Zweiter Teil l Das Audimax war überfüllt. Unter der Decke schwebte ein roter, wurstförmiger Luftballon. Ullrich drängte sich in den Saal. Schon in der Vorhalle hatte er das Geschrei und Gelächter gehört. Er hatte sich dort mit Christa verabredet, aber dann doch nicht gewartet. Er versuchte, über die Köpfe hinweg in den Saal zu sehen, der nach unten, zum Podium hin, flach abfiel. Immer mehr Studenten schoben sich durch die Eingänge. Alle Plätze waren besetzt. Man saß auf Bänken und Pulten, auf den Stufen der Seitengänge, und sogar vorn auf dem Podium hockten sie, lachend und redend. Wie auf einem Beat-Festival, dachte Ullrich. Was ist denn los, fragte er seinen Nebenmann, der seine schwarze Kollegmappe an die Brust drückte, als könne sie ihm entrissen werden. Das geht einfach zu weit, sagte der. Was denn, fragte Ullrich und wurde langsam vorwärtsgeschoben. Jetzt fangen sie auch hier an. Gehts los? Womit, fragte der andere und wurde zurückgedrängt. Er drehte den Kopf nach hinten und sagte böse: Vorsicht, Vorsicht. Soll die Vorlesung gesprengt werden? Ja, sagte der Mappenbesitzer und wurde wieder vorwärtsgestoßen. Er stieß mit dem Ellenbogen nach einem Mädchen, das sich an ihm vorbeidrängen wollte. Diese Typen gehören doch gar nicht hierher. Die studieren doch alle gar nicht bei Renke. Er wurde langsam wieder zurückgedrängt. Na, vorsichtig, sagte er wieder, die Kollegmappe noch fester an die Brust drückend. Hinter ihm wurde gelacht. Jemand sagte: Ist doch mal schön, so hautnah, Herr Kommilitone. Ullrich wurde vorwärts gerissen. Plötzlich entdeckte er Christa. Sie saß auf dem Podium, in der Nähe des Rednerpults. Sie hatte nicht gewartet. Einen Augenblick ärgerte sich Ullrich darüber, bis ihm einfiel, daß ja auch er nicht gewartet hatte. Ullrich arbeitete sich jetzt rücksichtslos nach vorn. Jemand rief ihm nach: Wo brennts denn. 77 Vor zwei Tagen hatte Ullrich mit Christa hier die erste Vorlesung von | Renke gehört. Sie hatten nebeneinander gesessen, vor sich die aufgeschlagenen Kolleghefte. Nur die vorderen Bänke des Saals waren besetzt. Das gedämpfte Murmeln der Studenten war abgebrochen, als Renke kam. Vom Klopfen auf den Bänken begleitet war Renke nach vorn gegangen. Die Gespräche waren sofort verstummt. Jetzt flogen Papierschwalben durch den Saal. Manche unterhielten sich laut über mehrere Bänke hinweg. Jemand schnippte kleine Pa-pierkügelchen nach vorn. Nun mal langsam, sagte einer, den Ullrich beiseitedrängte. Ullrich versuchte sich Christas Gesicht vorzustellen, wenn er sie plötzlich berühren würde. Einen Augenblick dachte er daran, seitlich aufs Podium zu steigen, von hinten auf sie zuzugehen und ihr dann die Augen zuzuhalten. Aber dann fand er diesen Gedanken albern. Wie ihm plötzlich auch diese hektische Aufregung hier albern vorkam. Wie eine Schulklasse ohne Lehrer, dachte er. Er hatte sich schon fast bis zum Podium vorgeschoben, als Christa ihn entdeckte und ihm zuwinkte. Ullrich war seit einer Woche in Hamburg. Er hatte Christa von Braunschweig aus geschrieben, wann er ankommen würde. Er hoffte, daß sie ihn abholen würde. Er wollte ihr dann noch auf dem Bahnsteig sagen, wie schön der Tag in Bamberg gewesen sei. Er hatte sich vorgenommen, sie einfach zu umarmen, wenn sie auf dem Bahnsteig auf ihn warten würde. Als der Zug hielt, hob Ullrich seine beiden schweren Koffer auf den Bahnsteig. Sie stand in einem weißen Lammfellmantel an der Bahnsteigtreppe. Er stellte einen Koffer ab und winkte ihr. Sie winkte zurück, lachte, kam auf ihn zu. Plötzlich bemerkte Ullrich den Mann neben ihr. Das ist Bungert, sagte sie. Der sagte, hallo, wie gehts, drückte Ullrich die Hand und griff sich einen von Ullrichs Koffern. Wie gehts, was für eine dämliche Floskel, dachte Ullrich und sagte: Danke, das geht schon. Aber Bungert gab den Koffer nicht wieder her. Ullrich gab Christa die Hand. Er sagte etwas über die Reise, dachte aber dabei, warum nennt sie nur seinen Nachnamen. Er nahm den anderen Koffer auf, stellte ihn aber wieder ab. Ihm gehe es sehr gut, sagte er und dachte, was rede ich da für einen Unsinn. Wieder nahm er den Koffer auf, stellte ihn jedoch abermals ab, als Christa lachend auf seinen Kopf zeigte. Ich hab dich ganz anders in Erinnerung. Ja, sagte Ullrich, ich war beim Friseur. Ullrich hatte zu Hause vor dem Spiegel gestanden und seine Ohren betrachtet, die plötzlich entblößt aussahen. Er fand seine Ohren zu groß. Gehen wir, sagte Bungert und warf sich mit einer kurzen Bewegung die Haare aus dem Gesicht. So ein Arsch, dachte Ullrich. Im Audimax wurde rhythmisch geklatscht. Warum