Er konnte sich nicht konzentrieren. Er hatte sich hingelegt, aber nicht schlafen können. Erst gegen Morgen war er eingeschlafen, doch schon bald aus einem wüsten Traum aufgeschreckt. Man hatte ihn auf eine Holzscheibe geschnallt. Die Scheibe drehte sich. Das schwindelerregende Rotieren. Er befand sich in einer Manege. Jemand schoß auf ihn. Der Mann, der Ullrich gegenübersaß, hatte inzwischen den Fahrplan beiseite gelegt und blätterte in einer Illustrierten. Der alte Mann kaute vorsichtig das Brot, trank zwischendurch aus dem roten Becher der Thermosflasche und sagte aus dem Abteilfenster zeigend: Sieh mal, da. Ja, sagte seine Frau, schön. Ullrich sah hinaus. Aber er sah nur flache Felder, kahle Büsche und zwei Kühe, die eine hatte eine Persenning auf dem Rücken. Er hätte gern die beiden Alten gefragt, was sie schön gefunden hatten. Er nahm sich vor, gleich von München aus seinen Eltern zu schreiben. Der Kontrolleur riß die Abteiltür auf. Ein dickes Buch unter den Arm geklemmt, in der rechten Hand den Kartenzwicker, verlangte er die Fahrkarten. Nachdem er die Fahrkarten von Ullrich und dem alten Ehepaar geprüft hatte (Ullrichs Karte besonders sorgfältig), stand er wartend vor dem Mann, die Knie durchgedrückt. Der Mann suchte hektisch in seinen Jackentaschen, dann wühlte er in den Taschen seines Mantels, der neben ihm hing, schließlich suchte er in seiner Aktentasche. Was ist denn, fragte der Kontrolleur ungeduldig. Endlich fand der Mann seine Fahrkarte in der Innentasche seiner Jacke. Er reichte sie dem Kontrolleur und sah ihn dabei ängstlich von unten an. Der Kontrolleur drehte die Karte zweimal um, knipste sie und gab sie zurück. Der Kontrolleur schlug die Abteiltür zu. Unfreundlich, murmelte der Mann. Ist auch kein schöner Beruf, sagte Ullrich, auf die Dauer, immer die Leute kontrollieren. Ein Beruf, der mal überflüssig wird, wenn man kostenlos reisen kann. Der Mann sah Ullrich einen Augenblick unsicher an, dann griff er zur Illustrierten und versteckte dahinter sein Gesicht. Als Kind hatte Ullrich eine Zeitlang Fahrkartenkontrolleur werden wollen. Er hatte sogar eine kleine Spielzeugzange, mit der er Pappstücke knipste. Das Dröhnen der Räder. Die Stahlmasten flitzten in gleichmäßigem Rhythmus vorüber. Nachdem Ullrich gekündigt hatte, war er mit Roland und Ernst auf ein Bier in eine Kneipe gegangen. Brennende Ruhr, das habe ihm gefallen, sagte Roland, seine Frau lese das gerade. Ullrich soll ihm doch mal ein paar solcher Bücher aufschreiben. Sie hatten dann an der Theke stehend ihr Bier getrunken. Ullrich dachte, sie müßten doch mal auf seinen Abschied zu sprechen kommen. Aber die redeten nur von der Betriebsversammlung am kommenden Montag. Sie hatten das Bier ausgetrunken und schon gezahlt, da schob Roland Ullrich einen Zettel rüber: Die Adresse von einem Genossen, du weißt, dieser Dickmann, der Maler. Bei dem kannst du erst mal unterkriechen. Sie hatten Ullrich auf die Schulter geschlagen: Machs gut. Das war alles. Das war eigentlich gar kein Abschied, dachte Ullrich. Draußen brach plötzlich die Sonne durch. Die weiße Wolkendecke war ausgefasert, dahinter der hellblaue Himmel. Die Bodenwellen im Licht der Sonne erschienen Ullrich viel höher als jene, die noch im Schatten der Wolken lagen. Es riecht nach Frühling, hatte Ullrich gesagt. In München würde er Wolfgang besuchen. Wolfgang und