Literarische Wertung Mit dem Begriff ›Literarische Wertung‹ werden in der Regel sprachl. Werturteile über Literatur bezeichnet. Ihr Gegenstand sind nicht nur einzelne Texte, sondern auch Textgruppen (Autorenoeuvres, Gattungen, Bewegungen, Epochen), poetolog. u. ästhetische Konzepte, Literatur produzierende Personen u. Institutionen (Autoren, Verlage), die unterschiedlichen Arten der Lektüre sowie die gesellschaftlichen Bedingungen literarischer Kommunikation. Wertungen über Literatur sind dabei oft Wertungen über Wertungen, die in u. mit Literatur über alle mögl. Sachverhalte vorgenommen werden, u. können sich auch deshalb indirekt auf außerliterar. Phänomene (u. a. ethische, politische, soziale) beziehen. Sprachliche Werturteile werden im Umgang mit Literatur von einer Vielzahl nicht verbaler Wertungsakte begleitet, wie sie sich v. a. in Selektionsentscheidungen manifestieren: z.B. in der Auswahl der literar. Möglichkeiten, die der Autor im Prozeß des Schreibens trifft, in der Ablehnung oder Korrektur von Manuskripten durch den Lektor, im Kauf von Büchern, in der privaten oder durch Institutionen (Schule, Universität) geregelten Auswahl der Lektüre, in Bestenlisten, Literaturpreisen oder der redaktionellen Vergabe u. Aufmachung (Umfang, Plazierung, Bebilderung) von Rezensionen. Verbalisierte Wertungen hingegen dienen der Rechtfertigung oder Kritik solcher Entscheidungen, empfehlen anderen eine Wahl u. versuchen die Adressaten zu bewegen, die Einstellung des Wertenden zu übernehmen. Während präskriptive Theorien der l. W. bestimmte Wertungskonzepte von überzeitl. oder kulturell eingeschränkter u. situationsabhängiger Gültigkeit zu begründen u. durchzusetzen versuchen, untersuchen deskriptive Wertungstheorien in historisch-empirischer, in jüngerer Zeit zunehmend auch sprach- u. argumentationsanalyt. Perspektive vergangene u. gegenwärtige Praktiken der Wertung aus der distanzierten Position eines Beobachters. In Deutschland hat die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Wertungsproblemen nach einer Phase vornehmlich ideologiekritisch orientierter Arbeiten (Schulte-Sasse 1976, Mecklenburg 1972) seit den 80er Jahren eine empirisch-analyt. Richtung eingeschlagen (grundlegend u. zusammenfassend: von Heydebrand 1984, siehe auch Schmidt 1988, Kienecker 1989, Anz 1984 u. 1990, Winko 1991), in der sie vielfältige Anregungen aus der sprachanalyt. Philosophie (Hare 1952, Najder 1975), aus soziologischen (Korthals-Beyerlein 1979, Bourdieu 1987) u. psychologischen (Scholl-Schaaf 1975) Wert- u. Normtheorien sowie der Argumentationsanalytik wissenschaftstheoretischer (Toulmin 1958, von Savigny 1976), linguistischer (Öhlschläger 1979) oder juristischer (Alexy 1978) Ausrichtung aufnimmt. Von ›Werten‹ spricht man meist zum einen im abstrakten Sinne eines ›Gutes‹, ›Ideals‹ oder ›Maßstabes‹ (z.B. Schönheit, Glück, Humanität, Freiheit, Stimmigkeit[1], Harmonie, Spannung), zum anderen im Sinne von Eigenschaften eines Objekts, in denen sich abstrakte Werte realisiert finden. Mit sprachlichen Werturteilen schreiben menschl. Subjekte auf der Basis der für sie geltenden Wertmaßstäbe Objekten oder Sachverhalten bestimmte Merkmale (z.B. ›stimmig‹, ›witzig‹, ›lehrreich‹) mit einer mehr oder weniger positiven bzw. negativen Wirkung zu (z.B. Wohlgefallen, Lust, emotionale Erregung, schockartige Irritation oder Erkenntnisgewinn; Gleichgültigkeit, Langeweile