"Bürgerlich bis in die Knochen" Kindermangel, Familienkrise, Werteverfall- und Schuld haben die 68er? Ein Wochenende lang stritten 16 Rebellen darüber, was aus ihnen geworden ist und warum die Gesellschaft sich so ganz anders entwickelt hat, als sie sich das vorgestellt haben. A ls die SachbuchautOlin Eva Herman Iter, Kinder und Familien; die anderen wa­ kürzlich die Geschichte bemühte, ren so schlimm, dass alles, "was gut war", um auf ihr neues Buch aufmerksam also Werte, Familien, Mütter, Kinder, "das zu machen, jonglierte sie mit Erkenntnis- wurde abgeschafft". sen über zwei Diktaturen: die Herrschaft Als sei Ende der sechziger Jahre, so hör­ der Nazis und die Herrschaft der 68er. Die te sich das an, ein schlimmes Regime über einen, sagte Herman, waren schlimm, aber die Deutschen gekommen, das Macht hat­ sie waren immerhin gut für deutsche Müt- te bis in die Schlafzimmer, das die Medien 6Ber-ldole Hendrix, Twiggy, Mao Eine Junta von Dutschke bis Schwarzer DER SPIE G EL 44 / 20 0 774 Demonstranten in Berlin (1968): Die Macht der 68er ist eine Projektion in den Köpfen ihrer Kritiker und die Öffentlichkeit steuerte, das die Gesetzgebung der Parlamente manipulierte; eine Junta von Rudi Dutschke bis Alice Schwarzer beherrschte demnach die Republik, die das deutsche Paarungsverhalten, den Familiensinn und das Bildungswesen gleichschaltete. Diese Sicht auf "die 68er" ist nicht beschränkt auf schreibende Mütter, die dem Familienglück der vierziger und fünfziger Jahre nachtrauern; auch Autoren wie Udo Di Fabio, Peter Hahne, Bernhard Bueb und andere Kritiker der kulturellen Folgen des Rebellionsjahres resümieren inzwischen eine tiefgreifende Veränderung der Republik, die immer noch Ursache für viele Probleme des Landes sei. Je weiter das beklagte Schicksalsjahr zurückliegt, desto bedeutender wird es, desto einschneidender, desto folgenreicher. Die Drogen, der Kindermangel, die Familienkrise, der Bildungsnotstand, der Werteverfall, die Pornos, die Talkshows - alles die Folgen von 68, wenn man den Kritikern glaubt. In der vorigen Woche hat der Chefredakteur der "Bild"-Zeitung - um sein neues Buch berühmt zu machen - das Sündenregister der verfluchten Generation um ein Dutzend Vorwürfe verlängert: Der Öko-Glaube und die Rentenlüge, der Sozialhilfebetrug, die Bürokratie und die EU, dazu Vaterlandshass, Realitätsverweigerung, Mittelmaß, Faulheit und Lustlosigkeit - alles habe das Land den 68ern zu verdanken. Irgendwann werden sie auch für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich sein. Die Rebellion von 1968 habe mehr Werte zerstört als das Dritte Reich, so hatte seinerzeit der konservative Publizist Ludolf Herrmann bilanziert. Das war die Zeit, als Medien wie die "Bild" Rudi Dutschke und seine Genossen als "Politgammler" und "langhaarige Affen" mit "SA-Methoden" beschimpfte. In den knapp vier Jahrzehnten zwischen damals und heute war der Umgang mit den 68ern freundlicher; Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte ihnen attestiert, die Republik demokratisiert zu haben, auch viele Medien hatten im Rhythmus der Gedenktage das Lob verbreitet über das bunte, schöne, zivilisatorische Erbe ihres Aufstands. In den vergangenen Jahren jedoch ist die Klage über die böse, kaputte und verfluchte Erblast schriller geworden - eine deutsche Besonderheit. Die Jugendrevolution von 1968 war ein globaler Aufstand, aber es gibt neben Deutschland kein zweites Land, in dem die Folgen der 68er-Revolte bis heute so verbissen debattiert werden. "Die 68er" gab es schon 1968 nicht, und in den Jahrzehnten danach gab es sie - als geschlossene Bewegung - immer weniger; sie waren eine heterogene Masse mit unterschiedlichen Auffassungen: gleichzeitig gewaltfrei, gewaltbereit; pazifistisch, bellizistisch; marktgläubig, plangläubig; autoritär, antiautoritär; chauvinistisch, feministisch; maoistisch, trotzkistisch, stalinistisch, spontaneistisch, sozialdemokratisch, liberal; gläubig, ungläubig; antikommunistisch, prokommunistisch; karrieregeil, hedonistisch; kinderfeindlich, kinderfreundlich; bürgerlich, kleinbürgerlich, antibürgerlich; konsumfixiert, konsumfeindlich; staatsgläubig, anarchistisch; sie waren alles und nichts, und das gleichzeitig. Sie waren stark darin, zusammen die richtigen Fragen zu stellen an eine kriselnde Gesellschaft; aber in den Antworten auf diese Fragen kamen sie zu widersprüchlichen Antworten. Erst im Rückblick wurden sie zu einer einheitlichen Bewegung. DER SPIEGEL 44 / 2 007 75 Beatles-Fans in London (1965): Ein globaler Aufstand, aber nur in Deutschland wird er bis heute verbissen diskutiert Die Macht der 68er ist eine Projektion in den Köpfen ihrer Kritiker, die eingebildete Herrschaft einer Kaste von Gleichgesinnten. In Wirklichkeit sind die Bewohner dieser Festung längst von der Höhe der Weltanschauung hinabgestiegen ins Tal des Lebens und sehen kopfschüttelnd zu, wie immer neue Truppen anstürmen gegen etwas, was für ihr Vermächtnis gehalten wird. Die, um die es in diesen Debatten immer geht, sitzen heute in der SPD, bei den Grünen oder in der FDP, sie sind links, rechts, konservativ oder unpolitisch, sie sind Single, geschieden oder verheiratet, sie sind kinderlos oder kinderreich, sie sind noch unterschiedlicher, als sie damals waren, und deshalb haben sie keine gemeinsame Stimme in diesem Debattenzirkus. Darum hatten ein paar dieser Aufsässigen a. D. eine simple Idee: Warum diesem ganzen schrillen Geschrei um ,,68" und seinen schrecklichen Folgen nicht mal eine ordentliche Abrechnung entgegensetzen? Warum nicht mal für ein langes Wochenende zusammenkommen, um darüber zu reden, was aus dem geworden ist, das sie damals wollten? Sie - das sind 16 Menschen aus Bremen, die damals die Welt verändern wollten und nun als Staatsanwälte, Werber, Ärzte, Journalisten, Hochschullehrer, Manager und Politiker ein bürgerliches Leben führen, das anders ist, als sie erwartet haben. Sie lebten damals nicht in den studentischen Metropolen, an ihnen kann man beobachten, wie tief ,,68" in die deutsche Normalität einschnitt. In Bremen waren die 68er jünger als in Berlin, Frankfurt oder München, weil Bremen keine Universität hatte und noch keine revolutionären Studenten; die Schüler waren das, was man zu jener Zeit revolutionäre Subjekte nannte. Sie blockierten Straßenbahnen, sie kifften zusammen, sie warfen im Haus des Bildungssenators alle Scheiben ein, sie tanzten mit Schlips und Kragen im Beat-Club, sie drohten mit Bomben, sie stahlen ihren Lehrern die Zensurenbücher, sie schütteten NPD-Autos Zucker in den Tank, sie machten also all diese Sachen, von denen man sich gern am 50. oder 60. Geburtstag vorschwärmt. Gut, haben sich diese 16 Selbstkritiker gesagt, tun wir den Kritikern den Gefallen, machen wir noch einmal die Lichter an, hissen die Fahnen, schmeißen die Musikbox an, greifen zur Flasche, bieten wir noch mal ein Wochenende lang die große 68er-Show, lassen wir den Spaß wiederauferstehen und die Debatten, die Irrtümer, die Hoffnungen, betrachten wir sie mit der Weisheit unserer fünfzig Jahre und stellen ein paar Fragen an unser Leben: Welche Kritik an den 68ern ist berechtigt? Warum sind die wenigsten von uns politisch aktiv? Was machen wir im Verhältnis zu unseren Kindern anders als unsere Eltern im Verhältnis zu uns? Wie haben wir die Gesellschaft verändert, im Guten wie im Schlechten? Aus der Schweiz und aus München, aus Jena, aus Köln, aus Berlin und Hamburg sind sie deshalb nach Worpswede bei Bremen gekommen; dort fuhren sie schon als Schüler hin, um über die nächste Etappe im revolutionären Kampf zu beraten. Der Diskussion stellten sich - moderiert vom Journalisten Christian Berg - die Generalstaatsanwältin Angela Uhlig-van Buren, die Bundestagsabgeordnete Krista Sager, der Rechtsanwalt Bernhard Docke, die Journalistin Tissy Bruns, der Hochschullehrer Christoph Köhler, der Sozialmanager Joachim ("Barlo") Barloschky, der Stadtteilbürgermeister Robert Bücking, der Werbeunternehmer Jork de la Fontaine, der Anwalt Wolf Leschmann, die WDRRedakteurin Irmela Hannover, die PädagoDER SPIEGEL 44/200776 gin Barbara Brokamp, die Geschäftsführe­ rin Katja Barloschky, die Kulturveranstal­ terin Karin Hopfe, die Anwältin Ingeburg Lösekann, der Arzt Matthias Kleij, der SPIEGEL-Ressortleiter Cordt Schnibben. Christian: Wenn ihr an diese Zeit Ende der sechziger Jahre zurückdenkt, welches Bild schießt euch dann in den Kopf? Karin: Mein Bild ist aus dem Sommer 68, an einem Vormittag irgendwo im Bremer Steintorviertel, wo mir ein Freund begeg­ net ist. Am Abend vorher hat es ein rau­ schendes Fest in der Lila Eule gegeben. 