TRAUER UND PROTEST, HELDENBILDER UND SATIRE 149 Prag 1968 Zur Situation der Kultur am Schnittpunkt der Geschichte Zdenek Felix Zur Zeit des Pariser Mai und dessen Barrikaden im Quartier Latin, als auch die deutschen, amerikanischen und italienischen Studenten auf die Straßen gingen, um gegen das Establishment der westlichen Welt zu protestieren, kam es im östlichen Teil Europas zu einem unerwarteten politischen Aufbruch. Mit der Wahl von Alexander Dubček zum ersten Sekretär der seit zwanzig Jahren uneingeschränkt regierenden Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei wurde am 5. Januar 1968 in Prag ein Prozeß der Lockerung erstarrter Machtstrukturen eingeleitet, dessen sichbarste Zeichen sich in der Abschaffung der Pressezensur und im schrittweisen Aufbrechen des bisherigen bürokratisch-zen-tralistischen Systems erblicken lassen. Im >Prager Frühling<, wie dieser Prozeß bald darauf genannt wurde, konzentrierte sich wie in einem Brennpunkt die damals umstürzlerische Idee des »Sozialismus mit menschlichem Gesicht«, der die gesellschaftliche Gleichheit und Gerechtigkeit in die Demokratie einbinden wollte. Derartige Rufe waren seit dem Ungarnaufstand 1956 und der gleichzeitigen Krise in Polen im gesamten >Ostblock< kaum mehr zu vernehmen gewesen — ein Grund mehr für das schleichende Mißtrauen, mit welchem die politischen Spitzen anderer Staaten des Warschauer Pakts die Ereignisse in der Tschechoslowakei verfolgten. Es gehörte zu den Paradoxen des >Prager Frühlings^ daß er im Hinblick auf die späteren Entwicklungen in den achtziger Jahren zu früh und zugleich im Hinblick auf die vorherigen Emanzipationsversuche der fünfziger Jahre zu spät erfolgte. Der tschechoslowakische Reformversuch ereignete sich im osteuropäischen Kontext isoliert. Dieser Umstand trug in nicht geringem Maße zum gewaltsamen Ende des >Prager Frühlings< durch die Invasion der fünf Paktstaaten am 21. August 1968 bei. Da sich dieser Versuch zur eigenen Befreiung aber vor der Mauer des Schweigens und Widerstands seitens der östlichen Nachbarn und zeitlich parallel zur Studentenrevolte im Westen abspielte, drängt sich ein Vergleich der beiden, in sich so unterschiedlichen Phänomene auf. In der Tat entstand im Westen gleich zu Beginn des Jahres 1968 eine Welle des Interesses und der Sympathie für die Prager Reformbewegung. Man pilgerte in Scharen an die Moldau in der Hoffnung, einer Sternstunde der Geschichte beizuwohnen. Für die Linken bot der >Prager Frühling< die ersehnte Gelegenheit zur Umwandlung des verknöcherten stalinistischen Gesellschaftsmodells in einen demokratischen Sozialismus<, eine Utopie, der man selbst anhing und die es auch im Westen zu verwirklichen galt. Umgekehrt waren die Kontakte jedoch spärlicher, zumal es nur wenigen Tschechen und Slowaken möglich war, ins Ausland zu reisen und sich aus eigener Anschauung ein Bild vom Charakter der Studentenrevolte im Westen zu machen. Der Dialog zwischen West und Ost kam folglich nur zaghaft zustande, ganz abgesehen davon, daß die politische Praxis und auch die Zielsetzungen der beiden oppositionellen Bewegungen kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen waren. Am ehesten gedieh die Verständigung im kulturellen Bereich: Film, Theater, Literatur, Philosophie und Kunst erschlossen Felder, in welchen sich die subversive Kraft der künstlerischen Ideen in die Sprache des jeweiligen Gegenübers leichter übersetzen ließ als dies bei politischen Standpunkten und Theorien der Fall sein konnte. Dabei sollte nicht vergessen werden, daß der >Prager Frühling< von den Intellektuellen, besonders von den Schriftstellern