oder Ekel). Sprachliche Mittel der Bewertungen sind nur zu einem kleinen Teil reine Wertausdrücke wie z.B. ›hervorragend‹, ›gut‹, ›mittelmäßig‹ oder ›schlecht‹, ›wertvoll‹ oder ›wertlos‹. Die meisten Wertausdrücke (wie ›schön‹, ›stimmig‹, ›human‹, ›spannend‹, ›wahr‹; ›häßlich‹, ›gestaltlos‹, ›böse‹, ›langweilig‹, ›verlogen‹, ›unwahrscheinlich‹ usw.), die sich allerdings oft nur in bestimmten kulturellen Kontexten in ihrer Wertigkeit erkennen lassen, haben nicht nur evaluative, sondern zgl. deskriptive Bedeutungskomponenten insofern, als sie Behauptungen über beschreibbare Merkmale oder Wirkungen des Bewerteten aufstellen. Literarische Wertungen u. ihre Begründung bestehen also meist aus mehreren Komponenten, die allerdings in der Wertungspraxis oft nur z. T. oder in Ansätzen vorhanden sind. Wer z. B. den Satz ›Das ist ein gutes Gedicht‹ äußert, hat mit Nachfragen zu rechnen: ›Aufgrund welcher Merkmale und/oder Wirkungen ist das Gedicht gut?‹ Eine verbreitete Art von Argumenten macht daher Aussagen über die positive Wirkung des Gedichts auf das wertende Subjekt oder auf andere Leser. Kant maß in der Kritik der Urteilskraft diesem Argumenttyp einen zentralen Stellenwert zu, indem er das »Gefühl der Lust oder Unlust« im Subjekt zur Basis eines jeden ästhetischen Urteils erklärte. Neben den wirkungs- bzw. subjektbezogenen Argumenten spielen in der Wertungspraxis objektbezogene eine dominante Rolle, die Wertungen mit beschreibenden u. interpretierenden Hinweisen auf Textmerkmale begründen. Subjekt- u. objektbezogene Argumente können kombiniert werden, indem der Wertende Aussagen darüber formuliert, aufgrund welcher Merkmale das Bewertete bestimmte Wirkungen erzielt. Beispiel: ›Das Gedicht ist gut, weil es im Leser aufgrund seiner metrischen, phonologischen und syntaktischen Regelmäßigkeiten ästhetisches Wohlgefallen erzeugt.‹ Allen subjekt- u. objektbezogenen Argumenten, mit denen Wertungen begründet werden, liegen Wertmaßstäbe zugrunde, auch wenn diese selten explizit mitformuliert werden. Mit dem abwertend gemeinten Satz ›Das Gedicht ist realitätsfern‹ z. B. setzt der Wertende implizit voraus (er ›präsupponiert‹), daß Realitätsnähe ein für ihn u. potentiell auch für andere gültiger Wertmaßstab ist. Nur unter der Voraussetzung, daß der Satz ›Gedichte, die weltfern sind, sind ohne oder mit näher zu bezeichnenden Einschränkungen negativ zu bewerten‹ akzeptiert wird, ist das objektbezogene Argument ›realitätsfern‹ für ein negatives Werturteil im logischen Sinn schlüssig. Wertmaßstäbe haben in Werturteilsbegründungen den logischen Status von »Schlußregeln« (Toulmin 1958) bzw. »Schlußpräsuppositionen« (Öhlschläger 1979), die in der Argumentation den Übergang von Behauptungen u./oder Wirkungen des Bewerteten (›das Gedicht ist weltfern‹) zu Konklusionen (›also ist das Gedicht schlecht‹) rechtfertigen. Sie selber wiederum lassen sich (als ›instrumentelle Werte‹) durch höherrangige Werte begründen, deren Realisierung sie dienen - bis hin zu nicht weiter begründbaren ›Basis-‹ oder ›Letztwerten‹ (so z.B. ›jenseitiges Seelenheil‹, ›diesseitiges Glück‹, ›Überleben der Gattung Mensch‹), über deren Geltung ein allg. Konsens unterstellt wird. Die Geltung von Wertmaßstäben kann (durch modale Kennzeichnungen wie ›immer‹, ›notwendigerweise‹ usw.) universalisiert, sie kann aber auch eingeschränkt u. relativiert werden. Einschränkungen werden vorgenommen etwa im