L.- Ralf Schnell (Hrsg.) Gegenwartskultur 130 Stichwörter Verlag J. B. Metzler Stuttgart • Weimar 68er 1 Verzeichnis der Autorinnei A.B. Achim Barsch A.H. Alexandra Hausstein A.H.N. Alfred Horst Nuß A.Hor. Annegreth Horatschek A.M.J. Anne Maximiliane Jäger A.T. Adele Tröger A.W. Albert Walenta B.K. Barbara Kuon B.W. Bernd Weidmann B.Wa. Benno Wagner B.We. Brigitte Weingart CG. Claus Grupen C.H. Claudia Heinrich CK. Clemens Knobloch Ch.B. Christoph Breuer Ch.G. Charis Goer Ch.H. Christoph Henke Ch.K. Christine Karallus Ch.R. Christian Rochow D.Ha. Dieter Haller D.L. Dirck Link D.P. Dirk Pilz D.Sch. Detlev Schöttker D.T. Daniel Tyradellis D.H. Detlef Horster E.K. Eveline Kilián E.Kr. Eberhard Kreutzer E.Sch. Elmar Schenkel F.B. Friedrich Balke F.B1. Friedrich Block F.St. Fabian Stoermer G.A. Gerhard Äugst G.B. Georg Bollenbeck G.Sch. Gerhard Schweppenhäuser G.Schw. Gregor Schwering H.F. Hannes Fricke H.Sch. Helmut Schanze H.U.W. Hans-Ullrich Werner H.W. Herbert Wiesner H.Wi. Herbert Willems I.U. Ingo Uhlig J.K. Jürgen Kühnel J.Kr. J.L. J.Sch. K.-H.B. K.H.H. K.K. K.S. K.V. K.W. M.Ba. M.E. M.K. M.L. M.Le. M.Lo. M.M. M.R. M.Scha. N.A. N.B. N.G. N.J. N.M N.P. N.Sch, O.H. O.T. P.S. R.R. R.Sch. S.Be. St.F. St.H. Th.P. U.L. V.H. WK. w.ki: WKö. W.U. W.W. Seh Jürgen Kramer Joachim Lucchesi Jörgen Schäfer Karl-Heinz Brodbeck Klaus H. Hilzinger Klaus Kreimeier Klaus Siebenhaar Klaus Vondung Klaus Wiegerling Moritz Baßler Michael Erlhoff Manfred Kammer Mario Leis Michael Lentz Michael Lommel Martin Maurach Martin Rass Matthias Schamp Natascha Adamowsky Natalie Binczek Nicola Glaubitz Nina Janich Nikolaus Müller-Schöll Nicolas Pethes Nicola Schnell Oliver Herwig Oliver Tolmein Peter Seibert Rainer Rother Ralf Schnell Silke Becker Stefan Fricke Stefan Hesper Thomas Phleps Ulrich Lölke Villö Huszai Weif Kienast Werner Klüppelholz Werner Köster Wolfgang Ullrich Waltraud Wende 68er, abkürzende Bezeichnung für die Generation, die Träger der Studentenrevolte der Jahre 1967-69 war. Obwohl die 68er ein internationales Phänomen waren, sollten die politischen und kulturellen Besonderheiten in den jeweiligen Ländern berücksichtigt werden. Während die Proteste in den USA -Studentenunruhen in Berkeley, antirassistische Demonstrationen schwarzer Bürgerrechtler - Ende der 60er Jahre ihren Höhepunkt bereits überschritten hatten, konnte sich im Einflussbereich des Warschauer Pakts allein die Tschechoslowakei während des Prager Frühlings für kurze Zeit aus der Umklammerung durch den Sowjetkommunismus lösen. In der Bundesrepublik, in der eine große Koalition aus CDU und SPD an der Macht war, forderte die APO ^Außerparlamentarische Opposition') eine konsequentere Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Nazi-Vergangenheit. In Frankreich und mit Einschränkung auch in Italien, also in jenen Ländern des Westens, in denen einflussreiche Arbeiterparteien existierten, weitete sich die Studentenrevolte zum Generalstreik der Arbeiter und Angestellten aus. Ende Mai 1968, als Präsident de Gaulle überraschend das Land verließ, schien in Paris eine Revolution in greifbare Nähe zu rücken. - Vor dem Hintergrund einer in den 60er Jahren prosperierenden Wirtschaft stellen sich die