8arlo: Nicht in der Lila Eule, sondern oben auf dem Dach. Karin: Ihr wart oben auf dem Dach, und je­ mand schrie: "Der Puff brennt!" Christoph: Stimmt. Da brannte es, da gab es in der Helenenstraße Feuer. Karin: Dieser Freund, das ist das Beson­ dere an dieser Erinnerung und diesem Bild, sagte zu mir: "Dieser Sommer wird ein heißer werden." Das ist bis heute im Kopf. Christoph: Auf dem Dach hatten wir uns alle ausgezogen. 8arlo: Ganz genau. Und Olaf, der aufrüh­ rerische Alt-Juso, der hat uns an den Schwanz gefasst. Also mir. Robert: Ich sehe mich mit meinem grünen Parka mit diesem Pelzkragen, den ich im* Von links: Angela, Wolf, Krista, Christoph, Jork, lugeburg, .Ioachim ("BarIo"), Kalja, Barbara, Bernhard, Irmela, Christian, Cordt, Robert, Matthias, Tissy. mer anhatte, an einer Ecke im Steintor ste­ hen, ich weiß, dass Rudi Dutschke in der Eule auftritt, ich will den Chefideologen aus Berlin unbedingt hören, das bedeutet mir viel, und ich habe mich nicht getraut, nach dem Weg zu fragen. Wolf: Ich sehe mich auf dem Konferenz­ tisch im Lehrerzimmer des Alten Gymna­ siums sitzen, wir Schüler hatten eine Zeug­ niskonferenz gesprengt, und ich sehe den Direktor, der im Lehrerzimmer auf dem Tisch steht. Irmela: Meine stärkste Erinnerung ist der Mord an John F. Kennedy. Da habe ich zum ersten Mal ein Gefühl dafür gekriegt, diese Welt ist gefährlich, und die guten Menschen werden umgebracht. Christoph: Für mich ist es diese Szene, wo wir auf den Schienen sitzen und die Straßenbahn aufhalten. Tissy: Ich habe zwei Bilder im Kopf, der tote Benno Ohnesorg und das Dutschke­ Fahrradbild nach dem Attentat. Ohnesorg, das war wie eine Initialzündung. Matthias: Das war initial, ja. Da fuhr ei­ nem eine Axt in den Kopf. Ingeburg: Meine stärkste Erinnerung ist eine Szene nach irgendeiner Demonstra­ tion, wo sich alle zurückgezogen haben in den Sozialistischen Club. In der Mitte stand eine Leiter, ich weiß nicht, wer da alles raufgestiegen ist und geredet hat, und ich habe aus dem Fenster geguckt und habe gesehen, dass gegenüber das Untersuchungsgefängnis ist und dahinter das Justizgebäude. Ich habe dieses Kribbeln gehabt und mir gesagt: "Irgendwann landen wir alle da drüben." Cordt: Wenn man sich diese Bilder noch mal in den Kopf zurückholt und drüber nachdenkt, wie wir damals gedacht haben und wie wir uns unser Leben vorgestellt haben - nun die Frage: Leben wir heute so, wie wir damals leben wollten? Okay, wir sind nicht im Gefängnis. Gut. Aber sonst? (Schweigen, längere Pause) Irmela: Warum meldet sich keiner? Krista: Ich lebe, ehrlich gesagt, heute bes­ ser, als ich es mir damals vorgestellt habe. Also, dass ich einen Beruf habe, der mir Spaß macht und mit dem ich auch noch Geld verdienen kann, das empfinde ich als großes Glück. Dass ich seit 13 Jahren mit einem Mann zusammen bin, den ich liebe, empfinde ich auch als ein großes Glück, nach diesen ganzen Wirren. Robert: Ich glaube, wir hatten uns das Leben sehr viel gemeinschaftlicher vorge­ stellt. Wir hatten die Vorstellung, die Ab­ gegrenztheit des Individuums zu überwin­ den, in Wohngemeinschaften, in Kampf­ gemeinschaften. Angela: Die Mädchen haben besonders profitiert von dieser Zeit damals. Für uns war es die Befreiung von diesem Frauen­ bild, an das wir uns heute gar nicht mehr erinnern, wenn wir nicht Eva Herman lesen würden. Ich bin selbstbestimmt, ich mache mich von keinem Kerl abhängig. Ich habe studiert. Ich habe meinen Job ge­ macht. Ich habe Kinder gekriegt. Gut, es hat mit den Beziehungen nicht immer ge- Diskutanten in Worpswede*: "Irgendwann landen wir alle im Gefängnis" DER SPIEGEL 44/2007 77 IRMELA HANNOVER, WDR-Redakteurin, als Schülerin auf einem Jugendfestival. Sie war aktiv im Sozialistischen Schülerbund Bremen, hat Jura studiert, in den USA und Brasilien gelebt, ist Mutter von drei Kindern. klappt, aber mein Gott, man kann nicht alles erwarten vom Leben. Cordt: Wenn man das, was wir heute sagen, damals abgespielt hätte, hätten wir selbst über uns gelacht. Wir formulieren eigentlich nur sehr private Ziele. Damals hatten wir aber große Projekte und Utopien, wir wollten doch mehr verändern als nur unser persönliches Leben. Angela: Das hat nicht geklappt. Das kannst du mal in der Zeitung nachlesen. Cordt: Wir haben doch damals gesagt, das Parteiensystem funktioniert nicht. Das muss ersetzt werden durch eine Räte­ demokratie. Robert: Na ja, das hast du gesagt. Cordt: Du auch. Wir haben gesagt: Der Kapitalismus muss abgelöst werden durch eine andere Gesellschaftsordnung. Die ganze Kultur ist verrottet. Das Bildungssystem ist verrottet. Wir brauchen eine ganz andere Kultur. Wir wollen ein anderes Sexualverhalten. Also, wir hatten doch einen langen Katalog, den wir uns damals aufgeladen haben. Wir wären damals nicht damit zufrieden gewesen, nur unser persönliches Leben zu verändern. Jork: Nee, also ganz großer Einspruch. Barlo: Aber die Frage war doch jetzt vollkommen berechtigt. Das hatten wir uns, glaube ich, wirklich anders vorgestellt, gemeinschaftlicher. Heute hörst du von allen Leuten, dass sie unheimlich gerne kochen, für sich, in ihrer Küche. Da bin ich lieber bei den Altidealen geblieben und gehe immer nur in die Kantine. Tissy: Zu McDonald's, oder was? Nicht alles, was uns geglückt ist, ist unser Verdienst, und nicht alles, was gescheitert ist, ist unsere Schuld. Die Frauenbefreiung ist ein Erfolg. Es muss aber auch dazu gesagt werden, dass es nicht nur die 68er waren, die diesen Schub in der Gesellschaft ausgelöst haben, sondern gewisse Modernisierungsentwicklungen in den industrialisierten Gesellschaften, die überfällig waren. Und vor allem: Wir, die wir als so große Solidaritätswesen angetreten sind, sind - paradoxerweise - die Vorreiter der individualisierten Gesellschaft geworden. Aber da sind wir schuldlos schuldig. Barbara: Ich habe zum Beispiel zehn Jahre in einer Frauen-WG gewohnt, und wir haben darauf geachtet, dass wir, als wir Frauen mit unseren männlichen Partnern zusammengezogen sind, nach wie vor in einer Hausgemeinschaft leben und Teile unserer alten Idee weiter verwirklichen. Und in der Planung fürs Alter sind wir dabei, Alten-WG-Modelle zu diskutieren. Matthias: Ach Quatsch, das ist Frau von der Leyens Mehrgenerationenhaus, das hat mit 68 nichts zu tun. Irmela: Die hat sich bei uns bedient. Das tut sie unaufhörlich. Ich glaube, ich habe in dieser Runde am meisten die Forderung der Frauenbewegung ernst genommen und auch gelebt, nämlich, dass man keinen Mann braucht, auch nicht zum Kinderaufziehen. Und das habe