Hinblick auf die Menge der potentiell wertenden Subjekte (Wertmaßstab gilt nur für bestimmte Individuen, soziale Klassen, Schichten oder Gruppen), auf die historisch-kulturellen Kontexte (Geltung z.B. nur im Umkreis des Barock, des dt. Idealismus, der literarischen Moderne, der abendländ. Kultur usw.), typische Wertungssituationen (vor Gericht, in der Schule, in der literar. Öffentlichkeit, im privaten Freundeskreis usw.) u. vor allem auch im Hinblick auf den Typus der bewerteten Objekte (Geltung nur für bestimmte Textgattungen, für die Elite- oder die Massenliteratur usw.). Derartige Einschränkungen werden miteinander kombiniert, wenn z.B. die Geltung des Wertmaßstabs ›künstlerische Einheit‹ auf die bürgerl. Eliteliteratur aus dem Umkreis der klassisch-idealistischen Ästhetik in der Zeit um 1800 eingegrenzt wird. Literarische Werte werden zu literar. ›Normen‹, wenn sich mit ihnen Erwartungen an literaturbezogene Handlungen (v. a. das Schreiben u. die Vermittlung von Literatur) verbinden, die mit negativen oder positiven Sanktionen gestützt werden. Akte der l. W.haben dabei oft selbst Sanktionscharakter, wenn z.B. Literaturkritiker die Schreibhandlungen eines Autors öffentlich mißbilligen oder loben. In Deutschland wurde seit etwa 1750, als die Genieästhetik die klassizistische Regelpoetik abzulösen begann, die Verbindlichkeit literar. Normen grundsätzlich in Frage gestellt. Das autonome Dichterindividuum, dem das Prädikat ›Genie‹ zuerkannt wird, schafft sich demnach, unbeeindruckt von potentiellen Sanktionen, mit jedem Werk neu seine eigenen Normen. Dem der Genieästhetik verpflichteten Diktum Friedrich Schlegels, »daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide«, entspricht im Umkreis der Romantik eine hermeneut. Kritik, die durch ›gründliches Verstehen‹ der komplexen Strukturen jedes einzelnen Kunstwerks die von ihm selbst gesetzten Maßstäbe herausarbeitet, um es an ihnen zu messen. Schon die interpretatorische Ergiebigkeit eines Werks wird dabei zum Indikator seines Werts. Die Wirkungsgeschichte solcher Vorstellungen reicht bis in die Gegenwart u. prägt nachhaltig auch noch die literaturwissenschaftl. Norm- u. Werttheorien des 20. Jh. Die Gegenüberstellung von niedrig bewerteter Normgebundenheit u. hoch bewerteter Normfreiheit, die in der Abwertung der Nachahmung vorbildl. Muster u. der Etablierung von Wertmaßstäben wie ›Innovation‹ u. ›Originalität‹ ihren Ausdruck findet, ging auch in die dichotomischen Bewertungsmuster ein, mit denen zwischen ›Hoch-‹ u. ›Trivialliteratur‹, ›Elite-‹ u. ›Massenliteratur‹, ›Kunst‹ u. ›Kitsch‹[2] unterschieden wurde. Für die von kulturellen Eliten hochbewertete Literatur ist die Normabweichung zur Norm geworden. Nach Jan Mukařovský (1974) ist die »Geschichte der Kunst, wenn wir sie aus der Sicht der ästhetischen Norm betrachten, eine Geschichte der Auflehnung gegen die herrschenden Normen«. Die Rezeptionsästhetik von Hans Robert Jauß (1970) erklärt ähnlich die Distanz eines Werks zu den literar. Erwartungen seines ersten Publikums zum Kriterium seines ästhetischen Werts, während sich das Werk »in dem Maße wie sich diese Distanz verringert« dem Bereich »kulinarischer Unterhaltungskunst« annähere. Nach solchen Bewertungsmustern zeichnen sich hochrangige Kunstwerke durch die ›Entautomatisierung‹ (ein Begriff des russischen Formalismus) von Wahrnehmungsgewohnheiten oder den schockartigen Anstoß zu neuen