und Künstlern geistig vorbereitet worden war. Jene unverhohlene Kritik einiger tschechischer Literaten wie Václav Havel, Milan Kundera und Ivan Klima bei der vierten Tagung des Schriftstellerverbandes im Sommer 1967, die an die Adresse der poststalinistischen Machthaber gerichtet war, kann als eine der ersten Formulierungen des offenen Widerstandes und gleichsam als Vorstufe des politischen Kampfes nach dem >Ja-nuar 1968< gelten. Aber auch diese Kritik betraf 150 TRAUER UND PROTEST, HELDENBILDER UND SATIRE nur die sprichwörtliche Spitze eines Eisbergs, dessen Ausmaße und Gewicht gerade die Intellektuellen seit Beginn der sechziger Jahre am deutlichsten zu erkennen und zu diagnostizieren vermochten. Freilich ließ sich diese Diagnose angesichts der immer noch praktizierten Zensur und des totalen Machtmonopols der Kommunistischen Partei ohne Verschlüsselung kaum aussprechen. Dies war nur im schützenden Gewand der künstlerischen Aussage möglich und auch in dieser Form erst dann, als zu Beginn der sechziger Jahre das seit dem Tauwetter unter Chruschtschow ohnehin bereits zerfranste Modell des sozialistischen Realismus< auch in der Tschechoslowakei ins Wanken geriet. Eine nicht geringe Anzahl von Literatur- und Kunstzeitschriften, die im Prag der sechziger Jahre erscheinen durften — wobei einige ihr Erscheinen wegen kulturpolitischer Unbotmäßigkeit nach kurzer Zeit wieder einstellen mußten — legte Zeugnis ab von der weitgehenden Veränderung des geistigen Klimas und vom Anwachsen des kritischen Potentials innerhalb der tschechoslowakischen Kultur. Die Unterschiede zu den Zielsetzungen der >kritischen Bewegungen im Westen konnten dabei freilich kaum größer ausfallen. Während in Prag Franz Kafka, Albert Camus, Eugene Ionesco und Samuel Bek-kett zu Propheten der Befreiung des entmündigten Individuums avancierten, erhoben die westlichen Studenten Che Guevara und Herbert Marcuse zu ihren Vorbildern und hielten die Befreiung der Massen nur unter radikal-anarchistischen, ja dadaistischen Vorzeichen für möglich. Und während man in Prag das Minimum an bürgerlicher Freiheit — nämlich die Freiheit der öffentlichen Meinungs- 'v7í/~/ ■■<_■ DV Milan Knížák Zerstörte Musik 1963/80 (Kat. Nr. 22) UND SATIRE 151 TRAUER UND PROTEST, HELDENBILDER äußerung - als nicht geringe Stufe der Emanzipation betrachtete, schrieben die Studenten in Paris — wie Marcuse notierte — die Losung >Seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche !< an die Wände. Ein seltsamer Widerspruch: Für die einen erfüllte sich das Unmögliche in der Realisierung des Elementaren, für die anderen konnte nur die Utopie den Überdruß an Realität ersetzen. Zum >Prager Frühling< ist soviel gesagt und geschrieben worden, daß es fast unmöglich erscheint, dieser Fülle von Fakten und Meinungen neue Aspekte hinzuzufügen. Während aber den politischen und ideologischen Begebenheiten größte Aufmerksamkeit zuteil wurde, blieben die Untersuchungen zur Motivation und Rolle der Künsder in diesem Prozeß meist aus. Was die kulturelle Situation der Tschechoslowakei vor dem > Prager Früh-ling< betrifft, so war sie durch einen scharfen Gegensatz zwischen politischer und ästhetischer Praxis gekennzeichnet. Auf der einen Seite wurde die Politik in ausgehöhlten Ritualen und im Einklang mit der von zentral gelenkten Massen scheinbar erteilten Legitimation unverändert weiterbetrieben. Auf der anderen Seite führte bei den Intellektuellen und Künstlern gerade der Verlust von jedweder Möglichkeit, auf das politische Geschehen anders als im Einklang mit der vorherrschenden Parteilinie einzuwirken, zum Abgang in den