die Geschichte von Albert. Albert, der die Flugblätter verbrennt. Albert, der über die Zäune steigt und die verkohlten Papierschnitzel einsammelt. Nieder mit dem Henker Hitler. Albert, der im KZ war. Ullrich versuchte, sich die Landschaft draußen einzuprägen. Die Bodenwellen, Äcker und Wiesen, dazwischen, wie struppige Inseln, kahle Gehölze. Der Alte schraubte sorgfältig den roten Deckel auf die Thermosflasche. Die breiten, abgearbeiteten Hände. Die Frau faltete das Butterbrotpapier zusammen, steckte es in einen Beutel. Ullrich lächelte sie an. Der Speisewagen ist so teuer, sagte sie. Und dann erzählte sie, daß sie und ihr Mann in Urlaub fahren. Zum erstenmal seit sechs Jahren. Ich bin nämlich gerade auf Rente gegangen, sagte der Alte. Wir haben für diesen Urlaub lange gespart, sagte sie. 214 215 Wir fahren nach Oberstdorf. Kennen Sie das? Nein, aber es soll sehr schön sein. Und wohin fahren Sie? Ullrich erzählte ihnen, daß er nach München zurückfahre, um dort sein Studium zu beenden. Er wolle Volksschullehrer werden. Renate und Nottker würden jetzt auf dem Weg nach Gatow sein, wo Christian und Erika warteten. Erika war eines Tages aufgetaucht und hatte gesagt, mir stinkts. Im Keller spalten sich die Gruppen. Jetzt würde sie mit den anderen Salate auf biologischer Basis ziehen. Man muß das einfach mal versuchen, hatte die rothaarige Erika gesagt. Wenn Ullrich abends nach Hause kam, müde, hatte er sich sofort nach dem Abendbrot über seine Pädagogikbücher gesetzt. Einmal war er darüber eingeschlafen. Das ist doch zwanghaft, hatte Nottker gesagt, wie du arbeitest. Aber wenn du ein gutes Gewissen dabei hast, hatte Christian gesagt, mit einem feinen Lächeln. Doch dann, eines Tages, saß Nottker abends nicht mehr vor dem Fernseher, hörte auch nicht mehr die Fünfte, sondern saß in seinem Zimmer. Nottker arbeitete wieder. Er beschriftete Geldscheine. Mit einem schwarzen Filzstift schrieb er klein, aber gut leserlich Sprüche auf die Ränder der Banknoten oder ließ sie als Spruchblasen aus den Mündern der Dürerköpfe kommen. Auch dieser Schein verliert jedes Jahr 5 % seines Wertes. Das ist Papier! Krupp Junior hat jedes Jahr 200000 von diesen Scheinen. Auf die Zehnmarkscheine schrieb er: Im steten Wind der Inflation. Subversive Arbeit nannte Nottker das. Eine Arbeit, die er in Gatow in Ruhe fortzusetzen hoffte. Die Schwierigkeit aber war, an eine ausreichende Anzahl von Banknoten heranzukommen. Is doch Tineff, hatte Roland gesagt, als Ullrich ihm einen beschrifteten Schein zeigte. Warum nicht, hatte Ullrich gesagt, man muß alles versuchen. Vielleicht bewirkt auch das was. Am Bahndamm ein Dorf. Fachwerkhäuser, einige strohgedeckt. Am Dorfausgang, an einer Weggabelung, standen drei Milchkannen. Sie standen da, als hätten sie noch eine andere Bedeutung. Sie hatten sich in einer Kneipe verabredet. Im Ostereck, hatte Petersen am Telefon gesagt. Das Ostereck lag halb im Keller, drei oder vier Stufen führten hinunter. Eine Holztür, die sich nur mit einiger Anstrengung aufziehen ließ, dann ein schwerer Filzvorhang, den man beiseiteschieben mußte. Im Raum bläulicher Tabakqualm. Die meisten der hellgescheuerten Holztische waren besetzt. Es roch nach Bier und Rauch. An der Theke mit dem verchromten Schankhahn standen Männer, dazwischen erkannte er Petersen in seiner schwarzen Lederjacke, ein Glas Bier in der Hand. Neben