ich ja zumindest mit meinem ersten Kind eine Weile auch durchgezogen, und bei meinem zweiten habe ich dann zum Vater gesagt: "Also, kannst gerne mitmachen, aber geht auch ohne." Hatte Glück, der sagte: "Aber selbstverständlich mache ich da mit!" Und so entdeckte ich - praktisch gegen meinen Willen - die Segnungen einer funktionierenden, bürgerlichen Familie. Cordt: Da liegt natürlich einer der Haupt­ angriffspunkte gegen die 68er. Der Vor­ wurf: Mit dieser Haltung habt ihr 68er die­ se bürgerliche Gesellschaft, nämlich funk­ tionierende Familien, eigentlich in den Grundfesten erschüttert, und daraus sind Kinder hervorgegangen, die ganz bekla­ genswerte Geschöpfe sind. Irmela: Das kann man über unsere Kinder, deine ja auch, aber nicht sagen. Katja: War das denn überhaupt das Ideal? Meines war es nie. Irmela: Nein, es war nicht das Ideal, aber es war eine Option, die völlig okay war. Cordt: Wir haben uns doch damals eine Gehirnwäsche verordnet. Wir stellten an uns die Forderung, wir müssen uns ent­ bürgerlichen. Unser Leben ist aber so ver­ laufen, dass wir das eine Zeitlang versucht haben, und dann gab es eine Wende, und es begann ein Prozess der Verbürger­ lichung. Das meine ich gar nicht polemisch, sondern einfach beschreibend. Christlan: Erkennt ihr euch in dem wieder, was Cordt gerade sagt? Barbara: Ich nicht. Matthias: Nur zur Hälfte. Krista: Das ist die typische Selbstüberschät­ zung der 68er und auch die Omnipotenz­ zuweisung ihrer Gegner. Dass die Familien und die Beziehungen reihenweise geschei­ tert sind, ist doch nicht unser Werk gewe­ sen. Dass die Männer in diesen richtig bür­ gerlichen Familien die Biege gemacht haben zu jüngeren Frauen, das war doch nicht un­ ser Werk, und diese hohen Scheidungsraten sind doch auch nicht unser Werk. Tissy: Wie Familien heute leben, das hat mit 68 viel weniger zu tun als mit der Pil­ le. Mitte der sechziger Jahre ist das Kin- DER SPIEGEL 44/200780 derkriegen eine freie Entscheidung gewor­ den, das hat die Familie kolossal verän­ dert. Viel mehr als alles, was wir uns zu­ sammengedacht haben. Matthias: Dass jetzt ganz viele ganz allein leben und dass es ganz viele alleinerzie­ hende Eltern gibt, das ist doch keine Folge der 68er-Bewegung. Absurd! Es ist doch der zunehmenden Vereinzelung und Auf­ lösung der Familienstrukturen durch die erzwungene Unstetigkeit der Arbeit ge­ schuldet. Wir wollten das Gegenteil. Auch die Tatsache, dass freiere Sexualität durch den Kapitalismus vermarktet und zu ei­ nem Alltagsding geworden ist, das belästi­ genden Charakter annehmen kann, das ist doch nicht unsere Schuld. Krista: Nee, das ist der Markt. Matthias: Ja, oder sind wir schuld daran, dass wir eine Musik toll gefunden haben, Barlo: Ich habe dran gedacht, dass wir da­ mals angegangen sind gegen die CDU­ Losung, die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft. Wenn du dann so einen Spruch hörst, dann .. . Christian: Ich frage euch danach, wie geht es eigentlich mit eurem Leben im Verhält­ nis zu dem, was ihr geträumt habt, und ihr seid plötzlich wieder bei der Kapitalis­ musfrage. Tissy: Ganz einfach, der Industriekapita­ lismus hat die Großfamilie zerstört, und jetzt steht ernsthaft die Frage, ob der Tur­ bokapitalismus die Kleinfamilien klein­ kriegt. Bei der Gastfamilie meines Sohns in den USA gibt es gar keinen Esstisch mehr, weil die Mutter zwei Berufe hat. Krista: Da wären wir wieder da, wo wir herkommen, dass es doch am Kapitalis­ mus liegt. schwörung dafür gesorgt, dass die heile Welt der bürgerlichen Familie zerstört wurde. Tatsächlich war es so, dass wir zu Hause am Küchentisch gemerkt haben, dass diese bürgerliche Familie, in der wir gelebt haben, nicht funktioniert hat. Die Mutter war todunglücklich und der Vater ein chronischer Fremdgänger. Das ist jedenfalls meine Erfahrung mit meinem Vater. Katja: Unser aller. Matthias: Die Moral meiner Eltern, mit der konnte ich nicht leben, weil die für meinen Geschmack zutiefst verlogen oder zumindest unstimmig war. Diese Sprüche: "Ach komm, darüber lass uns lieber nicht mehr sprechen, über den Krieg, das ist jetzt vorbei." Ich konnte mit der Moral nicht leben. Christian: Wie hast du festgelegt, was Moral ist, wie hat das angefangen, dass du gesagt hast ... Matthias: Ich bin katholisch erzogen worden, und das hat ja sehr viel mit Moral zu tun, und da lernt man auch schon sehr schnell, dass das etwas ist, was vorne und hinten nicht stimmt. Und man wird so hart - beispielsweise auf der sexuellen Ebene - damit konfrontiert, dass man das nicht ertragen kann. "Wann hast du dich das letzte Mal unkeusch berührt?" Oder: "Wann hast du das letzte Mal unkeusche Gedanken gehabt?" Das musste man sich sehr intensiv fragen. Man musste in Wirklichkeit nicht lange nachdenken, und das war ja auch genau das, was man nicht gebeichtet hat. Das ist einem klar geworden, und schon hat man selber, am eigenen Leibe, die Verlogenheit und die Doppelmoral gespürt. CHRlSTOPH KÖHlm, 57, Professor für Arbeitsmarktforschung in Jena, als Besetzer im Lehrerzimmer eines Christian: Und die Eltern Bremer Gymnasiums. Er war Anführer vieler Demonstrationen, verurteilt wegen Landfriedensbruchs. standen dafür, dass man die anders war und Protest ausgedrückt hat und inzwischen zu einem Gedudel von morgens bis abends geworden ist, das man nicht mehr ertragen kann, im Auto, im Fahrstuhl, im Supermarkt? Jork: Hottentottenmusik. Irmela: Im Grunde ist es mit der Familie ja ähnlich. Man wirft uns vor, wir hätten die Familie zerstört, dabei ist es doch der Tur­ bokapitalismus mit seiner ständigen Tem­ poerhöhung und Flexibilisierung aller Ar­ beitsverhältnisse, der der Familie die Luft abdrückt. Ist es nicht deshalb so, dass die Familie inzwischen so etwas wie ein Wi­ derstandsnest ist gegen diese Ökonomisie­ rung aller Lebensbereiche? Jork: Die Familie als revolutionäre Zelle des Widerstands. Habe ich doch so verstanden? Katja: Objektiv. Ja, das ist so. Cordt: Barlo bricht zusammen. Katja: In diesem ganzen Familienzusam­ menhang bin ich auch total Altmarxistin. Jork: Was bist du? Altmarxistin? Katla: Ja. Ich bin selber Arbeitgeberin, ich weiß, wovon ich spreche. Ich erlebe es, dass die Erwerbsarbeit sich sehr verändert, mit dem Ergebnis einer Verdichtung der Arbeit, so dass, wer da mithalten will, im­ mer weniger Zeit und Kraft für Kinder hat. Ich weiß, was ich von meinen Mitarbeite­ rinnen und Mitarbeitern erwarte, und des­ wegen ist das jetzt überhaupt nichts Theo­ retisches, was ich hier daherrede, sondern das ist ganz praktisch. Christian: Noch mal weg vom Kapitalismus, hin zu eurem Aufstand gegen die bürger­ liche Familie. Was trieb euch damals aus euren Elternhäusern? Cordt: Im Moment wird ja so getan, als hät­ ten wir 68er durch eine ideologische Ververlogen sein muss? Matthias: Ja, selbstverständlich. Genau das, was eigentlich passiert war, durfte man nicht erzählen. Und das Gefühl dieser Verlogenheit hat sich in Bezug auf die Vergangenheit der Elterngeneration vertausendfacht. Ich glaube, keine Generation, und schon lange nicht die unserer Kinder, hat je so ein Gefühl von Doppelmoral und Verlogenheit erlebt wie wir. Für mich zu Hause war das ein entsetzliches Lebensgefühl, dieses "Darüber wollen wir jetzt mal nicht mehr sprechen, das ist jetzt auch oft genug, das muss auch einmal vorbei sein". Wir wussten ja gar nicht, was da gewesen ist. So ein paar ganz kleine Geschichten, dass sie Hunger gelitten haben und so ein Zeug. Wie viele sie umgebracht haben, mein Vater war SS-Offizier, darüber ist ja nie gesprochen worden. DER SPIEGEL 44/200782 