klatschen die, fragte Ullrich, als er Christa erreicht hatte. Sie wußte es auch nicht. Ullrich quetschte sich neben sie aufs Podium. Er sah den leicht ansteigenden Saal mit den dichtbesetzten Bänken. Überall wurde geraucht, trotz der Verbotsschilder. Immer noch drängten neue Studenten durch die Türen, schoben sich die Gänge hinunter. Festlich, dachte Ullrich. Das Rednerpult war von einer Gruppe Studenten umlagert. Barte: Backenbärte, Kinnbärte, Vollbarte, Schnauzbarte. Einem hing ein Megaphon vor der Brust. Ein kleines blondes Mädchen war schwanger. Einer trug schwarze Holzschuhe, dazu eine schwarze Lederjacke. Er gestikulierte mit der Faust, einer sehr kleinen Faust. Daneben ein Schwarzhaariger in einer Schaffellweste. Der SDS, sagte Ullrichs Nebenmann. Wer sind die, fragte Christa. Der SDS, sagte Ullrich, die dort, am Rednerpult. Ullrich versuchte, sich die Gesichter einzuprägen. Die Gruppe diskutierte. Leise, aber energisch. Er vermutete, daß dort jetzt ein Plan gemacht würde, für den Fall, daß Renke die Vorlesung ausfallen lassen würde. Wir haben gute Plätze, sagte Ullrichs Nachbar. Ja, Logenplätze. Da, sagte der Nachbar, jetzt gehts los. Der dunkelhaarige, bärtige Student in der Schaffellweste war an das Rednerpult getreten und hatte sich das Mikrophon zurechtgebogen. Er hielt es fest, als befürchte er, daß es sich wieder zurückbiegen könne. Das ist Conny, sagte Ullrichs Nebenmann, einer von den SDS-Häupt-lingen. Conny pustete zweimal ins Mikrophon und strich sich die schwarzen Haare mit einer langsamen Handbewegung aus der Stirn. Im Saal wurde es ruhig. Conny klopfte nochmals mit dem Fingergegen das Mikrophon: Kommilitonen, ich vermute, daß einigen von euch die Unruhe nicht be-hagt. (Im Saal rief jemand: Sehr richtig. Einige klatschten.) Unruhe, das ist das Chaos, die Anarchie, die Revolution, so haben wir es doch alle gelernt, zu Hause, in der Schule und auf der Universität. Und Revolutionen, auch das wissen wir, haben bisher immer störend in den 78 79 gleichmäßigen Lauf der Weltgeschichte eingegriffen. Da lesen wir, daß der bärtige Fidel Castro das Gleichgewicht in Lateinamerika gestört hat. Und im fernen Asien versuchen rote Garden durch Kulturrevolution Chaos und Terror permanent zu machen. (Im Saal wurde gelacht und geklatscht.) Für manche ist schon die Kritik eine Vorstufe zur Revolution. So sind unsere Magnifizenzen und Spektabilitäten bislang auch nur selten mit kritischen Fragen konfrontiert worden. Wir haben uns oft selbst nicht einmal diese Fragen gestellt. Die Frage, für wen man forscht, wer lehrt und vor allem, was man lernt. Diese Fragen werden dann auch als unwissenschaftlich diffamiert. Solche Fragen nennen unsere Spektabilitäten schon revolutionär und dann sehen sie rot. (Im Saal wurde geklatscht und gelacht.) Wir müssen lernen, solche Fragen zu stellen, und zwar radikal. Lassen wir beizeiten die Tabus auffliegen, mit denen sie, die Herrschenden in diesem Land, ihre Herrschaft in unserem Bewußtsein wie mit einem Minengürtel abgesichert haben. Sprechen wir über die Klassengegensätze in unserer formierten Gesellschaft, decken wir die Formen der Ausbeutung in unserem Land auf. Zerstören wir die künstlich erzeugte Selbstzufriedenheit der Bürger in diesem Staat und denunzieren wir die Nutznießer dieser Selbstzufriedenheit. Der Unmut an diesem System soll wachsen. Es selbst produziert dafür die materielle Voraussetzung. Das offiziell verdrängte Elend muß sichtbar gemacht werden, das dieses Gesellschaftssystem permanent verbreitet. Das Elend des planmäßig verkümmerten Massenbewußtseins im eigenen Land, die Ängste und Neurosen hier, und der Hunger, die Zwangsherrschaft, der Krieg in den ausgebeuteten Ländern der Dritten Welt, aber auch das Elend der Zukunft, das vorbereitet wird. Sorgen wir dafür, daß die Energien des Widerstandes sich sammeln können und nicht durch das Ventilsystem abgesaugt werden, mit dem sich dieser Staat vorsorglich ausgerüstet hat. Entlarven wir die Ventilfunktion der demokratischen Formen, die er uns anbietet. Zeigen wir vor allem, wie die demokratische Kontrolle gerade dort aufhört, wo sie in die Interessen der herrschenden Schichten eingreifen könnte. Zwingen wir die Professoren, die bisher unwidersprochen ihre Lehrmeinungen ablassen konnten, über diese Meinungen mit uns zu diskutieren. Zwingen wir sie, Rechenschaft abzulegen, wessen Interessen sie mit diesen Lehrmeinungen vertreten. Stellen wir ihre bisher unbefragte Autorität in Frage. (Im Saal wurde geklatscht und Bravo gerufen.) Stellen wir die repressiven Institutionen in Frage. Stellen wir die repressiven Räume der Institutionen in Frage, wie diesen Hörsaal. Alle Plätze in diesem Raum sind ausgerichtet allein auf diesen Punkt, wo normalerweise die Professoren stehen, und unwidersprochen reden konnten. (Ullrich klatschte. Das ist mir noch nie aufgefallen, sagte er. Was, fragte Christa. Das mit den Räumen.) 