Ereignisse jedoch als unkoordinierte Kulturrevolte gegen die Werte der Elterngeneration dar. So sind auch die Nachwirkungen der antiautoritären 68er-Bewegung weniger in den flüchtigen politischen, als vielmehr in den langfristigen kulturellen Veränderungen spürbar. In der Geschichtswissenschaft und der »Sozialen Bewegungsforschung« (Gilcher-Holtey) rücken zunehmend die unvorhersehbaren und zufälligen Momente in den Vordergrund. Die Jahreszahl 1968 als Chiffre unterschiedlicher Teilbewegungen und ambivalenter Motive, häufig auch als Synonym für den Mentalitätswandel in den 60er Jahren insges., wird auf diese Weise entmythisiert. Bewertungsversu-che, die solche Widersprüche reflektieren, anstatt die Legenden der nostalgischen Erinnerungsliteratur fortzuschreiben, entgehen der ideologischen Einseitigkeit: der Fixierung auf Erfolg oder Misserfolg der Revolte. Paradox ist, dass gerade die utopischen Ansprüche, die mit dem Pragmatismus der Alten Linken, der Oppositionsparteien und Gewerkschaften nicht zu vermitteln waren, die Voraussetzungen für kulturelle Veränderungen schufen. Deshalb sollte nicht übersehen werden, dass es wohl nie zur Herausforderung des Status quo gekommen wäre, wenn sich die Studenten und ihre Leitfiguren D. Cohn-Ben-dit und R. Dutschke auf begrenzte, reformorientierte Ziele beschränkt hätten. Ihr Einsatz für Selbstverwirklichung und selbstbestimmtes Sexualverhalten schuf in den Folgejahren ein Klima der Toleranz für die Emanzipation der Frauen und für die Rechte von Homosexuellen. Wie häufig in Revolten und Revolutionen - von 1789 bis 1989 -erkannten freilich die Akteure in dem, was sie auf den Weg brachten, ihre Absichten nicht mehr wieder. Einen Ausspruch B. Brechts aufnehmend, der Kapitalismus verwandle das ihm injizierte Gift in sein eigenes Rauschmittel, könnte man sagen: Die 68er haben dafür gesorgt, dass der kulturelle Liberalismus den wirtschaftlichen Liberalismus eingeholt hat. Sie haben die schon 1967 von G. Debord als »spektakulären Kapitalismus« bezeichnete Medien- und Erlebnisgesellschaft vorbereitet. In Abgrenzung zu den damals wiederbelebten kommunistischen Utopien prägte M. Foucault den Begriff der »Heterotopi-en« und fasst damit Phänomene wie / Globalisierung, Medialisierung und die Überlagerung heterogener Orte und Zeiten zusammen - Tendenzen, die das utopische Projekt der 68er längst eingeholt haben. 2 68er AIDS 3 Während bereits Pariser Studentengruppen wie die »Wütenden« ihre Slogans vom Dadaismus und Surrealismus entlehnt hatten (»Es ist verboten, zu verbieten«), folgten Künstler und Theatergruppen der situationistischen Parole »ľimagination au pouvoir!« (»Die Phantasie an die Macht!«). Sie setzten sich für eine Verschmelzung von Kunst und Leben außerhalb der bürgerlichen Kulturinstitutionen und für eine Erweiterung und Intensivierung der sinnlichen Wahrnehmung ein. Der Aufstieg des Fernsehens zum dominanten Massenmedium, das der 68er-Bewegung und ihrer Gegenkultur eine beobachtende Öffentlichkeit verschaffte, stürzte in der Bundesrepublik die Literatur und ihren Markt vorübergehend in eine Legitimationskrise. Hinzuweisen ist auf die im Umkreis der Studentenbewegung entstandene Literatur, die Lyrik