ihm ein älterer Mann, der auf Petersen einredete. Hallo, sagte Petersen, als sich Ullrich zu ihm hindurchdrängte. Er nickte, wandte sich dann gleich wieder dem Alten zu. Ullrich bestellte ein Bier. Weißt du, meine Olle, die hat immer gesagt, Kamille, sagte der Alte, Kamille is bi Schnöf am besten. Gerade wenn die Nes verstoppt is. Dann geit dat weg wie nix. Der Alte trank sein Bier aus und bestellte sich noch ein Lütt und Lütt. Er sah Ullrich mit trunkenen Augen an, wandte sich dann wieder Petersen zu und, auf Ullrich zeigend: Dien Fründ? Ja, sagte Petersen. Is dat ok ein Revolutionär? Petersen zögerte einen Augenblick, dann sagte er: Ja. God, ihr seid noch jung. Er klopfte Ullrich auf die Schulter. Ullrich sah die grauen Bartstoppeln und die braunen Zähne. Die blaue Schifferjacke war bekleckert. Komm, sagte Petersen, wir setzen uns dort hin. Er zeigte auf einen freien Tisch in der Ecke. Wer war denn das? Kurt, sagte Petersen, das war Kurt. Der war mal Ewerführer. Ist jetzt aber Rentner. Hat aber immer noch Durchblick. Ist bloß völlig draußen. Und was ist mit seiner Frau? Die ist gestorben, vor ein paar Wochen. Krebs. Jetzt betrinkt er sich jeden Abend hier. Ullrich sah vor sich hin auf den Holztisch. Mit der Kante eines Bierfilzes zog er die ausgewaschene Maserung nach. Was macht die Lehrlingsgruppe, fragte Ullrich schließlich. Schwierigkeiten. Tammo hat sie gespalten und hat einen eigenen Verein aufgemacht. Wir sind nur noch vier. Ullrich stellte sich vor, wie sich Petersen nur noch mit einem Lehrling im Hinterzimmer vom Grünen Eck traf. Petersen dozierte über den Kapitalverwertungsprozeß. Sonderbarerweise konnte er sich Petersen nicht kahlköpfig vorstellen. Hast du ein Zimmer in München, fragte Petersen nach einer Pause unvermittelt. Nein, aber ich hab die Adresse von einem Genossen.(Genosse, konnte er das so sagen?) Einer von der DKP, sagte Petersen. Sie hatten wieder schweigend nebeneinander gesessen. Ullrich war plötzlich aufgefallen, wie wenig er von Petersen wußte (und Petersen 216 217 von ihm). Er wußte, was Petersen über Habermas dachte (ein bürgerlicher Wissenschaftler), über die DKP (revisionistische Tendenzen), über Kuba, über die Randgruppenstrategie. Aber Ullrich wußte nicht, welche Musik Petersen mochte. Tanzte Petersen? Schwamm er gern? Ging er manchmal spazieren? Was war überhaupt sein Vater? Ullrich blies vorsichtig den Rauch an Petersens Gesicht vorbei. Was macht eigentlich dein Vater, fragte Ullrich ihn dann unvermittelt. Petersens erstauntes Gesicht. Erst nachdem Ullrich seine Frage wiederholt hatte, erzählte er. Petersens Vater war gestorben, als Petersen sechs Jahre alt war. Er konnte sich vor allem an seine großen Hände erinnern. Hände, vor denen er manchmal Angst gehabt hatte. Sein Vater war Dreher in Rendsburg. Er ist überfahren worden. Vermutlich war er betrunken. Jedenfalls bekam seine Mutter nur eine kleine Rente. Er hat nie mit ihr über den Tod seines Vaters gesprochen, bis heute nicht. Seine Mutter war Garderobenfrau im Rendsburger Theater. Wenn Nachmittagsvorstellungen waren, hat er mit ihr hinter dem Garderobentisch gesessen und seine Schulaufgaben gemacht. Die Schule hat ihm nämlich Spaß gemacht, ja richtigen Spaß. Stundenlang brütete er über Matheaufgaben, die sonst niemand lösen konnte. Ein paarmal haben ihn welche aus seiner Klasse verdroschen. Er galt