68er-lkone ehe Guevara (1960): "Hast du Kinder erschossen7 " Cordt: Mein Vater war auch Nazi. Im Nachhinein muss ich sagen, dass ich den Mut nicht hatte, ihn persönlich zu konfrontieren. Ich habe abstrakt in der Schule oder zu Hause über die Nazi-Zeit geredet, aber ihn nicht konkret gefragt. Mein Vater hat, das habe ich erst erfahren, als er tot war, im letzten Kriegsjahr einen Hitler-Gegner exekutiert, zusammen mit anderen. Wir wussten als Kinder, dass unser Vater im Zuchthaus gewesen war, drei Jahre lang. Aber wir haben nicht den Mut gehabt, dem auf den Grund zu gehen. Jork: Mein Vater hat nie verleugnet, dass er gern Soldat gewesen ist. Das hat natürlich zu heftigen Auseinandersetzungen geführt. Wir haben uns manchmal richtig angeschrien, einmal hat er mich um unseren Esszimmertisch herum gejagt, so habe ich ihn geärgert mit meiner Antikriegshaltung. Bernhard: Ich war mal bei dir zu Besuch, dein Vater hatte ja ein Bein verloren, und ich kam unvorbereitet ins Wohnzimmer rein, und er hatte seine Prothese abgelegt. Ich sah ihn nun in diesem unfertigen Zustand, und sofort setzte er diese alte Kriegsmaske auf: "Ich bin stolz darauf, dem deutschen Vaterland ein Bein geopfert zu haben." Christian: Warum finden wir es selbstverständlich, dass die Bilder vom Krieg auslösen, dass man gegen die Eltern rebelliert? Warum ist das so? Warum führt das sofort in eine Konfrontation mit den Eltern? Warum führt das Erlebnis des Vaters, der sein Bein verloren hat, in eine Konfrontation? Das könnte ja auch Mitleid auslösen. Cordt: Mein Vater hat sich nie darum bemüht, bei uns Verständnis oder gar Mitleid zu wecken. Das haben sie sich nicht getraut. Vielleicht hätten wir ihn besser verstanden, wenn er uns gesagt hätte: "Das war die Hölle, das war unmenschlich, mir haben sie den halben Magen weggesprengt, ich habe so viel Angst gehabt, das reicht bis ans Lebensende." Tissy: Was war damals überhaupt? Wir hatten alle Eltern, die Dinge erlebt hatten, über die sie mit ihren Kindern nicht reden konnten. War da nicht ein Ausweg, das zu entindividualisieren, also nicht mehr unsere Eltern direkt fragen zu müssen, sondern das in einer allgemeinen Rebellion aufzuheben? Es gibt ja wirklich das komische Phänomen, dass deutsche 68er viel mehr Nazi-Väter haben, als es wirklich gegeben hat, weil die meisten ihre Eltern nicht ernsthaft gefragt haben. Matthias: Ach Quatsch. Die waren doch alle Nazis. Tissy: Eine Erklärung dafür, dass diese 68er-Bewegung so anschwoll, liegt doch darin, dass wir so dem familiären Elend entrinnen konnten. Ein ls-jähriges Kind ist doch überfordert, den eigenen Vater oder die eigene Mutter zu fragen: "Bist du vom Russen vergewaltigt worden?" "Hast du Kinder erschossen?" Das war die Chance, das individuelle, das familiäre Drama in einer allgemeineren Atmosphäre der Abrechnung aufzuheben. nSSy BRUNS Christian: Ihr geht zur Schule, ihr besucht den Konfirmandenunterricht, ihr seid in der Tanzschule - wann war der Moment, in dem ihr wachgeküsst worden seid? Christoph: Fünfzehn war ich da. Ein ganz kleiner Schnipsel in der Zeitung. Es gab einen Schülerbund, in Berlin gegründet, die haben die Pille gefordert. So ein kleiner Schnipsel im "Weser-Kurier", und dann ging sofort die Post ab im Kopf. Christian: Pille, da war für dich klar, was das ist? Christoph: Nein - aber mit lS war mein Kopf voll von sexuellen Wünschen und Phantasien, und die Pille war ein Symbol gegen Verbote. Sex war etwas Verbotenes, nur für verheiratete Paare erlaubt, die alle so aussahen, als ob es keinen Spaß macht. Es gab die Bilder aus dem QuelleKatalog, irgendwelche Fotos, die Filmanzeigen, wenn da eine Frau mit BH zu sehen war, das war natürlich sehr aufregend. Das waren Schnipsel, die setzten sich zusammen, da war etwas ganz Neues da. In der Rückerinnerung kommt mir das Leben vorher sehr dunkel vor: aufstehen um sechs, Schulweg im Dunkeln, Angst vor Klassenarbeiten, Heimweg, Hausaufgaben, schlafen gehen, wenn der Abend am schönsten ist. Plötzlich ging die Post ab im Kopf, wir suchten alles ab nach Zeichen von Freiheit und Rebellion. Wir sahen nicht nur die Kriegsbilder aus Vietnam, sondern auch die von den DER S PIEG E L 44 / 2007 Schulbesetzer in der Aula eines Bremer Gymnasiums (1969): ,.Wer etwas gemacht hatte, bekam einen Schlag auf den Hintern" großen Demonstrationen in den USA und sonst wo. Tissy: Eine Quelle für dieses Erstaunen war, dass man auf einmal Sachen angucken durfte, die vorher einfach nicht vorhanden waren. Dass es da eine Welt gab, MarxSchriften, das "Kapital" und so weiter, das war ja in der Schule und im Elternhaus vorher nicht da. Für mich war eine Schlüsselszene, das weiß ich noch, das war 67, da wurde der Film "Iwans Kindheit" gezeigt, ein Film über die Leiden der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Was ja bis dahin tabu war. Es verknüpfte sich auf einmal so unglaublich viel, das war wie eine Explosion. Christoph: Mein Friseur kannte nur zwei Varianten: Mittelscheitel oder Scheitel nach links und den Rest abrasiert wie bei Adolf. Da lag dann eine abgegriffene "Bunte" aus dem Lesezirkel mit einem Bericht und Bildern über die Pilzköpfe aus Liverpool, das hat mich völlig elektrisiert, ich wollte sofort auch so einen Schnitt. Auf einmal war ein anderer Rhythmus da. Das verband sich mit dem Moralischen, mit dem Politischen, mit den kleinen Schnipseln, und das alles zusammengenommen war wie Dynamit. Ingeburg: Angefangen hat meine rebellische Phase eigentlich schon ziemlich früh, mit 13, 14, als die ersten Ideen aus Frankreich rüberkamen, Miniröcke von Courreges und Existentialismus und was weiß ich. Lackmäntel und schwarze INGEBURG lÖSEKANN KunstIehrer, der versuchte, Pullover. Mit meiner Mutter hatte ich immer viele Probleme, weil sie ausgesprochen streng war und uns geschlagen hat und unheimlich ehrgeizig war mit ihren Mädchen. Ich sah eine Annonce in der Zeitung, dass das Bremer Theater Laienschauspieler sucht. Das Stück hieß "ZickeZacke", das hatte Peter Zadek mitgebracht, da haben sie nur Leute ausgesucht, die alle ein bisschen durchgeknallt waren. So fing meine revolutionäre Phase mit diesen Leuten vom Theater an. Peter Stein arbeitete am Theater, Peter Zadek, Wilfried Minks, Fassbinder guckte mal vorbei, all diese Leute, die das Publikum beschimpfen wollten. Bernhard: Irgendwann kam Zadek an unser Gymnasium und hat den Spielfilm "Ich bin ein Elefant, Madame" gedreht. Wir haben da als kleine Statisten mitgemacht für ein Butterbrot und eine Cola und für fünf Mark. Das war ja ein Film gegen blinden Gehorsam und falsche Autoritäten. Es gab ja noch Prügelstrafe an unserem Gymnasium, besonders im Sportunterricht. Wenn man irgendwie aus der Reihe tanzte, mussten alle in der Reihe antreten, und derjenige, der irgendwas gemacht hatte, musste vortreten, eine Verbeugung machen, ganz tief, und hat dann von hinten einen Tritt oder einen Schlag auf den Hintern gekriegt, und dann wieder ins Glied zurück. So lief der Sportunterricht ab. Cordt: Wir hatten einEm uns ästhetisch aufs Leben vorzubereiten. Er sagte: "Ihr werdet irgendwann mal Chefs sein, und dann habt ihr Sekretärinnen. Und dann kommen die zu euch und wollen zum Beispiel ihrem Mann eine Krawatte schenken, und dann müsst ihr sie ästhetisch beraten können." Wolf: Als man in der Schule anfing, aufsässiger zu werden, nicht mehr alles zu machen, was einem befohlen wurde, merkte ich plötzlich, da kommt Druck auf. Als ich dann wegen einer vorgeschobenen MatheSechs nicht versetzt wurde, haben wir mit circa 30 Protestschülern das Lehrerzimmer besetzt. Barlo: Diejenigen von uns, die aus bildungsbürgerlichen Kreisen kommen, aus linksliberalen Elternhäusern, denen wurden doch die Ideale von Demokratie, Freiheit und Frieden gepredigt. Die Wirklichkeit aber war Vietnam: B-S2-Bomber, Kinder verbrannten; die USA sind schlimm, obwohl ich ursprünglich als kleineres Kind noch zu den USA gehalten habe. Ich habe dann in der Schulzeit ganz naiv in dieser Polit-AG gefragt: "Wenn wir eine Demokratie sind, warum ist denn die kommunistische Partei verboten?" Ich wusste gar nicht, was das genau war. Dazu dann NaziLehrer, Heinrich Lübke, andere Dummdaddels, die an der Spitze standen. Es gab also viele Widersprüche zwischen dem, wie es sein sollte, und dem, wie es war. Cordt: Jetzt mal ehrlich, wir als Verfechter der Moral, wir kleinen Jungs und Mädchen als Handlanger des Gewissens, ist das nicht etwas dicke? Jetzt lasst uns doch ehrlich DER SPIE G EL 44/20 0 7 85 JOACHIM "BARLO" BARLOSCHkY, 55, Sozialmanager, als Demonstrant (5. v. 1.). Er war Mitbegründer des "Unabhängigen Schülerbundes", danach Funktionär in der DKP; später Ausbildung zum Betriebswirt. sein, okay, später hatten wir irgendwann eine Mission. Aber zunächst einmal waren wir doch wirklich knallharte Egoisten. Wir wollten eine Schule haben, die es uns leichter machte. Wir wollten uns gegen die Eltern durchsetzen. Wir wollten Sex haben. Wir wollten bessere Musik hören. Das waren Motive, und die haben nichts zu tun mit einer höheren Moral oder mit dem Anspruch, ein besserer Mensch zu sein. Wir waren Egoisten, und wir wollten einfach für uns selber ein besseres Leben. Tissy: Ich glaube, wir hatten einen unheimlichen Sensor für Lebendigkeit. Wir haben, glaube ich, genau gespürt, wenn irgendwo was ist, was Leben hineingebracht hat. Ich finde, Egoismus ist der falsche Begriff. Barbara: Das find ich auch. Tissy: Das war doch gar nicht so, dass wir gesagt haben, ich will aus egoistischen Gründen Sex. So war das doch gar nicht. lork: Aus egoistischen Gründen bumsen. Wie geht das? Matthias: Das geht auch, aber das wird doch jetzt nicht diskutiert hier. Krista: Ich glaube, wir waren angezogen von allem, was uns das Gefühl gab, hier kommt unheimlich Leben rein. Angela: Genau. Provokation gelungen, das war das Geile. Krista: Diese Lehrer, die wussten, wo es langgeht, die ganz steif waren vor Ordnung, die waren völlig aufgeregt und aufgelöst. Und das, glaube ich, ist das, was plötzlich passiert ist - dass wir vorher immer gemerkt haben, wir laufen in eine Wand hinein, und die Verhältnisse bleiben starr, und es bewegt sich nichts. Und dann haben wir plötzlich gemerkt: Musik, lange Haare, Schlottermantel, freche Reden, fre­ che Flugblätter, die Studenten in Berlin jetzt bewegt sich was. Karin: Es war langweilig, es war einfach langweilig, und die Perspektive, die man gehabt hat für das, was man dann später mal werden sollte, war noch langweiliger. Alle Welt fragte einen ja immer: "Was willst du denn werden, später?" Das zu machen, was die Eltern machen. Das war alles schon so klar und so vorgezeich­ net, fast schicksalhaft: Grundschullehrerin, zwei, drei Kinder natürlich, heiraten selbst­ verständlich, vorher läuft gar nichts. Un­ geschminkte Frau mit weiten Röcken, die mit ihren Kindern über die Wiese hüpft, so ungefähr habe ich meine Zukunft gesehen. Dann hört man von Paris, oh, da laufen die Leute mit schwarzen Pullovern rum und sind existentialistisch, man weiß nicht so genau, was das ist, aber es ist etwas ande­ res. Jeden Strohhalm, der sich geboten hat, um da rauszukommen, den habe ich er­ griffen. Robert: Ich erinnere mich an eine Stim­ mung, die war so, dass ich das Gefühl hat­ te, mein Widerspruch ist klar, ich suche die Gründe. Versteht ihr? Erinnert ihr euch auch daran? Das Urteil war doch schon längst gesprochen über die ganze Veran­ staltung, und wir waren dann immer froh, wenn uns mal wieder was eingefallen ist, womit man das begründen kann. Christian: Gab es in diesem Gefühl einen Unterschied zwischen Jungs und Mädchen? Und was war mit "freier Liebe"? Tissy: Ja, ich finde, dass das für die Frauen in dieser Zeit eine gewaltige Überforde­ rung war. Robert: Für die Männer auch. Irmela: Also, ich denke, alle Frauen hier können bestätigen, wir haben mit vie­ len Männern im Bett gelegen, bei denen man sich gefragt hat: Warum um Gottes willen bist du denn mit dem jemals ins Bett gegangen? Das hat nichts gebracht, aber das hatte jetzt stattzufinden, sonst war man keine tolle, emanzipierte, eroti­ sche Frau. Tissy: Ich bin einmal angerufen worden von einem, der ging mir so ungefähr bis zur Schulter. Ich konnte ihn überhaupt nicht leiden und er mich bisher offenkun­ dig auch nicht. Dann sagt er mir am Tele­ fon: "Du, ich möchte jetzt übrigens mit dir pimpern." Schon dieses Wort fand ich grässlich. Und dann habe ich ganz schnell gesagt: "Oh, ich bin gerade so schrecklich erkältet." Matthias: Ich habe mich eben gefragt: "Ja, was müssen das für Kerle gewesen sein?" Die Antw0l1 ist: Das waren du und deine Freunde. Katja: Na ja, ich meine, das, was unsere Väter heimlich gemacht haben, das war dann offizielle Politik. Angela: Aus Mädchensicht waren natürlich die Typen am interessantesten, die am wei­ testen vorne auf der Barrikade standen. Das ist doch wohl klar. Insofern haben wir uns verhalten wie alle Mädchen jeder Ge­ neration. Man suchte sich diejenigen, die oben sind, und versuchte, mit denen die Gene weiterzugeben. Hat einer mal was von Darwin gehört? Irmela: War die Revolutionärin denn auch besonders attraktiv für euch Jungs? Cordt: Ja, absolut. Ich glaube, dass viele Jungs nur dabei waren, weil die hüb­ schesten Frauen Linke waren, ganz klar. 88 DER SPIEGEL 44/200 7 Matthias: Ich habe später auf diesen Klassentreffen sehr viel mit Leuten gesprochen, die heute absolute Führungspositionen unserer Gesellschaft innehaben. Von der rechten Seite, also richtige Großunternehmer, die gesagt haben, ein Grund war, warum sie uns ganz besonders gehasst haben, dass sie so neidisch waren. Die waren so ehrlich, mir das dreißig Jahre später zuzugestehen. Weil wir eben viel interessantere Leben hatten und die viel tolleren Mädchen an unserer Seite waren. Tissy: Ich finde immer noch das eigenartige Nebeneinander der Gefühle so seltsam. Das Gefühl eines wirklichen, eines romantischen, großen Aufbruchs, auch in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern, und gleichzeitig war ich eine richtige Mackerbraut, ja. Ich war mit einem dieser starken Typen da, aber ich war trotzdem die mit den langen blonden Haa­ ren, mit den ganz kurzen Röcken, die vor der Vollversammlung gestanden hat. Ich glaube, wir Frauen haben genau dieselben Anpassungsleistungen in der Liebe er­ bracht, wie das die Frauengenerationen vorher gemacht haben, aber die heutigen Mädchen wirklich so nicht mehr machen, nach meiner Beobachtung. Christian: Wenn ihr jetzt so eure eigenen Kinder anseht, aber auch die Generation eurer Kinder, also die heutige Jugend, wür­ det ihr da sagen, wir brauchen eine Rück­ besinnung auf bürgerliche Werte in der Er­ ziehung? Das wird ja in der öffentlichen Diskussion immer wieder gefordert. Tissy: Wenn die 68er, neben der Frauen­ frage, eine gute Bilanz vorweisen können, dann ist es das veränderte Verhältnis zwi­ schen Erwachsenen und Kindern. Jede Untersuchung weist aus, dass junge Erwachsene noch nie ein so enges Verhältnis zu ihren Eltern hatten. Der Konsens über den Umgang mit Kindern ist über alle Schichten und Milieus viel größer, als das ewige Lamento gegen die 68er vermuten lässt. Auch in eher konservativen Familien hält heute