80 Wir müssen die Aufklärung aber nicht nur mit Diskussionen und Analysen vorantreiben, sondern vor allem auch durch gezielte Aktionen, die die undemokratische Organisation und das scheinheilige Gerede von der freiheitlich-demokratischen Ordnung als das Makeup der Machtinteressen einer kleinen Minderheit entlarvt. Das herrschende System ist allgegenwärtig. Seine Herrschaft verfestigt sich in unseren Schulen, Betrieben, Ämtern und Universitäten. Da ist das eine mit dem anderen verflochten und stützt sich wechselseitig. Rütteln wir also an einer dieser Stützen. Rütteln wir hier und heute an der autoritären Ordinarienuniversität. Fangen wir bei Renke an. Im Saal wurde wieder rhythmisch geklatscht. Erst jetzt, als er den Rhythmus mitklatschte, erkannte ihn Ullrich: Ho-Ho-Ho-Chi-Minh. Ullrich verspürte plötzlich den Drang, aufzuspringen. Er versuchte, durch konzentriertes Klatschen dem entgegenzuwirken. Langsam verebbte das Klatschen. Conny war zu der SDS-Gruppe neben dem Podium zurückgegangen. Wieder begannen sie eindringlich und leise zu diskutieren. Vielleicht läßt Renke die Vorlesung einfach ausfallen, sagte Ullrich und zeigte auf seine Armbanduhr. Wie war es überhaupt bei Renke, fragte Christa. Ach komm, sagte er, dieser Korinthenkacker. Aber dann dachte er an Connys Rede. Er hat mir nicht mal die Hand gegeben, sagte Ullrich. Ich stand da, streck ihm die Hand hin, und er tut, als sehe er sie nicht. Ich wußte nicht, wohin mit meiner Hand. Und dann hat er gesagt, sein Seminar sei schon voll. So zwischen Tür und Angel hat er das gesagt. Er hat mich nicht mal ausreden lassen. Plötzlich entstand im Saal eine Bewegung. Renke kam. Er hatte sich zwischen den am Eingang Stehenden hindurchgedrängt. Hinter ihm gingen fünf oder sechs Assistenten und Doktoranden, in Anzügen. Auf der anderen Seite des Saals standen welche auf, um besser sehen zu können, wie Renke sich langsam nach vorn arbeitete. Endlich erreichte Renke das Podium, stieg die drei Treppen hoch und ging zum Rednerpult. Unter dem Arm trug er zwei Bücher und einen grauen Schnellhefter. Sein Gesicht war gerötet. Er legte die Bücher auf das Pult und schlug den Hefter auf. Ullrich sah die Schweißstellen auf dem grauen Pappdeckel. Renke bog sich das Mikrophon zurecht. Seine Hände zitterten leicht. Im Saal wurde vereinzelt gelacht. Renke räusperte sich und begann dann mit ruhiger, aber belegter Stimme zu sprechen: Eine Vorlesung ohne begleitende Lektüre sei sinnlos, weil unergiebig. Im Saal wurde langanhaltend und laut gelacht. Renke fuhr unbeirrt fort: Informationen seien notwendig, man könne sonst über nichts reden, jedenfalls nicht vernünftig. Jemand rief: Ha, ha. 81 Darum habe er in der ersten Stunde eine Literaturliste verlesen. Im Saal wurde es langsam ruhig, so ruhig wie in allen Vorlesungen, die Ullrich bisher gehört hatte. Renke faßte zusammen, verwies auf Gliederungspunkte aus der Vorlesung vom vergangenen Semester. Er sprach von den verschiedenen sich wiedersprechenden Forschungsrichtungen. Die Röte war aus seinem Gesicht gewichen. Er gestikulierte. Seine Hände zitterten nicht mehr, auch dann nicht, wenn er ein Blatt hochhob, um es umzudrehen. Er sprach ruhig und sicher in den überfüllten Saal. Plötzlich schwieg er, blickte in den Saal, zeigte dann mit dem ausgestreckten Arm auf ein großes Schild Rauchen verboten und sagte: Ich bitte Sie, jetzt das Rauchen einzustellen. Jemand rief: Warum? Weil ich sonst meine Stimme ramponiere. Im Saal trommelten einige auf die Bänke. Jemand schrie: Sehr richtig. Renke sprach von der Notwendigkeit einer begrifflichen Gliederung. Ullrich sah Conny in seiner Schaffellweste dicht neben dem Rednerpult stehen. Conny drehte an dem silbernen Anhänger, den er um den Hals trug. Verlegen steht der da, dachte Ullrich. Er war enttäuscht. Der kriegt die Vorlesung über die Bühne, flüsterte Ullrich Christa zu. Renke machte eine bedeutungsvolle Pause, blickte über die Köpfe der im Hörsaal Sitzenden hinweg und sagte dann: Wir halten hier eine Vorlesung über .. . Da sprang ein Mädchen in der vorderen Reihe auf und rief: Wieso wir? Im Saal wurde gebrüllt. Lautes, aggressives Lachen. Renke blickte in den tobenden Saal. Sein Gesicht rötete sich wieder. Viele waren aufgesprungen. Andere schlugen