künsüerischen Untergrund. Zunächst politisch kaum motiviert, im Hinblick auf seine Zielsetzungen eher zersplittert, verwandelte sich dieser aber allmählich in eine oppositionelle Kraft. Von der künstlerischen Abwehrhaltung zum bewußt formulierten politischen Programm war es freilich noch ein langer Weg. Darin läßt sich ebenfalls der grundsätzliche Unterschied zum westlichen >Under-ground< erblicken, in dessen Haltung der politische Protest gegen das Establishment sozusagen als Leitfaden schon immer verankert war. In Prag und Preßburg dagegen ging es primär darum, für die künstlerische Arbeit einen Freiraum zu gewinnen, eine Nische zu errichten, die, außerhalb der offiziellen, streng kontrollierten Kultur stehend, den Dialog zwischen den Aussteigern und dem Publikum erst ermöglichen würde. So entstand bereits Ende der fünfziger Jahre die sogenannte >Parallelkultur<, die sich in den Jahren 1964 bis 1968 zu einem immer stärker werdenden Reservoir von nonkonformen, der Staatsmacht unbequemen Aktivitäten verdichtete. Waren es am Anfang Ausstellungen in Privatateliers, Straßenaktionen für einige Eingeladene oder Vorlesungen in Privatwohnungen, die, vom Establishment unbemerkt, der Kommunikation von Außenseitern dienten, so verwandelten sich bestimmte Veröffentlichungen in Zeitschriften, bestimmte Ausstellungen und Bücher in der Zeit unmittelbar vor dem geschichtlichen >Januar 1968< in Manifestationen eines freien Willens. Daß die ästhetische Praxis dabei die Rolle der politischen übernommen hatte, zeigte sich deutlich in dem Moment, in welchem der kulturelle Impuls sich in den Protest gegen die bestehende repressive Ordnung verwandelte. Die Verbote von Zeitschriften und Ausstellungen, mit welchen die etablierte Macht gegen die ästhetische Praxis unabhängiger Künstler und Kunstvermittler vorging, zeigen eindeutig, wie brisant die >Parallel-kultur< kurz vor Beginn des >Prager Frühlings< geworden war. Wenn die nonkonforme Kultur in solch extremer Situation gewisse politische Funktionen übernahm, so aber nur deshalb, weil sie über eine moralische Legitimation verfügte. Gerade, weil sie sich der Korruption seitens der Macht verweigerte, bot die >Parallelkultur< in der Tschechoslowakei eine glaubwürdige Alternative zum repressiven Alltag an. Sie erweckte Hoffnungen und wies auf die gegenseitige Bedingtheit des freien Sprechens und einer freien Gesellschaft hin. Dennoch war die >Parallelkultur< der posts talini-stischen Zeit in den späten sechziger Jahren keine Protestbewegung im westlichen Sinne. An Straßendemonstrationen wagte in Prag niemand ernsthaft zu denken. Je öfter aber die Staatsmacht zur Repression neigte und sich administrativer Verbote und Schikanen bediente, um so rascher wurden die Künsüer zu kritischen Aktionen gedrängt. Alleine dadurch, daß sie auf der Freiheit der eigenen ästhetischen Praxis beharrte, wurde die >Parallelkultur< schlicht gezwungen, die Rolle der bis dahin fehlenden Opposition zu übernehmen. Den offenen Protest einiger Schriftsteller anläßlich der Verbandstagung 1967 und das darauffolgende Verbot des engagierten Blattes >Literární noviny< (>Literatur-zeitung<), einem Sprachrohr kritischer Intellektueller, kann man bereits als deutliche Zeichen des Übergangs vom ästhetischen Widerstand zum politischen Kampf verstehen, dessen Konsequenzen bis zum >Prager Frühling< reichten. Würde man eine Inventur der kritischen Positionen in der Tschechoslowakei der sechziger Jahre 152 TRAUER UND PROTEST, HELDENBILDER UND SATIRE vornehmen, so tauchten neben bekannten Schriftstellern wie Václav Havel, Milan Kundera und Ludvík Vaculík — dem Autor des