Sehweisen u. fremden Erfahrungen aus, während Trivialliteratur u. Kitsch sich in der bloßen Reproduktion sprachl. Formelhaftigkeiten, schablonenhafter Gattungsmuster, verlogener Gefühlsklischees u. verbrauchter Sentimentalitäten bewegen. Doch auch die sich im späten 18. Jh. von der Unterhaltungsliteratur[3] absondernde ›Hochliteratur‹ bewegt sich seit damals keineswegs in einem normfreien Raum. Die für sie konstitutiven Normen u. Werte haben sich jedoch verändert. Sie sind unspezifischer, vager u. allgemeiner geworden, enthalten keine konkreten Einzelvorschriften mehr, sondern verlangen den schreibenden Subjekten in zunehmendem Maße kreative »Ich-Leistungen« (Dreitzel 1972) der Interpretation u. Ausgestaltung ab. Sie haben sich zudem pluralisiert, so daß Autoren sich wahlweise an verschiedenen Normen u. Werten orientieren können. Die vielfältige, komplexe u. heute weder in der Theorie noch in der Praxis befriedigend gelöste Problematik des argumentativen Umgangs mit Wertmaßstäben beruht nicht nur auf u. a. von Herders Geschichtsdenken geförderten Einsichten in ihre kulturelle Relativität u. ihre sich in modernen Gesellschaften beschleunigenden Wandlungen, sondern auch auf dem hohen Grad ihrer oft zur Leerformelhaftigkeit tendierenden Abstraktheit. Vielberufene Wertmaßstäbe wie das ›Gute, Wahre und Schöne‹, ›Stimmigkeit‹, ›Einheit‹ u. ›Ganzheit‹, ›Spannung‹, ›Authentizität‹ oder ›Glaubwürdigkeit‹, ›Innovation‹, ›Originalität‹ oder ›Vieldeutigkeit‹ werden nicht nur sehr unterschiedlich konkretisiert u. interpretiert, sondern auch hierarchisiert. Welche Textmerkmale beispielsweise als zur Realisierung des abstrakten Wertes der ›Schönheit‹ wichtig erachtet werden oder ob eth. Wertmaßstäbe (in Lessings Tragödientheorie z.B. die humanisierende Tugend der »Mitleidsfähigkeit«) ästhetischen übergeordnet sind, so daß die ästhetischen einen instrumentellen Charakter im Hinblick auf ihre Tauglichkeit zur Erreichung höherrangiger eth. Ziele haben - das sind Fragen, auf die in der Wertungspraxis u. -theorie permanent umstrittene Antworten gegeben werden. Divergenzen in der Bewertung gleicher literar. Phänomene sind so häufig, daß sie auf der einen Seite zu der skeptizistischen Auffassung geführt haben, l. W. beruhe auf bloß persönl. Geschmack u. individueller Intuition, über die sich mit rationalen Argumenten nicht streiten lasse u. die sich daher jedem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit entziehen. Auf der anderen Seite haben sie zu immer neuen Anstrengungen provoziert, der subjektiven Beliebigkeit literar. Geschmacksäußerungen entgegenzuarbeiten u. der l. W. intersubjektive Verbindlichkeit zu verschaffen. Zum gravierenden Problem wurde die l. W. erst in der Zeit der Aufklärung, als die Mustergültigkeit aller bislang fraglos akzeptierter Autoritäten grundsätzlich angezweifelt wurde, als sich mit der Expansion des Buchmarkts u. der Institutionalisierung der Literaturkritik der öffentl. Bedarf nach l. W. verstärkte u. als mit der Ausdifferenzierung u. dem beschleunigten Wandel des gesellschaftl. Systems die kulturellen Wertvorstellungen instabil wurden u. sich pluralisierten. In Opposition zur sensualistischen Wirkungsästhetik etwa eines Jean-Baptiste Dubos[4], die die Empfindungen der eigenen Sinnesorgane, d.h. den Geschmack der Rezipienten (u. damit die wirkungsbezogenen Argumente) zur Basis l. W. machte, versuchte Gottsched die