lachend mit den Fäusten auf die Bänke. Einige hatten sich umgedreht und riefen sich über mehrere Reihen hinweg etwas zu. Renke sah einen Augenblick in das Audimax, das er vermutlich nie so voll erlebt hatte. Das überfüllte Audimax, Wunschtraum sicherlich auch von Renke, hier hatte er es, allerdings nicht andächtig lauschend, sondern tobend, lachend und schreiend. Er blickte in die Richtung, aus der der Zwischenruf gekommen war. Er wartete, bis sich das Lachen gelegt hatte und versuchte dann, mit seiner jahrelang erprobten Sicherheit zu sagen: Nur zur Information der Zwischenruferin, das war ein Pluralis modestiae. Aber das klang wie Pluralis bestiae. Ein Versprecher. Jemand brüllte: Eigentor. Ein anderer brüllte: Renke vor, noch ein Tor. Ein Sprechchor bildete sich: Renke vor, noch ein Tor. 82 Renke versuchte fortzufahren, als säßen im Saal andächtig lauschende Studenten. Er sprach leise und energisch weiter von den Problemen der neuesten Forschung. Das schwangere Mädchen, das in der SDS-Gruppe auf dem Podium stand, begann, einen roten Luftballon aufzublasen. Sie ging dabei langsam zum Rednerpult. Sie verknotete den Ballon und versuchte ihn Renke zu überreichen. Renke wehrte mit der Hand ab, dabei weiter starr von seinem Manuskript ablesend. Das Mädchen griff zum Mikrophon und drehte es seitwärts zu sich hin. Renkes Stimme war weg. Man sah, wie er weiterredete, seine Lippen bewegten sich, aber man hörte nichts mehr. Das Mädchen sprach ins Mikrophon: Herr Professor, wir wollen mit Ihnen diskutieren. Jetzt erst bemerkte Renke, daß er nicht mehr ins Mikrophon sprach. Er riß das Mikrophon zurück und schrie: Wenn die Störer nicht sofort verschwinden, zeige ich sie an. Ich habe hier das Hausrecht. Das muß geändert werden, rief Conny. Wir wollen diskutieren. Conny ging zum Rednerpult und versuchte, das Mikrophon an sich zu ziehen, aber Renke hielt es fest. Das schwangere Mädchen streckte seinen Bauch raus und drängte Renke mit dem Bauch ab. Als er versuchte, sie mit dem Ellenbogen wegzuschieben, wurde sofort im Saal gejohlt und gepfiffen. Renke war schon an die Seite des Pults gedrängt worden, hatte aber das Mikrophon immer noch in der Hand. Wir wollen diskutieren, rief der Student durchs Megaphon. Das ist meine Vorlesung, schrie Renke, und keine Sprechstunde. Der Student sagte mit einem schrillen Pfeifton durchs Megaphon: Aber Herr Professor, das ist doch schon eine Sprechstunde. Unsere Sprechstunde. Wir wollen hier mit Ihnen über Ihre Lehrinhalte diskutieren. Renke schrie: Roter Terror. Nein, sagte der Student durchs Megaphon: Das hier soll eine rationale Diskussion sein. Sie wird allein durch den Terror der Professoren verhindert. Hoffentlich kriegt der keinen Kollaps, sagte Christa. Im Saal schrien einige: Störer raus. Jemand rief: Herr Professor, soll ich die Polizei holen? Renke hielt sich noch immer am Mikrophon fest und rief Roter Terror. Da warf jemand aus dem Saal ein mit Wasser gefülltes, lachsfarbenes Präservativ aufs Podium. Das Präservativ klatschte vor Renkes Füße auf den Boden. Renke starrte einen Augenblick auf das Präservativ, dann ließ er das Mikrophon los, sammelte seine Manuskriptseiten ein, griff die beiden Bücher und stieg eilig vom Podium in den Saal 83 hinunter. Im Saal bildete sich ein Sprechchor: Haut dem Renke ins Gehenke. Ullrich war aufgesprungen und schrie mit, die Silben mit den Fäusten betonend. Renke drängte sich zwischen den im Seitengang Stehenden hindurch zum Ausgang. Hinter ihm seine Assistenten und Doktoranden. Je näher Renke dem Ausgang kam, desto lauter und schneller wurde der Sprechchor: Haut dem Renke ins Gehenke. Kurz vor dem Ausgang hatten sich einige auf den Boden gesetzt, um Renke den Weg zu versperren. Renke versuchte, über einen Studenten hinwegzusteigen. Unbeholfen balancierte er auf einem Bein. Den anderen Fuß hatte er über die Schulter des am Boden Sitzenden gehoben. Mit der freien Hand stützte er sich auf dem Kopf des Studenten ab. Er verlor ein Buch. Hilflos stand er da. Wie Rumpelstilzchen, sagte Ullrich. Plötzlich packte einer der Assistenten den Typen und zerrte ihn an den Haaren zur Seite. Der Sprechchor ging in Pfiffe und Pfui-Rufe über. Die an der linken Saalseite Sitzenden standen auf, um den Assistenten und den immer noch am Boden hockenden Studenten besser sehen zu können. In der Mitte des Saals stiegen sie auf die Klappsitze. Rechts außen sogar auf die Bänke. Alle standen jetzt gestaffelt von links unten nach rechts oben und warteten. Nur wenige riefen noch: Haut dem Renke ins Gehenke. Hoffentlich schlägt der zurück, dachte