von E. Fried, F. C. Delius und D. Biga, die Mai-Romane in Frankreich, die Pop-Collagen R. D. Brinkmanns und die Sozialreportagen E. Runges (Bottroper Protokolle 1968) bis hin zur literarischen Verarbeitung der enttäuschten Illusionen in den Nach-68er-Romanen: P. Lainés L'ir-révolution (1971), P. Schneiders Lenz (1973), U. Timms Heißer Sommer (1974), P.P. Zahls Die Glücklichen (1979) und M. Houellebecqs Les parti-cules élémentaires (1998). Doch fanden seit Anfang der 60er Jahre die produktivsten Experimente im Film und auf dem Theater statt. Die Theatergruppen von P. Brook und J. Grotowski, das »Living Theatre« J. Becks, A. Mnouch-kines »Theatre du Soleil«, H. Nitschs »Orgien-Mysterien-Theater« und nicht zuletzt die spontan gegründeten Amateur- und Straßentheater erprobten ein von A. Artauds Theater der Grausamkeit ausgehendes Körper-Theater, das direkt auf die Nervenzellen der Zuschauer einwirken sollte. In der Bundesrepublik bezogen sich die Regisseure auf Brecht und Piscator und machten im Dokumentartheater politische Hinter- gründe transparent, etwa die brutale Kriegführung der amerikán. Truppen in Vietnam (P. Weiss' Vietnam-Diskurs, 1968). Die Trennung zwischen Schauspielern und Publikum war in den Augen der 68er ein Spiegelbild der Zuschauerdemokratie. Die festgelegten Rollen in der Familie und an der Universität (»Unter den Talaren, der Muff von 1000 Jahren«, lautete ein berühmtes Transparent) sollten durch Improvisation, Spontaneität und die rituelle Erfahrung des eigenen Körpers aufgehoben werden. Die Ambivalenz der 68er-Formel, Kunst müsse unmittelbar politisch wirksam sein, zeigt sich bei Künstlern wie J.-J. Lebel, der Protestakte gegen die Gesellschaftsordnung schlechthin zur Kunst erklärte, oder J. Immendorff, der auf eine Leinwand den Satz »Hört auf zu malen!« malte. Auch die Filmemacher der Nouvelle Vague, des Neuen Deutschen Films und des New British Cinema nahmen die /intermedialen Experimente dieser Zeit auf. Die Filmproduktion wurde als Modell eines kollektiven Werks herausgestellt, für das kein Autorsubjekt mehr allein verantwortlich zeichnet. Die in den historischen und mentalitätsgc-schichtlichen Analysen noch viel zu wenig beachteten Filme von J.-L. Godard, J. Rivette, R. W. Fassbinder, K. Reisz und J. Cassavetes entwerfen schon früh ironische, paradoxe und mehrdeutige Zeit-Bilder. In Godards Filmen La Chinoise und Week-end erscheinen die jugendlichen Revolteure bereits in der Geburtsstunde der Revolte, im Jahr 1967, widersprüchlich, weil ihnen die Distanz zu den übernommenen Rollen und Vorbildern entgleitet. Auch M. Antonionis Film Blow up (1966), vor der Kulisse des swinging London gedreht, nimmt die surrealen und karnevalesken Aspekte der 68er-Ereignisse vorweg. Die Verquickung von Kunst und Engagement, ästhetischer und politischer Demonstration, die Medienkombinatorik und die Genremischungen erfordern eine noch zu schreibende integrierte Kultur-und Kunstgeschichte der 60er Jahre, die auch Kleidungsstile, Videokunst, Performance, Rockmusik und die im Free Jazz erreichte Auflösung harmonischer Vorgaben berücksichtigen müsste. Lit.: M.L. Syring (Hg.), Um 1968: konkrete Utopien in Kunst und Gesellschaft (1990). -1. Gilcher-Holtey (Hg.), 1968 - vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft (1998). -Cahiers du Cinéma, Cinéma 68, numero hors-série (1998). M.Lo. Agitprop (Kurzwort aus >Agitation< und >Propaganda<), im 20. Jh. die massenwirksame politische Beeinflussung durch den Einsatz auch künstlerischer Mittel, und zwar in sozialistisch-antikapitalistischer Orientierung. - Die von Lenin maßgeblich entwickelte Verbindung zielte mit der Propaganda mehr auf eine (langfristige) Verbreitung parteioffizieller Anschauungen, mit der Agitation mehr auf eine (kurzfristige) Handlungsanweisung in bestimmten gesellschaftlichen Situationen. A. war in den sozialistischen Staaten kulturpolitisch institutionalisiert (der Begriff selbst wurde dort seit den 60er Jahren weniger gebraucht). Solche Vorgaben bestimmten auch die A.-Bewegung in der Weimarer Republik, zusammen mit Einflüssen aus dem sowjetrussischen Proletkult: Traditionen des sozialdemokratischen Arbeitertheaters und des Laienspiels wurden gebündelt und umfunktioniert zum proletarisch-revolutionären A.-Theater, in Abkehr vom bürgerlichen Kulturbetrieb. Exemplarische Spielszenen wechselten mit statistisch-dokumentarischen Informationen (samt Bild- und Schrifttafeln) und mit chorischen Aufrufen zur unmittelbaren Aktion (samt unterstützender Musik). Die Wirkung war entscheidend durch Mobilität und Variabilität bedingt: durch Aufführungen abseits der etablierten Spielorte und durch Anpas- sungen der Texte an die jeweils aktuelle Problemlage (einige Namen von A.Truppen: Das rote Sprachrohr, Die Trommler - 1. Deutsche Truppe von Arbeiterschauspielern, Kolonne Links, Spieltrupp Südwest). - Nach der Zerstörung durch den Faschismus wird dieses Modell in den westlichen Ländern während der 60er Jahre wiederaufgenommen, nun aber ausdrücklich gegen alle kulturell und politisch herrschenden Institutionen. Das Straßentheater der antiautoritären Bewegungen erneuert den stark mimisch-gestischen Darstellungsstil voll grotesk-satirischer Übertreibungen und verbindet wieder das belegende Zitat mit dem Appell zur eingreifenden Umsetzung. Theatertruppen solcher Gegenöffentlichkeit sind z.B. in den USA die San Francisco Mime Troupe und das Teatro Campesino, in der Bundesrepublik Deutschland das Theaterkollektiv Zentrifuge, die Kollektive Rote Rübe und Das Rote Signal. Kunstmittel der A. gehen auch in das zunächst bühnengebundene politische Theater ein (z. B. Peter Weiss, Gesang vom Lusitani-schen Popanz) und bestimmen zudem, über den Protestsong, einen Teil der Politischen Lyrik der Zeit (z. B. Dieter Süverkrüp, Franz Josef Degenhardt). Bei allen neueren Formen dieser operativen Kunst bleibt aber die Wendung an wirklich anwesende und sich letztlich beteiligende Zuhörer und Zuschauer das entscheidende Kriterium: A. als appellative Demonstration und Aktion. Lit.: A. v. Bormann, Politische Lyrik in den sechziger Jahren. In: M. Durzak (Hg.), Die deutsche Literatur der Gegenwart (1971). - D. Herms/A. Paul, Politisches Volkstheater der Gegenwart (1981). - B. Büscher, Wirklichkeitstheater, Straßentheater, Freies Theater (1987). K.H.H. AIDS (Akronym für engl. Acquired Immune Deficiency Syndrome = erworbenes Immunschwächesyndrom), seit