Verbindlichkeit literar. Werturteile durch die Rekonstruktion vernunft- u. naturgemäßer Regeln der Dichtkunst zu sichern, denen die Merkmale eines jeden guten literar. Werks zu entsprechen (Dominanz objektbezogener Argumente) u. vor denen sich alle nur partikularen Einzelinteressen von Ständen, Nationen, Epochen u. Individuen zu rechtfertigen haben. Aus den quasi naturgesetzl. Regeln der Vernunft leitete Gottsched im Anschluß an Aristoteles u. a. den für die Frühaufklärung zentralen u. zum Teil noch heute verwendeten, doch schon im 18. Jh. (u. a. von Johann Jacob Bodmer u. Johann Jacob Breitinger) vielfach in Frage gestellten Wertmaßstab der ›Wahrscheinlichkeit‹ ab: »die Ähnlichkeit des Erdichteten mit dem, was wirklich zu geschehen pflegt; oder die Übereinstimmung der Fabel mit der Natur«. Die empfindsame Gefühlskultur des 18. Jh. favorisierte in Opposition zur rationalistischen Regelpoetik Gottscheds in ihren Wertungen die wirkungsbezogenen Argumente. Mit dem Begriff des »interesselosen Wohlgefallens«, das eine distanzierte Wahrnehmung des Schönen unabhängig von individuellen Neigungen u. persönlichen Einzelinteressen erlaube, versuchte Kant, den wirkungsbezogenen Argumenten in der Werturteilsbegründung intersubjektive Geltung zu verschaffen. Von den gegensätzl. Positionen, die sich im 18. Jh. in der Auseinandersetzung mit den Problemen l. W. artikulierten, sind die literaturwissenschaftl. Wertungsdebatten noch heute geprägt. Denen, die im Anschluß an szientistische Ideale der Wertfreiheit alle l. Wertungen in den Bereich des Vorwissenschaftlichen verweisen, stehen jene gegenüber, die im Bewußtsein der historischen Vielfalt u. Wandlung von Wertvorstellungen doch so etwas wie zeitüberdauernde, geschichtsresistente Maßstäbe zu beschreiben suchen, um der l. W. eine zumindest begrenzte intersubjektive Verbindlichkeit zu sichern (Müller-Seidel 1965). Die maßgeblich von der Aufklärung, von Marx u. von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule (u. a. Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Jürgen Habermas) inspirierten Ansätze zur ideologiekrit. Wertung erklärten die Emanzipation möglichst vieler Menschen von unnötigen Natur- u. vor allem Gesellschaftszwängen (Schulte-Sasse 1976) zum obersten Maßstab krit. Lesens u. begründeten mit ihm eine Reihe weiterer Wertmaßstäbe, meist in Form von Verboten: Literatur darf nicht ›affirmativ‹ sein, d.h. zur Stabilisierung bestehender u. überflüssig gewordener Herrschaftsverhältnisse beitragen. Sie darf daher nicht: 1. Ersatzbefriedigungen für soziale Mangelerfahrungen anbieten (statt aktivierender Antizipationen eines besseren Lebens), 2. regressive Fluchtphantasien in scheinbar bessere Vergangenheiten vermitteln (statt zukunftsorientierter Geschichtsentwürfe), 3. gesellschaftliche Konflikte u. Widersprüche harmonisieren (statt sie ›realistisch‹ abzubilden), 4. soziale, also von Menschen gemachte Phänomene zu naturnotwendigen verdinglichen (statt ihre Veränderbarkeit bewußt zu machen), 5. in der Darstellung des Leidens an der Gesellschaft hilf- u. perspektivelos bleiben (statt konstruktiv). Den vielfach dogmatischen Wahrheitsansprüchen mancher Ideologiekritiker, mit denen sie ›richtiges‹ u. ›falsches‹ (d.i. ideologisches) Bewußtsein unterscheiden, begegnet die u. a. von Apel (1971) u. Habermas (1973) konzipierte Diskursethik, die ideologiefreie Wahrheit an einen zwanglosen Konsens unter