niemand mehr Kinder für Gewächse, die erst durch Erziehung zu Menschen gemacht werden müssen. Demütigungen und Prügel sind verpönt, jeder weiß, dass Lob mehr bringt als Strafe. Und in den 68er-Milieus werden längst Grenzen gesetzt, es gibt schon lange eine Rückkehr zu den Traditionen, die gut sind: Manieren, Familienrituale, die Beachtung der christlichen Feste. Matthias: Wir brauchen in keiner Beziehung, weder in der Kindererziehung noch in der Politik, noch in der Moral, noch beim Sex, die Rückbesinnung auf bürgerliche Werte. Ein Charakteristikum der bürgerlichen Werte ist doch die Scheinheiligkeit, die Ungleichheit, die Bigotterie. Den Schein über das Sein zu stellen. Die Form zu wahren, egal wie grässlich der Inhalt ist. Der preußische Kadavergehorsam ist doch eine Teilursache der Schrecken des vergangenen Jahrhunderts. Wie sehr habe ich den Spruch meines Vaters gehasst: "Quod licet jovi non licet bovi!" Was dem Jupiter erlaubt ist, ist nicht einem Rindvieh erlaubt! Was Papa darf, dürfen die Kinder noch lange nicht! Angela: Bürgerliche Werte, also Anstand, Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, sich anstrengen, wenn man was erreichen will, die habe ich vermittelt und halte sie auch für ein gedeihliches Zusammenleben für nicht falsch. Eher habe ich übertrieben: Meine Kinder fahren noch nicht mal schwarz mit der Straßenbahn ... Matthias: Das sollte bei Kindern von Ge­ neralstaatsanwältinnen aber auch so sein! Angela: ... rauchen und trinken nicht, sind ziemlich fleißig und in Maßen ehrgeizig. Trotz Bremer Schulen sind sie besser ge­ bildet als ich, wenn man vom Marxismus mal absieht. Robert: Darf ich da noch einen draufset­ zen? Bürgerliche Klasse, bürgerliche Wer­ te und die gute Alternative? Wie immer wird im unausgesprochenen Nebensatz der Unsinn miterzählt, es gebe nichtbürger­ liche, womöglich proletarische oder an­ derswo sozial abgestützte Werte, die dem Bürgerlichen überlegen sind. Das scheint mir Unsinn. Natürlich ist gerade unsere Generation mit ihrem Engagement, mit Bürgersinn und Universalismus bürgerlich bis in die Knochen. Auch in unseren Visionen. Damals hatten wir den Traum von der Aufhebung der Entfremdung. Wir wollten unter der Voraussetzung von Reichtum zurückkehren in den alten Indianerstamm. Und diese Utopie ist kaputt, die ist hin. Aber sich immer mal wieder an diese schöne Vorstellung zu erinnern, an dieses Leuchten, das finde ich, schleppen wir mit uns herum. Daran erkennen wir uns. Christian: Ist das schwer, das Herumschleppen? Tissy: Ich werde nie ein Mensch werden, der nicht doch bei so einer Debatte das Fundi-Glitzern in die Augen kriegt und die Welt sortieren will, der nicht doch Entwürfe entfaltet, wie der Turbokapitalismus gebändigt werden kann. Wenn man sich einmal vorgestellt hat, die Welt verändern zu können, und zu dem Schluss kommt, ich kann sie höchstens im Fingerhutmaß besser machen, dann macht das grundsätzlich traurig. Man kann sich von so einem Traum nicht trennen, ohne nicht auch diesen menschlichen Preis zu bezahlen. Es ist nicht leicht, damit aus­ zukommen. Jork: Warum ist es eigentlich nicht möglich, mal ganz sachlich darüber zu sprechen, inwiefern diese Form der Gesellschaft die ideale Lebensform ist? Ohne dass ihr denkt, um Gottes willen, der ist immer noch nicht weiter als damals. Die Frage muss erlaubt sein, ob die Marktwirtschaft, ob der Kapitalismus die ideale Form des Zusammenlebens ist. Warum soll die Entwicklung in der Geschichte nach all den Änderungen über die Jahrhunderte hier, bei dem fast weltweit durchgesetzten lCRISTA SAGER, 54, Bundestagsabgeordnete der Grünen, als Demonstrantin. Sie studierte Geschichte und Deutsch, ist seit 1982 Berufspolitikerin, heute stellvertretende Fraktionsvorsitzende. DER SPIEGEL 44/200790 Bremer Schüler im Lehrerzimmer des Wirtschaftsgymnasiums (1968): "Was dem jupiter erlaubt ist, ist nicht einem Rindvieh erlaubt" marktwirtschaftlichen System, nun aus­ gerechnet zu Ende sein? Matthias: Also, es gibt eine Logik des Ka­ pitalismus, der Entfremdung und der Aus­ beutung, und dann gibt es dagegen den Menschen, und diese beiden Logiken, wenn du so willst, die gab es schon immer, so lange jedenfalls, seit es den Kapitalismus auf der Welt gibt. Deshalb muss es erlaubt sein zu sagen, dass vielleicht am Kapitalis­ mus was geändert werden muss, statt nur noch zu sagen, es ist richtig, dass der eine über Hunderte von Milliarden verfügt und der andere gar nichts hat. Wolf: Was redet ihr da? Als wären die Ent­ fremdung und die Profitmaximierung in der kapitalistischen Gesellschaft nun das große Thema, das wir neu diskutieren müssten. Als hätte der andere Entwurf, ein sozialistischer Entwurf oder sonst was, nie etwas anderes gebracht als größere Un­ freiheit. Du musst das zu Ende denken, sonst mache ich dir den Vorwurf, du plap­ perst einfach drauflos. Jork: Es ist schon erstaunlich, wie aller­ gisch, wie reflexartig und ideologisch aus­ gerechnet ehemalige Linke auf kritisch­ philosophische Gedanken zu diesem erfolgreichen gesellschaftlichen System der Gegenwart reagieren. Ich übe eben keine Kapitalis­ muskritik wie vor dreißig Jahren, sondern habe hier ganz grundsätzliche Ge­ danken zum Status quo geäußert. Ohne kritische Reflexionen und ohne die­ se Vorgehensweise würden BERNHARD DOCKE keit, das ist so eine KategoDER SPIEGEL 44/2007 wir heute immer noch auf den Bäumen sitzen, so hat es neulich Claus Peymann in einem Interview so schön zusammen­ gefasst. Bernhard: Die Diskussion hat etwas ganz Bizarres. Es geht hier zu wie bei einer Familienaufstellung. Wir wollten nichts weniger als die Welt aus den Angeln heben. Und ein Teil dieser Gruppe scheint damals eingefroren worden zu sein, die tauen jetzt wieder auf. Als wenn nicht dieses gesellschaftliche Ideal, das wir hatten, grandios gescheitert wäre, weil wir diese anmaßende Vorstellung hatten, einen neuen, einen besseren Menschen zu schaffen. Ich bin nämlich deutlich glücklicher, seit ich diese Last nicht mehr auf meinen Schultern fühle. Wenn ich mich heute mit den Augen des Bernhards aus dem Jahre 1970 angucke - gut, damals waren ja sowieso alle, die dreißig Jahre waren, irgendwie jenseits -, dann würde ich wahrscheinlich sagen: "Mann, der pennt seit Jahren mit der gleichen Frau, so was Langweiliges", das würde ich sagen und: "Der ist ja völlig unpolitisch geworden." Ich würde mich schwer kritisieren. Ich leide unter dieser Kritik überhaupt nicht, weil ich mich - so wie ich jetzt bin - als wesentlich glücklicher und befreiter empfinde, als ich es mir damals je vorstellen konnte. Was ich von damals rübergerettet habe, ist eine Empathie für Menschen, die ungerecht behandelt werden. Gerechtigrie, für die ich streite, aber ohne den Anspruch, die ganze Welt damit verändern zu können. Barbara: Was mich so ein bisschen stört, ist diese Polarisierung: Es gibt die, die völlig gebrochen haben, und die, die gar nicht gebrochen haben. Ich wüsste nicht, welchem Lager ich mich zuordnen sollte. Ich denke, dass bestimmte Visionen, auch die von einem besseren Menschen, einer friedlicheren und weniger verlogenen Welt oder einer, wenn du willst, gerechteren Gesellschaftsform, immer wieder durchschimmern - auch im ganz normalen Alltag. Angela: Für mich war unsere Bewegung eine Befreiungsbewegung, keine Barrikadenbewegung, vor allem eine Bewegung meiner eigenen Befreiung. Ich habe für mich diese Einheit zwischen politischem Denken und dem, was ich ganz persönlich tue, bis zum heutigen Tage beibehalten. Allerdings: Ich hätte mir damals nicht vorstellen können, dass ich