Ullrich. Da sprang der Student mit dem Megaphon an den Rand des Podiums und rief: Laßt Renke raus. Wer Angst vor Diskussionen hat, den kann man nicht zwingen. Renke verschwand im Ausgang. Einige Studenten folgten ihm, laut protestierend. Der Student in der Lederjacke stellte das Megaphon auf den Boden des Podiums und ging dann zum Rednerpult. Er beugte sich zum Mikrophon hinunter, anstatt es zu sich heraufzuziehen. Das systematische Stören des Lehrbetriebs sei notwendig als beständiges Problematisieren der Verwertungszusammenhänge von Wissenschaft. Vorstellen, rief jemand aus dem Saal. Er heiße Petersen, studiere Soziologie und Germanistik, sei Mitglied des SDS. Der Kampf um den Abbau der irrationalen Herrschaftsansprüche der Ordinarien und die Aufhebung der autoritären Arbeitsweise in den Seminaren und bei Forschungsobjekten müsse vorangetrieben werden. Petersen sprach sogar die Endsilben deutlich aus. Er schwenkte die kleine weiße Faust betonend in der Luft, wie ein Dirigent. Petersen sprach von der Dysfunktionalisierung des Lehrbetriebs und daß eine tendenziell kritische Öffentlichkeit hergestellt werden könne. 84 Ullrich kam nicht so recht mit. Eiffe der Bär fordert Durchblick für alle. Das hatte Ullrich in einem S-Bahn-Wagen gelesen, mit dem er nach Wellingsbüttel gefahren war. Er wollte sich dort ein Zimmer ansehen. Das Einfamilienhaus lag in einem großen Garten. Unter dem Dach war ein kleines Mansardenzimmer ausgebaut. Er stellte sich vor, daß Christas Eltern in einem solchen Haus in Ratzeburg wohnen würden. Ullrich blickte aus dem kleinen Mansardenfenster hinaus und sah in der weißen Oktobersonne das rotbraun verfärbte Laub der Buchen im Garten. Schön, sagte Ullrich. Ja, sagte die Hausbesitzerin, schön und ruhig. Eigentlich sei sie nicht darauf angewiesen, zu vermieten. Aber der Sohn studiere jetzt in Marburg Jura und dadurch sei das Zimmer frei geworden. Da hätte sie gedacht, wo so viele Zimmer fehlen, da sollte dieses nicht leerstehen. Das Zimmer ist bestimmt billig, dachte Ullrich und sagte, sich umblik-kend: Ja, schön. Dabei dachte er an die Kammer des Theologie-Kandidaten in München. Jetzt sei nur noch die Tochter im Haus. Und die macht nächstes Jahr auch ihr Abitur. So schnell geht das, sagte sie. Ja. Ullrich überlegte, wie er nach dem Preis des Zimmers fragen könnte. Wirklich ein schönes Zimmer, klein und gemütlich, und dann nach einer kleinen Pause endlich: Und wie hoch ist die Miete? Hundertfünfzig. Und dann, als Ullrich sie überrascht ansah: Elektrizität selbstverständlich inbegriffen. Ullrich nickte. Er hatte sich schon in Barmbek ein Zimmer angesehen. Ein großes Zimmer mit einem Sessel und einer breiten Schlafcouch. Sogar ein Schreibtisch hatte in dem Zimmer gestanden. An der Wand, über der Couch, hatte ein Teakholzrelief gehangen, zwei Kraniche darstellend, die ihre Hälse zur Decke streckten. Die Lampe an der Decke ähnelte jener, die im Wohnzimmer seiner Eltern hing. Ein marmorierter Porzellanregenschirm. Das Zimmer in Barmbek war billiger und größer. Aber es erinnerte ihn an zu Hause. Ullrich sah in den Garten, sah das rotbraun verfärbte Laub der Buchen und dachte, hundertfünfzig Mark, das ist fast die Hälfte meines Monatsgelds. Er hatte schon zu lange vor dem Fenster gestanden. Es war ihm peinlich, jetzt noch nein zu sagen. Gut, ich nehme das Zimmer. Frau Zollgreve brachte ihn zur Haustür. Ullrich hatte sich mit einer leichten Verbeugung verabschiedet. Er war über den mit Steinplatten 85 ausgelegten Weg zur Gartentür gegangen und hatte sich über diese Verbeugung geärgert. Er nahm sich vor, in Zukunft darauf zu achten, auch bei Frauen keine Verbeugung mehr zu machen. In der kühlen, durchsonnten Luft hatte er durchgeatmet und war unter den gelbbraunen Linden zur S-Bahn-Station gegangen. Das ruhige Villenviertel hatte ihm gefallen. Er hatte versucht, sich einzureden, daß er diese Ruhe für seine Arbeit brauche. Aber er ärgerte sich trotzdem, daß er nicht nein gesagt hatte. Auf dem Fahrplan der S-Bahn-Station hatte er einen mit Filzstift geschriebenen Spruch entdeckt. Eiffe der Bär komm f bald. WerwarEiffe? Im Saal wurde anhaltend geklatscht. Petersen richtete sich auf, sah kurz in den Saal und beugte sich dann wieder zum Mikrophon hinab: Was ist zu tun, wenn die Professoren sich nicht einmal befragen lassen. Wir wollen mit Renke rational diskutieren, aber er will nicht. Er sagt, hier sei nicht der Ort für eine Diskussion. Er will nur in seinem Zimmer eine Sprechstunde abhalten, dort sei er zu sprechen. Daraus folgt für uns: Wir gehen jetzt geschlossen in seine