idealen Bedingungen herrschaftsfreier Kommunikation bindet. Als spezielle Fortführungen ideologiekritischer haben sich inzwischen auch feministische Wertungskonzepte etabliert, in denen die Emanzipation der Frau von patriarchal. Herrschaft ranghöchster Maßstab ist, u. dekonstruktivistische, die (im Anschluß an Jacques Derrida) alle einheitl. Sinnkonstruktionen u. mit dichotomischen Begriffspaaren geordnete Werthierarchien unter Ideologie-, Metaphysik- u. Totalitarismusverdacht stellen. Die neueren sprach- u. argumentationsanalyt. Ansätze literaturwissenschaftl. Wertungstheorien haben darüber hinaus gezeigt, daß literarische - ähnlich wie ethische oder juristische - Werturteile durchaus das Prädikat ›wissenschaftlich‹ für sich beanspruchen können, wenn sie, über bloße Bekundungen des Gefallens oder Mißfallens hinausgehend, Grundbedingungen rationalen Argumentierens genügen, sie reflektieren, ihre eigene Argumentation durchschauen, explizieren u. präzisieren. Einsichten in die Logik von Werturteilsbegründungen garantieren zwar keinen Konsens in Fragen der Wertung, doch erlauben sie u. a. Aussagen über die Entstehung eines Wertungsdissenses. Dieser kann in der Beurteilung literar. Texte u. a. resultieren aus: 1. divergierenden Zuschreibungen von Textmerkmalen (auch Interpretationen eines Textes oder bestimmter Textteile), 2. divergierenden Aussagen über die Wirkungen eines Textes auf die wertenden Subjekte, 3. divergierenden Wertmaßstäben, 4. divergierenden Interpretationen u. Verwendungsweisen der die Wertmaßstäbe bezeichnenden Begriffe, 5. divergierenden Hierarchisierungen u. Kombinationen der Wertmaßstäbe. Unterschiedliche Bewertungen eines Textes müssen demnach keineswegs, wie meist angenommen wird, auf unterschiedl. Wertmaßstäben beruhen, sondern können auch das Resultat unterschiedl. Beschreibungen von Textmerkmalen u. -wirkungen oder unterschiedl. Verwendungen abstrakter, konkretisierungsbedürftiger Wertbegriffe wie ›Schönheit‹, ›künstlerische Einheit‹, ›Humanität‹, ›Authentizität‹ oder ›Emanzipation‹ sein sowie auch der unterschiedl. Gewichtung gleicher ethischer, ästhetischer oder polit. Maßstäbe. Einsichten in die Logik der Werturteilsbegründung erlauben es, jene Stellen in der Argumentation ausfindig zu machen, die für Differenzen in der Bewertung gleicher Gegenstände ausschlaggebend sind. & LITERATUR: Richard M. Hare: The Language of Morals. Oxford 1952. Dt. Ffm. 1972. - Karlheinz Deschner: Kitsch, Konvention u. Kunst. Mchn. 1957 u. ö. - Stephen Toulmin: The Uses of Argument. Cambridge 1958. Dt. Kronberg/Taunus 1975. - Walther Killy: Dt. Kitsch. Gött. 1962. 81978. - Fritz Lockemann: Literaturwiss. u. l. W. Mchn. 1965. - Max Wehrli: Wert u. Unwert in der Dichtung. Köln 1965. - Walter Müller-Seidel: Probleme der l. W. Stgt. 1965. 31981. - Hans-Egon Hass: Das Problem der l. W. Darmst.21970. - Karl-Otto Apel: Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. In: Hermeneutik u. Ideologiekritik. Mit Beiträgen v. K.-O. Apel u. a. Ffm. 1971, S. 7-44. - Ludwig Giesz: Phänomenologie des Kitsches. Mchn. 21971. - Rüdiger Lautmann: Wert u. Norm. Begriffsanalysen für die Soziologie. 