Generalstaatsanwältin von Hamburg werde, ich hätte gesagt, das ist ein Oberrepressionsapparat. Krista: Ich habe da, glaube ich, nicht so stark ein Kontinuitätsgefühl wie Angela, aber ich will ein Friedenssignal schicken in eure Richtung, Jork und Matthias. Ich habe in letzter Zeit sehr oft Begegnungen . mit dieser jungen Generation von Neoliberalen in Organisationen, in Wirtschaftsinstituten und so. Ich bin da neulich vom Tisch gegangen und habe gedacht, ich erkenne diese fast sektenmäßige Anbetung wieder, in diesem Fall die Marktgläubigkeit. Diese Ausblendung von Lebenserfahrung, diese Blauäugigkeit. Ich habe 92 I Happening an der Pädagogischen Hochschule Bremen (1970): "Wir waren keine Ban"ikadenbewegung, wir waren eine Befreiungsbewegung" gedacht, ich gucke mir selbst ins Gesicht. Dieses Gerede vom Markt und seinen Sie­ gen, das klingt für mich wie unser Gerede vom Sieg der Weltrevolution. Das Zweite ist: Ich bin fest davon überzeugt, dass es so­ wohl die Ursache unserer grandiosen Er­ folge als auch die Ursache unserer völligen Niederlage ist, dass wir die Elastizität so­ wohl der demokratischen Gesellschaft als auch des Kapitalismus total unterschätzt haben. Wir haben die Fähigkeit der Ge­ sellschaft, sich selbst zu begucken und über sich selbst zu reflektieren, enorm voran­ gebracht. Barlo: Also, wir wollten Revolution ma­ chen und können feststellen, wir haben ei­ nen guten Beitrag zur Reform der Gesell­ schaft geleistet. Frauenbewegung, die Schwulen, früher verboten, leben heute freier, das Theater ist anders, bessere Ge­ sellschaft als vorher. Toll! Aber jetzt kommt meine Polemik. Wir sind doch als ganz normale Mittelschichtler wunderbar in dieser Gesellschaft drin, wunderbar si­ tuiert, wir genießen das Leben, wir fahren in den Urlaub, wir gehen ins Theater. So, das sind wir, eine kleine Gruppe. Die Mas­ se lebt ganz anders. Angela: Sie lebte auch damals schon an­ ders. Barlo: Diese Spaltung unserer Gesellschaft in Arm und Reich, die hat zugenommen. Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass wir uns selbstzufrieden zurücklehnen und sagen: "Haben wir einen kleinen Beitrag geleistet. Uns selber geht es auch gut. Verliebt bin ich auch total." Das ist doch nicht zu fassen, was hier durch den Neoliberalismus auf dieser Welt abgeht. Also, eine andere Welt ist dringend nötig. Robert: Und an dieser Stelle sitze ich hier und frage mich, wie kann ich, ohne Barlo zu verletzen, wie kann ich ihn zusammenstauchen? Am liebsten würde ich sagen: Was für einer Spinnerei hängst du an? Konzentrier dich bitte schön auf die Aufgabe, die wir zu lösen haben, nämlich die Modifikation einer auf Privateigentum organisierten Gesellschaft, in der die Beziehungen zwischen möglichst demokratisch organisierten öffentlichen Angelegenheiten und Angelegenheiten der Wirtschaft auszuhandeln sind. Das ist der Job. Und sieh ein, das hier ist ein demokratisches Land, wir haben die Verantwortung, es zu gestalten, nicht den Auftrag, es abzuschaffen oder wegzudenken. Matthias: Was mich daran schockiert, ist der Stillstand. Du hast gesagt, es geht um die Menschheit, und die ist nun mal so. Da dreht es sich um Ökonomie und Markt, und das werden wir nicht mehr ändern. Ich habe auch eingesehen, dass ich in meinem Leben vielleicht diese Menschheit nicht mehr ändere. Cordt: Wir hatten viel damit zu tun, uns selbst zu ändern. Matthias: Nur dass es aus meiner Sicht das Wichtigste ist, nach wie vor bis ans Ende, dass sich die Menschheit ändert. Und diesen Gedanken werde ich auch nie aufgeben. Es ist doch so, dass wir in einem Jahrhundert gelebt haben, das ROBERT BOCKING spinnert." das schlimmste in der Menschheitsge­ schichte war, das grässlichste, das furcht­ barste, in dem sich der Mensch als furcht­ barer und schrecklicher erwiesen hat, als ein Tier jemals sein könnte. Aus diesem Jahrhundert kommen wir. Und dass wir nun dazu übergehen zu sagen, das ist eben so, der Mensch ist eben so, das kann ich nicht ertragen. Cordt: Matthias, aber das Komische ist, dass Robert mit seiner Auffassung mehr dazu beiträgt, die Menschheit zu verändern, als du. Matthias: Also, ich sag mal, im Kleinen muss ich das von morgens bis abends machen. Cordt: Ich meine es jetzt im politischen Sin­ ne. Du mit deiner Arbeit als Arzt, klar. Aber ich meine jetzt ihn als Politiker. Er hat ja irgendwann gesagt, wie Krista Sager, ich gehöre eben nicht zu denen, die sich damit begnügen, die Welt zu ana'lysieren, sondern sie arbeiten ja beide daran, sie zu verändern. Matthias: Klar. Ich behaupte allerdings, dass ich in meiner Arbeit auch täglich ver­ suche, die Lebensbedingungen der Men­ schen und ihre Befindlichkeit im Kleinen zu verändern. Aber ich habe auch einen globalen Anspruch an die Veränderung der Gesellschaft. Und mein Anspruch ist, dass ich mich weiter mit ihm darüber streiten möchte, während er schon sagt: "Mit dir streite ich mich nicht mehr, du bist mir zu DER S PIEGEL 44 /2 0 0 7 93 Bernhard: Das stimmt doch nicht. Er sitzt ja mit dir hier. Robert: Ich als jemand, der in eher mittel­ ständischen Stadtteilen zuständig ist, küm­ mere mich um die Frage: Wie organisiert so eine Bürgerschaft selbstbewusst ihre inneren Konflikte, wie findet sie dafür Aus­ gleichswege? Da interessiert mich Selbst­ organisation, Selbstverwaltung, da inter­ essieren mich Lösungen außerhalb offi­ zieller staatlicher Verwaltung. Barlo: Absterben des Staates. Robert: Da interessiert mich - nein, nicht Absterben des Staates -, sondern dass die­ se Mittelklasse ihre kulturellen und ihre wirtschaftlichen und ihre persönlichen Res­ sourcen in den gesellschaftlichen Prozess einbringt. Da ist es eben überhaupt nicht so, wenn ich einem Kleinunternehmer gegenüberstehe, dass ich da einen Wolf treffe, sondern ich treffe jemanden, der ungeheuer wichtig ist in der Stadtteilge­ sellschaft. Der manchmal ein KnaHkopf ist und manchmal nicht. Und ich versuche, diese Stadtteilgesellschaften zusammenzu­ halten. Es gibt tausend verschiedene Kul­ turen und tausend verschiedene Leute, tausend verschiedene Typen, und es ist ganz töricht, die Welt so brutal langweilig in Kästchen zu tun, wie wir das mal pro­ biert haben. Bernhard: Sehr wahr. Cordt: Krista, du warst ja auf höherer Ebe­ ne Teil eines Projekts, das in der Öffent­ lichkeit so dargestellt wurde, als seien nun die 68er an der Macht. Hast du 1998 bei der Regierungsbildung ein Gefühl gehabt, dass du angekommen bist und etwas machst, was noch zu tun hat mit dem, was du 68 begonnen hast? Krista: Habe ich das Gefühl gehabt? Ich meine, sie haben uns das so lange eingeredet, dass du gar nicht mehr weißt, ob es dein Gefühl war oder eine Fremderzählung. Ich hatte so ein Gefühl, weil ich schon ein Gespür dafür hatte, was die Modernisierungsprojekte sind, die wir jetzt weiterbewegen müssen. Viele Themen, die die Themen der kleinen Schüler waren damals, haben jetzt eine unglaubliche Dynamik und eine Relevanz bekommen, die vielleicht in der Wirtschaft noch eher begriffen wird als in der Politik. Nämlich zum Beispiel dieses ganze Thema: Schule muss von innen ganz anders werden. Wir können nicht zehn Prozent eines Jahrgangs dadurch verlieren, dass die Leute gedemütigt und demotiviert werden. Oder andere Modernisierungsprojekte wie die Einwanderungsgesellschaft. Das war alles Fortführung von 68. Christian: Könnte ich noch mal den Versuch machen, zurück auf die bürgerlichen Werte in euren eigenen Familien zu kommen? Irmela: Was die Manieren anbetrifft, so haben die in meiner Familie jede 68er-Revolution überlebt, und ich muss jetzt bei meinen Kindern so