als Streber. Nachdem ihn gleich drei auf dem Nachhauseweg verdroschen hatten, ging er in einen Boxverein. Seitdem konnte er sich alle vom Hals halten, auch die Söhne der Richter und Ärzte, die ihn damit aufzogen, daß seine Mutter ihren Eltern die Mäntel im Theater abnehmen mußte. Manchmal hat er bei den Proben im Theater zugesehen. Wie die Kulissen hin- und hergetragen wurden, das habe er damals als komisch empfunden. Seitdem habe er auch was gegen das Theater. Gern ist er ins Kino gegangen. Auch heute noch. Sein Taschengeld verdiente er sich mit dem Austragen von Werbeschriften. Peinlich war ihm, wenn er unten an der Haustür klingeln mußte und dann eine Stimme durch die Sprechanlage fragte, was man wolle. Das war in den Neubauten. Lieber lief er in den alten Wohnblocks alle Stockwerke hinauf. Am schlimmsten aber war es in den Villenvierteln, wo die meisten seiner Schulkameraden wohnten, wenn er dort mit dem Fahrrad durchfuhr, um die Briefkästen mit Werbematerial zu füttern. Abends las er in der Küche. Er las alles, was ihm in die Finger kam. Den Werther, So weit die Füße tragen, Illustrierten-Romane. Eine Leseratte nannte ihn seine Mutter. Jetzt, als er kürzlich zu Hause war, hat sie ihm gestanden, daß sie manchmal Angst gehabt hätte, er könne verrückt werden. Sie hatte nämlich als Dienstmädchen bei einem Pastoren gearbeitet, und der hatte einen Sohn, der ein Lexikon auswendig lernen wollte. Als er bei F angekommen war, mußte er in eine Klapsmühle eingeliefert werden. Sie hatten sich dann beide noch ein Bier bestellt. Und du, hatte Petersen gefragt. Ich bin früher gern rausgefahren, gleich nach Schulschluß. Ich hab an einem Waldrand im Gras gelegen und stundenlang in den Himmel gesehen. Ich hab dann an nichts gedacht. Nur manchmal, wenn in der Luft ein Bussard schwebte und plötzlich zur Erde herunterkippte, war das wie ein Stich. Fressen und Gefressenwerden, ich hab versucht, mir vorzustellen, wie das wäre, eine Welt, in der niemand gequält würde. Ein ruhiges, anhaltendes Glück wie in einem heißen Sommer, wenn man in einer tiefen Wiese liegt und über sich die Wolken ziehen sieht. Als ich älter wurde, habe ich nicht mehr daran denken mögen. Da war dann dieses Wort Kitsch dazwischen. Später standen sie auf der dunklen Straße. Der Wind war kalt, und aus der Kneipe hörten sie das Gröhlen und Lachen. Orangenblütentee, sagte Petersen unvermittelt. Sie standen nebeneinander, schweigend. Petersen sah vor sich auf das Pflaster und schob mit dem Schuh einen kleinen Stein hin und her. Ullrich wollte Petersen sagen, wie sehr er ihn mochte. Aber er wußte nicht wie. Er erzählte von dem Brandanschlag auf den Polizei-VW. Eine irre Sache, sagte Ullrich, damals, hatte fast keine Funktion, mal abgesehen davon, daß wir unseren Haß abgelassen haben. Haß, sagte Petersen. Haß auf sich selbst und auf die anderen. Haß vor allem auf die, die diesen Haß erzeugen. Das hat doch geklappt, sagte Petersen. Ich hab immer Conny dahinter vermutet. Der war auch dabei, sagte Ullrich. Aber beinahe wäre es schiefgegangen. Die Flasche mit dem Benzin hatte eine zu kleine Öffnung, verstehst du, das war eine Hautspiritusflasche. Das dauerte unheimlich lange, bis das Benzin raus war. Ich stand nämlich Schmiere. Hautspiritus, Petersen lachte, er legte dabei, wie gewöhnlich, den Kopf leicht in den Nacken und lachte. Ullrich fiel