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Thomas Anz Kanon griech.: Richtschnur, Maßstab Ein Kanon ist die als allgemeingültig und dauerhaft verbindlich gedachte Auswahl vorbildlicher dichterischer oder rednerischer Werke bzw. die Auswahl mustergültiger Autoren. Der Kanon – ein Phänomen, das in der Literaturwissenschaft vermehrt Beachtung findet. Er wird einerseits analysiert: Was ist ein Kanon, wie entwickelt er sich, welche Funktionen übernimmt er? Andererseits wird seine Gültigkeit hinterfragt: Brauchen wir heute noch einen Kanon? Ist der Kanon nicht nur ein Machtmittel herrschender kultureller Klassen, um unliebsame Gedanken und Ideen von der kulturellen Praxis auszuschließen? Beginnen wir mit der Analyse: Den literarischen Kanon verstand man in der Gesellschaft und Literaturwissenschaft lange als Durchsetzung zeitloser literarischer Qualität nach eigenen Gesetzen. Diese Gesetze – so glaubte man - brachten eben gerade das qualitativ Hochwertige zur Geltung. Wer den Kanon kannte, der kannte die "gute" Literatur, diejenige, die es wert war, gelesen zu werden. Von dieser Vorstellung hat man sich in der Germanistik mittlerweile verabschiedet. Heute wird der Kanon als das Ergebnis eines Deutungs- und Selektionsprozesses begriffen, der nach bestimmten Selektionskriterien funktioniert. Dies können literaturinterne Kriterien sein, aber auch literaturexterne. Unter die literaturinternen Kriterien fallen ästhetische Programme, Gattungstraditionen und die Freiheit oder Unfreiheit von diesen Programmen oder Traditionen. Was dies für den Kanon bedeutet, wird deutlich, wenn man z. B. den Roman betrachtet. In einer Zeit, in der vor allem die Tragödie hoch bewertet wird – wir denken z. B. an die Antike und Aristoteles´ Poetik, hätte ein Roman kaum Chancen gehabt, zum Kanon zu gehören, er hätte als ästhetisch minderwertig gegolten; heute hingegen muß er noch nicht einmal besondere formale Kriterien erfüllen, um kanonfähig zu werden. Er hat sich einerseits von Gattungstraditionen befreit und von der damit verbunden Wertigkeit der einzelnen Gattungen sowie von verbindlichen ästhetischen Programmen (Poetiken). Wie schon erwähnt, gibt es jedoch nicht nur literaturinterne Kriterien, die einen literarischen Text dem Kanon zuschlagen, sondern auch literaturexterne Gesichtspunkte. Darunter sind die politisch-kulturellen Bedingungen zu verstehen, die in einer Gesellschaft vorherrschen. Diese können zu einer Abwertung und Ausgrenzung einzelner Texte führen, z.B. mit den Mitteln der Zensur. Für den Roman haben diese Ausschließungsmechanismen in der Vergangenheit unter anderem bedeutet, daß wir zwar die Romane der Romantiker von Tieck bis Eichendorff kennen, aber von Sophie Mereau-Brentano, eine der bekanntesten AutorInnen ihrer Zeit, oder von Dorothea Schlegel und ihrem Roman "Florentin" wissen nur SpezialistInnen. Daß sich ein solcher Kanon überhaupt bildet, hängt natürlich damit zusammen, daß er wichtige Funktionen übernimmt. Er sorgt für die Selbstdarstellung und Identitätsbildung einer Gruppe, indem er ihre Normen und Werte repräsentiert. Dabei übt er eine Legitimationsfunktion aus und sorgt für die Handlungsorientierung der Gruppenmitglieder. Der Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts sieht sich und seine Vorstellungen von Gesellschaft in der damals zum Kanon gehörenden Literatur repräsentiert. Dies kann die patriarchalische Familienstruktur, aber auch der militärische Habitus des Kaiserreichs nach 1870/71 sein. Sind im 19. Jahrhundert noch eindeutig die Deutungseliten – vor allem das Bildungsbürgertum – am Werke, wenn es um die Kanonbildung geht, so hat sich die Entstehung des Kanons heute