Sprechstunde. Sofort standen alle auf und drängten zu den Ausgängen. Ullrich spürte Christas Hand in seiner Seite. Sie hielt sich an seinem Pullover fest. Damit ich nicht verlorengehe, sagte sie. Die Gänge und Treppen im Institut waren verstopft. Jemand reichte seine Zigarettenpackung herum. Ein Feuerzeug wurde nachgereicht. Es wurde nach dem Besitzer gefragt. Niemand meldete sich. Es mußte von ganz hinten gekommen sein. Es hieß, Renke komme gleich, angeblich habe er sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Im Sprechchor wird gerufen: Renke, wir kommen. Renke, wo bist du. Aber Renke kam nicht. Einfach die Tür ausheben, ruft jemand. Conny: Sehr richtig, wenn Renke nicht zu den Studenten kommt, müssen die Studenten zu Renke kommen. Jemand behauptet, Renke habe sich von seiner Sekretärin im Garde-robenschrank einschließen lassen. Ein anderer bestreitet das und meint, Renke sei über die Feuerleiter abgegangen. Das schafft der nicht, sagt Ullrich, bei dem Bauch. Jede Bemerkung wird belacht, egal wie witzig sie war. Man müßte jetzt singen, sagt Ullrich. Ja, sagt Christa, aber was. Ganz vorn, vor Renkes Tür, verlangt jemand einen Schraubenzieher. Das Türschloß soll ausgebaut werden. Woher sollen wir einen Schraubenzieher kriegen? Ein Taschenmesser wird hinübergereicht. 86 Jemand sagt: Das geht zu weit. Das ist Sachbeschädigung. Das schwangere Mädchen ruft: Wir brechen die Tür auf. Wir müssen Öffentlichkeit herstellen. Einige werfen sich gegen die Tür. Aber Schloß und Holz sind stabil. Die Sekretärin kommt und ruft, sie könne ihr Ehrenwort geben, der Herr Professor sei nicht im Hause. Niemand glaubt ihr. Vorne schreien sie Hau ruck und werfen sich zugleich gegen die Tür. Hau ruck. Plötzlich gibt es ein splitterndes Krachen, und die Tür fliegt auf. Es wird ruhig. Vor Renkes Zimmer drängen sich die Studenten. Was ist los? Nichts. Was? Renke ist nicht im Zimmer. Dann hat er sich abgeseilt, sagt Ullrich. Christas Haar streift sein Gesicht. Er spürt ihren Körper an seinem Arm. Sie einfach an sich ziehen. Petersen ruft durchs Megaphon: Wir kommen wieder. Wir gehen in jede Vorlesung, in jedes Seminar von Renke, solange, bis er sich einer Diskussion stellt. Jemand verlangt nach Freibier. Ein anderer ruft: Das muß Renke zahlen, dann bringen wir ihm einen Fackelzug. Wir werden ihm heimleuchten. Sie standen unter dem Vordach des Instituts. Es war schon dunkel. Ein feiner Nieselregen fiel. Schade, sagte Ullrich, jetzt abzubrechen. Man müßte den Tag richtig feiern. Ja, sagte Christa, aber manchmal habe ihr Renke leid getan. Hab ich ihm leid getan, als er mich nicht mehr ins Seminar aufnahm, fragte Ullrich. Dafür kann er doch auch nichts, bei dem Platzmangel. Die SDS-Gruppe kam heraus und blieb zögernd unter dem Vordach stehen. Scheißwetter, sagte Conny und zog seine Schaffellweste vorn an der Brust zusammen. Ullrich achtete plötzlich nicht mehr auf Christa. Er versuchte mitzuhören, was Petersen sagte. Er hörte, daß sie ins Cosinus gehen wollten. Sie gingen los. Das rothaarige Mädchen zog sich die Kapuze über den Kopf. Petersen steckte das Megaphon unter seine Parka. Ich muß gehen, sagte Christa, kommst du mit bis zum Dammtor. Ullrich zögerte und sagte dann: Nein, ich will noch nicht nach Hause. Bis morgen, sagte Christa. 87 Er sah sie über den dunklen Platz gehen. Ullrich fragte jemanden, wo es zum Cosinus geht. Einer redet, viele rauchen. Einer meldet sich und nennt seinen Namen. Der Name wird von dem Diskussionsleiter mit der Nummer 24 auf die Wandtafel geschrieben, die auf dem Podium des Hörsaals steht. Derjenige, der gerade redet, fragt, ob das Oberseminar von Renke gesprengt werden soll. Jetzt redet nicht mehr einer, jetzt reden viele. Einer bezeichnet das Verhalten Renkes in seinen Oberseminaren als demokratisch. Jeder komme dort zu Wort, wenn er sich gemeldet hat, auch mit einer abweichenden Meinung. Ein anderer will gerade darin die Alibifunktion der Diskussion erkennen. Jemand zitiert aus einem Aufsatz, den Renke 1940 veröffentlicht hat: Der Erzieher müsse in dem Jugendlichen eine reine Liebe zu dem Führer wecken. Viele rufen: Pfui. Derjenige, der den Aufsatz von Renke zitiert hat, fragt, wie jemand, der so etwas geschrieben hat, heute demokratische Lehrer ausbilden könne. Jemand hält das für eine Jugendsünde. Derjenige, der das Zitat vorgelesen hat, gibt zu bedenken, daß Renke damals immerhin schon fünfunddreißig Jahre alt gewesen sei. Jemand schlägt vor, keinem über dreißig zu trauen. Einer behauptet: Irren sei menschlich und übersetzt es gleich ins Lateinische. Ein anderer vermutet, Renke