späteren, brisanten >Manifests der 2000 Worte< - auch mehrere bildende Künstler auf. Beispielhaft verbinden sich die beiden Bereiche im Werk des Dichters und Collagisten Jiři Kolář (geb. 1914), ohne dessen künsüerische Aktivität und Tätigkeit als Kunstvermittler die Prager Szene der sechziger Jahre nicht denkar gewesen wäre. Seiner Aufmerksamkeit entging nichts, was im Bereich der nonkonformen Kunst in Prag produziert wurde. Kolář spürte die wichtigsten und anregendsten Texte, Gedichte und Bilder auf und brachte ihre Autoren miteinander in Kontakt. Sein kleines Atelier in der Prager Innenstadt sowie sein Tisch im Café >Slavia< an der Nationalstraße verwandelten sich zunehmend in Orte der Begegnung und des Dialogs mit ausländischen Besuchern — Künstlern, Kritikern und Museumsleuten. Kolář, der 1961 nach mehr als zwanzig Jahren literarischer Tätigkeit mit dem geschriebenen Wort gebrochen und sich der »visuellen Poesie« des Klebebildes zugewandt hatte, der eine Vielzahl von Collagetechniken entdeckte und diese in einer manischen Produktion vervielfältigte, dieser Spiritus rector der tschechischen Kunstszene der sechziger Jahre wurde unter dem Druck der Ereignisse zum Mahner und politischen Chronisten. Den markantesten Beleg dafür stellt sein >Tagebuch des Jahres 1968< dar, das bildhafte Epos einer Zeitspanne, die über das Schicksal einer mitteleuropäischen Kultur entscheiden sollte. In diesem Zyklus von 66 Collagen ist es Kolář gelungen, das Krisenjahr 1968 zu porträtieren. Anhand von Wochentafeln läßt sich Geschichte verfolgen: Private, politische und künstlerische Ereignisse defilieren vor dem Betrachter als Querschnitte in einer verletzten Zeit, als poetisches Filtrát von Hoffnung, Mut und Verzweiflung gleichermaßen. Wenn auch unter der Oberfläche verborgen, vermochte die nonkonforme Kunst in Prag ein beachtliches Potential an kritischem Denken hervorzubringen. Unter den Vertretern der jungen Generation war es besonders der Aktionist Milan Knížák (geb. 1940), dessen künstlerische Aktivitäten sich seit 1963 in den Prager Straßen abspielten und allein dadurch schon die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zogen (Abb. S. 150). Die von Knížák initiierte Bewegung >Aktual< setzte es sich zum Ziel, das Leben unmittelbar mit der Kunst zu verbinden, die Wirklichkeit selber zum Feld der ästhetischen Aktivität werden zu lassen. Von Alan Kaprow bald in die Internationale des Happenings aufgenommen, stand Knížák freilich mit seinen wenigen Gefolgsleuten in Prag wie im Niemandsland. Da seine Straßenaktionen bald ins Visier der Polizei gerieten, waren auch die Zusammenstöße mit der herrschenden Ideologie vorprogrammiert. Für die bewußte Überschreitung der herkömmlichen Grenzen der Kunst war ein Preis zu entrichten: Mehrere Festnahmen und Gerichtsverhandlungen waren nur die äußeren Zeichen eines Konflikts, der im Prag der sechziger Jahre unweigerlich ins Politische führte und führen mußte. Das Wort >Aktual<, 1965 an einer langen Kaimauer entlang der Moldau in Großbuchstaben geschrieben, signalisierte nicht nur den Wunsch nach der Freiheit des künstlerischen Denkens, sondern auch jenen nach der Freiheit des Individuums. Zugleich aber nahm diese Kunst und Alltag verbindende Inschrift die zahlreichen Graffitti und Aufrufe vorweg, mit denen das Volk im Jahr 1968 seinen Willen bekunden und seine Wünsche äußern sollte. Zumindest in diesem Moment wurden in Prag Kunst und Leben eins. I TRAUER UND PROTEST, HELDENBILDER UND SATIRE 153 Ernst Bloch zusammen mit Rudi Dutschke und dessen Tochter an einem Strand in Dänemark, 1971 (© Helga Reidemeister, Berlin)