auf, daß er Petersen seit langem nicht mehr hatte lachen hören. Er mochte dieses Lachen. Sie standen in der dunklen Straße und lachten. Hautspiritus, wiederholte Petersen immer wieder. Zufälle, sagte Ullrich, lauter Zufälle. Aber die werden wir in Zukunft vermindern. Was macht eigentlich Bully? Der sitzt. Diese Schweine, sagte Petersen und dann, nach einem Augenblick: Aber die kriegen uns nicht klein. Wieder standen sie schweigend nebeneinander. Und Ullrich spürte plötzlich, wie kalt es war. Ich muß mich aufs Ohr legen, sagte Petersen. Morgen ist wieder ein 218 219 harter Tag. Er gab Ullrich die Hand. Plötzlich umarmten sie sich. Petersen ging dicht an den alten schmutzigen Häusern entlang. Er drehte sich nicht mehr um. Langsam entfernte er sich in der dunklen Straße. Es gibt ein realisierbares Glück für alle: Eine befriedete Welt, eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Das rhythmische Rattern der Räder. Das knatternde Dröhnen des Fahrtwindes. Die Sonne ließ die Tannen leuchten. In den Gräben schmale weiße Streifen, schmutzige Schneereste. Auf einem Feld ein Traktor mit einer Egge. Die Schraffur der Furchen. Der Mann, der Ullrich gegenübersaß, hatte die Illustrierte beiseite gelegt und seinen Mantel über das Gesicht gezogen. Er schlief. Das alte Ehepaar unterhielt sich leise. Er zog den Zettel mit der Adresse heraus, den Roland ihm gegeben hatte. Du stehst doch auf unserer Seite. Abends würde er in München sein. Er freute sich. Eine Auswahl weiterer Bücher in der AutorenEdition: Heinar Kipphardt März I Roman/253 S. ; »In >März< ist das Dokumentarische integriert in den künstlerischen Zusam- j menhang. Das Gefundene ist eingebaut in den erfundenen Zusammenhang | der Geschichte und ist gerade dadurch einprägsamer und erschüttert das Ge- i müt tiefer als jegliche Dokumentarliteratur.« Wolf Biermann Der Mann des Tages J und andere Erzählungen ! 250 S. In einer kühlen, präzisen Sprache schreibt Kipphardt nicht nur von den Grauen des Krieges, er versucht vielmehr zu zeigen, wie und durch welche Verhältnisse Menschen dazu gebracht werden können, solches Grauen zu verursachen. Klaus Konjetzky/Dagmar Ploetz Keine Zeit für Tränen j 250 S. Dreizehn Autoren versuchen sich am Alltäglichsten und zugleich Schwierig-| sten. Dreizehn Autoren erzählen Liebesgeschichten: Geschichten von be- glückenden und bestürzenden Erfahrungen, von Sehnsüchten und Gefähr-i düngen. Sie erzählen, wie Liebe heute gelebt und erlebt wird. Autoren sind 1 H. Dittberner, E. Jelinek, U. Friesel, G. Fuchs, H. Heißenbüttel, G. Herburger, l F. Innerhofer, A. Kühn, H. Lenz, A. Mechtel, H. P.-Piwitt, A. Seghers, H. Zenker. I Wolfgang Müller í Flußgeschichten | 192 S. j Das sind Geschichten von Jule, dem Heizer auf einem Elbschlepper, von Otto Scheidel, der nach 40 Jahren doch noch Kapitän wird, von Neumann, dem Neuen, der aus dem Knast kommt. Geschichten von Flüssen und Kanälen, i von Schiffen und den Menschen, die auf diesen Schiffen zuhause sind - vom j Leben in der DDR, von Konflikten, in die Menschen dort geraten und davon, j was aus ihren Träumen wird. . Helmut Zenker I Das Froschfest Roman/ 220 S. ' Nach »Kassbach«, dem international viel beachteten Portrait eines faschi- | stischen Kleinbürgers, beschreibt Helmut Zenker einen jungen Arbeiter auf | dem Weg zu sich selbst. i AutorenEdition im C. Bertelsmann Verlag, München