zumindest tendenziell demokratisiert – vor allem wenn man an diesen oder jenen Gegenkanon denkt (Frauenliteratur, Ökologische Bewegung, Esoterik, etc.). Institutionen und Personen, die zur Kanonbildung beitragen, sind unter anderen Autoren, Kritiker, Literaturwissenschaftler, Medien, Preisverleihungen, Lehrbuchkommissionen und die Kultusbürokratie. Ablesen kann man den Kanon vor allem an Lehrplänen, Seminarangeboten, Theaterspielplänen, erhältlichen Klassiker-Ausgaben und den Ihnen allen bekannten Leselisten für Germanistik-Studenten. Bleibt zum Schluß die Frage: Warum überhaupt noch ein Kanon? Die Universitäten haben schon längst reagiert, indem sie auch die außerhalb des Kanons liegende Literatur in ihr Angebot integriert haben. So begegnet man Seminartiteln wie: "Frauentrivialliteratur der Jahrhundertwende" oder "Der Kriminalroman von Agatha Christie bis Amanda Cross". Trotzdem gibt es immer noch gute Argumente für den Kanon. Viele Texte sind nur zu verstehen, wenn man auch die sie umgebenden Texte berücksichtigt, die Texte, die der Autor kannte und mit denen er arbeitete. Stichwort ist hier die Intertextualität. Ein anderes Argument wäre, daß ein literaturwissenschaftliches Studium immer schwieriger wird, wenn es keine Texte gibt, die alle kennen, und über die man sich verständigen kann. Trotzdem darf der kritische Rezipient keine Sekunde den Konstruktionscharakter des Kanons aus den Augen verlieren. Der Kanon ist eine Auswahl, die viele Texte vergißt, die nicht unbedingt vergessen werden sollten. ________________________________ [1] stim|mig : [harmonisch] übereinstimmend, zusammenpassend: die Illusion einer -en Welt; ihre Argumentation war in sich s. © Duden - Deutsches Universalwörterbuch, 5. Aufl. Mannheim 2003 [CD-ROM]. [2] Essenzielle Qualifikationen des Kitsches sind seine Trivialität, seine Wiederholbarkeit und fehlende Authentizität. [3] Vulpius, Christian August: Ein äußerst produktiver Schriftsteller, der sich geschickt dem Zeitgeschmack anpaßte, zeichnete sich V.vor allem als Autor bes. mit Schauerelementen versehener Liebes- u. Abenteuerromane aus. Charakteristisch dafür ist Aurora. Ein romantisches Gemälde der Vorzeit (2 Bde., Lpz. 1794/95. 31800) mit Themen, Motiven u. Erzählstrukturen, die sich im Gesamtwerk wiederholen: der Held (schon hier eine Rinaldo-Figur) als hilfloses Werkzeug eines mächtigen Geheimbundes, Staats- u. Hofintrigen, Geisterapparat u. Geisterbeschwörung, Verwechslungen u. Doppelgängermotiv, Antiklerikalismus u. episodenhafte Erzählweise. V.' größter Erfolg u. die Basis seines Nachruhms war Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann. Eine romantische Geschichte unseres Jahrhunderts in 3 Theilen oder 9 Büchern (Lpz. 1799). Dem launenhaften u. unzuverlässigen Protagonisten begegnen viele mysteriöse Liebes- u. Kriegsabenteuer, die das Publikum offenbar begeisterten. [4] Johann Jacob Breitinger hat das neuere westeurop. kunsttheoretische Schrifttum integriert, u. a. Jean-Baptiste Dubos' wirkungsmächtige Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719). Tragedy, in the view of Fontenelle or the Abbé Dubos, should teach men virtue and humanity. Voltaire's Zaďre (1732) does just that, through the spectacle of Christian intolerance overwhelming the eponymous heroine, torn as she is between the religion of her French Catholic forefathers and the Muslim faith of her future husband, a Turk.