interessante Fragen beantworten wie die, warum es anständiger ist, die Hand beim Essen auf statt unter dem Tisch zu haben. Und bei der Beantwortung der Frage komme ich dann nicht um Stichworte wie "bürgerliche Konvention" herum und auch nicht um die Tatsache, dass mit solchen Konventionen auch Klassenmerkmale demonstriert werden, die im Leben durchaus hilfreich sein können. Da fühle ich mich dann schon ein bissehen ertappt. Tissy: In den vielen Diskussionen mit Freunden, was man mit Kindern zum Beispiel ausdiskutieren kann, wo man verbieten muss, also über die beliebten Fallen der liberalen Erziehung, habe ich immer versucht, den Fröbel-Leitsatz hochzuhalten: Erziehung ist Vorbild und Liebe, sonst nichts. Matthias: Die Quintessenz der Erziehung liegt doch - wie dein Herr Fröbel ganz richtig gesagt hat - in der einfachen Wahrheit des Vorbilds und der Glaubwürdigkeit. Was halten denn unsere bürgerlichen Idealpädagogen von so einfachen Forderungen der gelebten Nächstenliebe wie: andere Menschen nicht übervorteilen, nicht ausnutzen, nicht belügen, nicht betrügen? Schon müssten sie der Ehrlichkeit halber ihre Hedgefonds-Anteile verbrennen. Mein Sohn hat immer nur das angenommen, was seine Eltern glaubwürdig vertreten und selbst gemacht haben. Im Übrigen ist ja bekanntlich niemand unnütz, er kann ja immer noch als schlechtes Vorbild dienen. Christoph: Zum schlechten Vorbild fällt mir ein: Mein Sohn ist jetzt 21, ein ganz lieber Mensch, ganz enge Beziehung, ganz lustig, wir haben viel Spaß gehabt, und dann auf einmal, mit 16, 17, fing er an zu kiffen. Matthias: Zu kiffen? Christoph: Ja, die Zensuren wurden schlechter, und das hat bei mir eine gewaltige Angst ausgelöst. Was ist, wenn der jetzt weiter abrutscht, das Abitur nicht schafft und so weiter und so fort. So, wenn ich jetzt an unsere Debatte über unsere Eltern eben denke. Ich glaube, meine Eltern, als wir da angefangen haben rumzumachen mit den Straßenbahndemos, dem Kiffen und so weiter, die hatten diese Ängste hoch tausend. Katja: Ja, ja, ja. So war es. Krista: Die hatten Angst, ganz ldar. Christian: Seid ihr politische Vorbilder für eure Kinder? Cordt: Die Klage darüber, dass Jugendliche nicht mehr so kritisch und engagiert sind wie wir damals, begleitet jede Generation von Heranwachsenden seit 68. Und das trägt auch, glaube ich, dazu bei, dass "die 68er" so ein Schreckgespenst geworden sind. Die Aktivisten damals waren eine kleine radikale Minderheit, die meisten liefen mit, waren für zwei, drei Jahre auf Demonstrationen, Festivals und Vollversammlungen dabei und lebten davor und danach nicht anders als Jugendliche vor 68 und nach 68. Dieses Märchen von einer ganzen Generation, die sich aufopferte, um das Land zu verändern und die Welt zu befreien von Hunger, Ungerechtigkeit und WOLF lESCHMANN, 57, Rechtsanwalt, als Besetzer im Lehrerzimmer des Alten Gymnasiums. Er war Schüleragitator, bekam 2006 das Bundesverdienstkreuz wegen seines Engagements für die Sinti und Roma. DER SP IEGEL 4 4/2 00794 SDS-Aktivistinnen der "Gruppe Emanzipation" im Gerichtssaal (1968): "Du, ich möchte jetzt übrigens mit dir pimpern" Ausbeutern, wird am Leben gehalten von Leuten, die sich selbst heroisieren, und von Leuten, die aUe Probleme der Republik erklären wollen mit dem Aufstand und der jahrzehntelangen Diktatur der 68er. Christian: Vor dem Hintergrund eurer eigenen Elternerfahrung, auch eurer eigenen politischen Erfahrungen und Irrwege, wie beurteilt ihr eure Eltern heute? Tissy: Wir haben ja zwei Sorten von Eltern. Die konkreten Eltern und unsere abstrakten Eltern, die wir erfunden haben, um uns als aufmüpfige Generation zu konstituieren. Ich muss sagen, dass bei beiden mein Urteil milder geworden ist. Ich fange mal bei den konkreten Eltern an. Ich bin absolut unversöhnlich zu dem, was meine Mutter mir vorgelebt hat als Frau. So wie meine Mutter will ich nicht leben. Ich fand ihre früheren BDM-Schwärmereien fürchterlich. Aber ich weiß inzwischen, dass sie ihre Jugendirrtümer durch Leiden aufgewogen hat, die ich nie erlebt habe. Das muss man einfach einräumen. Bei meinem Vater ist das Urteil auch milder. Bei den abstrakten Eltern finde ich, dass wir als Generation allen Grund haben, dankbar zu sein, dass die Gesellschaft mit unseren Irrtümern sehr viel freundlicher, sehr viel generöser umgegangen ist als wir mit den Irrtümern unserer abstrakten Eltern. Irmela: Die Irrtümer unserer Eltern haben ja nun auch mehr Unheil angerichtet. Christoph: Mir ist das ein bisschen zu viel Liebe und Versöhnung. Wir hatten Eltern mit einer gewissen protestantischen Härte, was nicht leicht für uns war, und dagegen haben wir rebelliert. Das ist diese altdeutsche protestantische Erziehung, die Härte, die durch den Faschismus und den Überlebenskampf im Krieg noch mal eine Renaissance erlebt hat, die aber nicht mehr zum Wirtschaftswunderkapitalismus gepasst hat. Das hat Hass und Rebellion geweckt. Das war doch ein Ausgangspunkt, warum wir auf die Straße gegangen sind. Katja: Dabei bleibt es auch. Christoph: Das ist, glaube ich, das Gemeinsame, was wir alle haben. Da war damals eine Härte, die passte nicht mehr in die Zeit, und wir wollten ausbrechen. Das bezog sich auf die Geschlechterbeziehung, das, was die Frauen viel intensiver wahrnehmen als wir Männer. Das bezog sich aber auch auf autoritäre Strukturen in der Gesellschaft, in der Schule und der Familie; Disziplin, Sexualität und solche Dinge. Das sitzt bei mir ganz tief. Das sitzt immer noch drin. Matthlas: Also, bei meinem Alten, der jetzt fast neunzig ist, bin ich altersmilde geworden. Es hat damit zu tun, dass ich auch begreife, dass das Leid, das diese Generation erlebt hat, für mich nicht ernsthaft nachvollziehbar ist und dass das einen jungen Menschen auch kaputtgemacht hat an Leib und Seele. Und dass er vielleicht deswegen so ein Mensch werden musste, weil er das überleben musste, was er erlebt hat, sechs Jahre lang bei der Waffen-SS. Es gibt an der Alster ein Denkmal, da steht von Wolfgang Borchert der Satz und der ist aus derselben Generation, 1921 geboren: "Wir sind die Generation ohne Bindung und ohne Tiefe. Unsere Tiefe ist der Abgrund." Jedes Mal wenn ich daran vorbeigehe, kriege ich eine Gänsehaut und muss sofort an meinen Vater denken. Deswegen kann ich es ihm irgendwie verzeihen, aber irgendwie auch nicht. Krista: Wir können heute auf uns zurückgucken, wie wir 15 waren, wie wir 22 waren. Unsere Eltern aber haben wir eigentlich immer gesehen aus der Perspektive: Wir sind die Kinder, und sie sind die Erwachsenen - egal, wie die Zeiten waren. Ich habe ein Erlebnis gehabt, bei dem sich das wirklich umgedreht hat. Ich habe nach dem Tod meiner Mutter ein Buch gefunden, das sie auch für mich zurückgelegt hatte, für die Zeit nach ihrem Tod. Sie hat als 22-jähriges Mädchen Briefe geschrieben an meinen Vater. Briefe, die ihn nicht erreichen konnten, weil er in der Zeit in russischer Kriegsgefangenschaft war. Er war vier Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft. Sie waren verheiratet, sie saß in Dänemark, war schwanger von ihm, kriegte eine Totgeburt und hat über diese ganzen Jahre an ihn Briefe geschrieben in dieses Buch. Ich bin selber eine erwachsene Frau gewesen, als ich das gelesen habe, und ich habe das Gefühl gehabt, ich muss dieses Mädchen in den Arm nehmen und trösten. Das Gespräch ist ein Auszug allS dem Buch "I can't get no - ein paar 68er tref fen sich und rechnen ab" von Irmela Hannover und Cordt Schnibben. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 384 Sei len.: 22,90 Euro. DER SPIEGEL 4 4 /2 007