habe vielleicht aus seinen Fehlern von damals gelernt. Jemand steht auf und sagt: Diese Naivität macht mich sprachlos und erklärt warum. Einer verlangt nach einer Wissenschaft, die ideologiefrei sei. Ein anderer antwortet, jede Wissenschaft sei, wenn sie verwertet wird, ideologisch. Jemand stöhnt: Mann in der Tonne. Einer bezweifelt das; einer schreit Scheiße; einer verlangt Ruhe und will dann das Problem ausdiskutiert haben. Jemand ruft: Zur Geschäftsordnung. Derjenige, der vorhin gefragt hatte, ob die Vorlesung von Renke gesprengt werden soll, begründet jetzt, warum sie gesprengt werden muß. Jemand verlangt eine Begrenzung der Redezeit auf fünf Minuten. Einer hält das für repressiv. Ein anderer stellt fest, daß Vorlesungen aus einer Zeit stammen, in der es noch keine Bücher gab. Jemand ruft: Sehr richtig. Einer: Hört, hört. Ein anderer brüllt: Zur Geschäftsordnung und hebt beide Arme hoch. Der Diskussionsleiter schreibt gerade den sechsunddreißigsten Namen auf die Wandtafel. Einer gibt zu bedenken, daß Vorlesungen auch heute noch eine Funktion haben könnten. Ein anderer hält ihm entgegen, daß empirische Untersuchungen das Gegenteil beweisen und verlangt nach kollektiven Arbeitskreisen. Jemand wendet sich gegen einen falsch verstandenen Begriff von Empirismus. Jemand anders meint, ohne empirische Kontrolle könne man beweisen oder widerlegen, was man wolle. Jemand ruft von ganz hinten: dann werden wir endlich alle Kanarienvögel und flattern munter im Hörsaal hin und her. Einer fordert: Ornithologen raus. Jemand ruft: Bürokrat. Einer ruft: Geschäftsordnung, nimmt aber nicht die Arme hoch. Ein anderer ruft ihm zu: Hände hoch. In der ersten Reihe steht eine auf und ruft: das ist ja zum Davonlaufen, und setzt sich wieder hin. Jemand geht nach vorn zum Mikro und schiebt den Redner zur Seite, der vorhin gefragt hatte, ob das Oberseminar von Renke gesprengt werden sollte und jetzt gerade entwickelt, wie die gesprengte Vorlesung in Arbeitskreise umfunktioniert werden kann. Derjenige, der den Redner vom Mikro weggeschoben hat, fordert einen neuen Diskussionsleiter, und zwar sofort. Viele klopfen, einige zischen. Jemand ruft: So geht das nicht. Der Diskussionsleiter will darüber abstimmen lassen, ob das so geht oder nicht. Einer kommt nach vorn und meldet eine Gegenrede an. Er beantragt, daß der Diskussionsleiter nicht abgewählt werden soll. Ein anderer kommt nach vorn und ruft Gegenrede und behauptet, daß es keine Gegenrede geben kann, da die Alternative schon im ersten Antrag enthalten sei. Ein dritter kommt nach vorn und meint, auch die Alternative zu einem Antrag müsse begründet werden. Wohin komme man denn sonst? Er stelle daher den Antrag, daß jetzt weiterdiskutiert, die Rednerliste abgeschlossen und über diesen Antrag sogleich abgestimmt werden soll. Was tun? Der Diskussionsleiter will erst darüber abstimmen lassen, ob er die Abstimmung leiten soll oder nicht. Jemand ruft: Erst muß abgestimmt werden, ob abgestimmt werden soll. Der zweite Antragsteller beantragt, daß darüber abgestimmt werden soll, ob jetzt weiterdiskutiert wird oder nicht. Jemand meint, beide Anträge hätten etwas Gemeinsames, nämlich: wie jetzt weiterdiskutiert werden soll, mit diesem Diskussionsleiter oder ohne ihn, das sei die eigentliche Frage. Aus dem Saal stellt jemand den Antrag, dem zweiten Antragsteller das Wort zu entziehen, da der Verdacht bestehe, daß jener nur die Diskussion behindern wolle. Er wird aus dem Saal heraus aufgefordert, seinen Antrag zu formulieren. Er drängt sich durch die Gruppe, die das Pult umsteht, ans Mikro und formuliert seinen Antrag: Dem zweiten Antragsteller soll das Wort entzogen werden und der schon gestellte Antrag zurückgezogen werden. Einer behauptet, das sei falsch formuliert, weil der zweite Antragsteller gar keinen Antrag formuliert habe. Jemand ruft, hinsetzen. Einer schreit: Scheiße. Einer ruft: Godzilla. Jemand will verzweifeln. Einer schlägt vor, die Rednerliste aufzulösen und so zu tun, als sei gar kein Antrag gestellt worden. Einige meinen, das sei inkonsequent. Einer behauptet, es handle sich hier um ein Scheinproblem. Er wird niedergeschrien. 89 Jemand ruft: Alles muß ausdiskutiert werden. Jemand fordert, das plebiszitäre Verfahren um jeden Preis zu wahren und setzt es von der Mauschelei des Establishments ab. Viele klopfen, einige rufen: Bravo, einer ruft: Venceremos, einer: Günter Grass. Alle lachen. Man beschließt, nochmals von vorn anzufangen, alle bisher gestellten Anträge fallen zu lassen, einen neuen oder auch den alten Diskussionsleiter zu wählen und eine neue Rednerliste aufzustellen. Jemand sagt: Das ist ein Lernprozeß. Niemand widerspricht. 3 Auch Achill ist bewußtseinsabwesend, weil völlig gefühlsarm, ohne jeden Kontakt mit dem, was um ihn geschieht, nichts hörend .. . Die Buchen im Garten hatten fast alle Blätter verloren. Die Äste ragten schwarz und kahl in den grauen Himmel. Draußen nur das monotone Schilpen der Spatzen. Ullrich versuchte, sich wieder zu konzentrieren. Er saß an dem kleinen Tisch vor dem Mansardenfenster. Er fror. . . . weil völlig gefühlsabwesend, ohne jeden Kontakt mit dem, was um ihn geschieht, nichts hörend. .. Ullrich klappte das Buch zu. Er stand auf. Er holte sich den Marcuse, suchte die Seite, die er zuletzt gelesen hatte und legte sich aufs Bett. In den höchstentwickelten Gebieten der industriellen Zivilisation, die in der gegenwärtigen Periode das Modell von Kultur abgeben, vermehrt und befriedigt die überwältigende Produktivität des etablierten Systems die Bedürfnisse der Volksmasse durch die totale Verwaltung, die dafür sorgt, daß die Bedürfnisse des Individuums diejenigen sind, die das System verewigen und befestigen. Das Cosinus war eine Eckkneipe. Man konnte von der Straße durch die großen gardinenlosen Fenster in die beiden Räume sehen. Alle Tische waren besetzt. Ein bärtiger Mann trug Biergläser an die Tische. Er sah aus wie ein Student. Ullrich war zögernd eingetreten. Er hatte die Leute an den Tischen gemustert. Schließlich hatte er Petersen an der Theke entdeckt. Ullrich hatte gezögert, sich einfach zu der diskutierenden Gruppe zu stellen. Dann sah er Conny, der an der Theke eine Frikadelle aß. Ullrich stellte sich daneben. Ob Conny die Frikadelle empfehlen könne. Probier mal, sagte Conny und hielt Ullrich die Frikadelle hin. Ullrich wußte nicht, ob er wirklich abbeißen sollte. Schließlich biß er ab. Er bestellte sich eine Frikadelle und ein Bier. Jemand fragte Petersen, ob er immer noch unter Schlafstörungen leide. Das habe sich gebessert. Ein Mädchen erzählte Petersen einen Traum. Den habe sie schon zum 90 drittenmal geträumt. In diesem Traum sucht sie ein Zimmer, aber jedesmal, wenn sie eine Tür öffnet, kommt sie in ein anderes, größeres Zimmer. Die Zimmer werden immer größer. Schließlich sind es endlose Hallen, durch die sie bis zur nächsten Tür gehen muß. Petersen hörte konzentriert zu, dabei vor sich auf den Boden blik-kend, ein Glas Apfelsaft in der Hand. Conny fragte Ullrich, was er mache. Er erzählte von seiner Seminararbeit. Er stand da, die Frikadelle in der einen, das Bier in der anderen Hand und erzählte von dem fehlenden Seminarschein. Der letzte Schein, der mir fehlt. Aber plötzlich ging es nicht mehr. Er habe sogar die Universität gewechselt, sagte Ullrich und lachte gemeinsam mit Conny. Wir haben doch alle einen Hau weg. Leistungsfixiert. In einer Gesellschaft, welche sich durch die wirtschaftliche Konkurrenz reproduziert, stellt schon die Forderung nach einem glücklicheren Dasein des Ganzen eine Rebellion dar: den Menschen auf den Genuß irdischen Glücks verweisen, das bedeutet, ihn jedenfalls nicht a u f Erwerbsarbeit, nich tauf den Profit, nich t auf die A u tori tat jener ökonomischen Mächte verweisen, die das Ganze am Leben erhalten. Der Glücksanspruch hat einen gefährlichen Klang in einer Ordnung, die für die meisten Not, Mangel und Mühe bringt. Die Frikadelle sei gut, sagte Ullrich begeistert, er habe noch nie eine so gute Frikadelle gegessen. Er habe schon wieder so einen kleinen niedlichen Trip, erzählte Conny. In der letzten Zeit häufe sich das. Der Frust geht um. Erst später war Ullrich darauf gekommen, daß es sich um einen Tripper handeln müsse. In der ganzen Kneipe gab es nur einen mit kurzem Haarschnitt. Ullrich fand, daß der Kopf des Mannes hier peinlich nackt wirke. Ullrichs Haare waren inzwischen wenigstens schon wieder über die Ohren gewachsen. Die Parka, die Petersen trug, erschien ihm besonders praktisch. Ullrich fand seinen blauen Regenmantel plötzlich albern. Für den Winter war der Stoff zu dünn, und wenn es regnete, ließ er Wasser durch. Ullrich konnte nicht einmal die Hände richtig in die Taschen stecken, so wie Petersen und die anderen, die ihre Hände in der Parka richtig vergraben konnten. Er nahm sich vor, sofort eine solche Parka zu kaufen, auch wenn er sich das Geld dafür leihen müßte. Er habe das getestet, sagte Petersen. Er sei jetzt ganz sicher. Es gebe keinen Zweifel mehr. Er habe sich einfach mit Lister am Telefon verabredet. Er habe zu Lister gesagt: Wir treffen uns im Oblomow und dann fahren wir hin und schmeißen die Scheiben ein. Aber am 91