Deutsche Ostforschung und Geschichtswissenschaft 31 ihre Betrachtung zeitlich genauer konturieren können. Für die Zeit von 1919 bis 1945 sind hier insbesondere institutionelle Veränderungen zu erkennen (s. dazu unter IV), nach 1945 kann eine Periodisicrung an der Restitution und langsamen Ablösung des Ostforschungsparadigmas festgemacht werden.31 Ein deutlicher Einschnitt, keineswegs aber das Ende dieses Paradigmas, verbindet sich mit der von Walter Schlesinger 1963 ausgelösten Diskussion.32 Wenig beachtet blieb in der bisherigen Diskussion auch die Frage nach den Vorläufern der Ostforschung vor und im Ersten Weltkrieg. Denn eine am deutschen Faktor in Osteuropa interessierte Geschichtsforschung gab es selbstverständlich auch schon vor 1918, ebenso wie eine Verbindung mit politischen Intentionen, die in der borussischen Historiographie, aber auch bei Karl Lamprecht, Otto Hoetzsch33 und für die Habsburgermonarchie im Werk Raimund Friedrich Kaindls festzustellen ist,34 das bereits von einer Konzentration auf ethnisch-kulturelle Aspekte des Deutschtums in der Abgrenzung von politikgeschichtlichen Gesichtspunkten gekennzeichnet ist. Neu und ausschlaggebend für die Akzentuierung des Einschnitts von 1918 war jedoch der Vorrang, der der Indienststellung der Geschichtsforschung und -Schreibung und der Ausrichtung an politischen Interessen eingeräumt wurde. III Was also ist Ostforschung in der Geschichtswissenschaft? Für die Epoche bis 1945 lassen sich folgende inhaltliche Punkte benennen: Erstens: Sie ist gekennzeichnet durch die nach 1918 entstandene politische Motivation, die deutschen Revisionsansprüche gegenüber Polen und das „Heimatrecht" der deutschen Minderheiten - bzw. „Volksgruppen" im Sprachgebrauch der 1920er und 30er Jahre - in Estland, Lettland und der Tschechoslowakei mit historischen Argumenten zu untermauern. Dabei kann die Wirkung, die von der negativen Wahrnehmung von Versailles ausging, kaum überschätzt werden.35 Diese Intention des Dazu J. Hackmann, An einem neuen Anfang der Ostforschung. Bruch und Kontinuität in der ostdeutschen Landeshistorie nach dem Zweiten Weltkrieg, in: WF 46, 1996, S. 232-258; sowie Mühle, Ostforschung (wie Anm. 10), S. 336-349. Schlesinger, Ostbewegung (wie Anm. 10); zuvor war bereits erschienen: ders., Die geschichtliche Stellung der mittelalterlichen deutschen Ostbewegung, in: HZ 183, 1957, S. 517-542; außerdem muss in diesem Zusammenhang Eugen Lemberg genannt werden, vgl. dazu mit ausführlichen Zitaten: Mühle, Ostforschung (wie Anm. 10), S. 339-346. Hoetzsch war maßgeblich an der Gründung der Königlichen Akademie in Posen 1906 beteiligt; zu seinen Zielsetzungen s. auch O. Hoetzsch, Zur Einführung, in: Ostland. Jahrbuch für ostdeutsche Interessen 1, 1912, S. 3-8, hier 3 f.; vgl. Mühle, Ostforschung (wie Anm. 10), S. 327. Zu Lamprecht, Kaindl und weiteren ähnlichen Einstellungen s. J. Hackmann, C. Lübke, Die mittelalterliche Ostsiedlung in der deutschen Geschichtswissenschaft, in: J. M. Piskorski (Hg.), Hi.storiographical Approaches to Medieval Colonization of East Central Europe. A Comparative Analysis Against the Background of Other European Inter-ethnic Colonization Processes in the Middle Ages (im Druck). 3i S. dazu G. H. Herb, Under the Map of Germany. Nationalism and Propaganda 1918-1945, London -New York 1997, S. 13-33, für die Geographie; ähnliche Aktivitäten von Seiten der Geschichtswissenschaft kamen vor allem aus dem Bereich der ostdeutschen Landesgeschichte, sie sind bislang bekannt 32 Jörg Hackmann Kampfes gegen Versailles ging seit 1938 in die Legitimation und Unterstützung der deutschen Okkupationspolitik in Mittel- und Osteuropa über. Zweitens: Zentrale crkenntnisleitcnde Fragestellung der Ostforschung war es, um mit Brackmann zu sprechen, „das politische Geschehen in der deutschen Grenzmark und die Entwicklung des Deutschtums in den Nachbarstaaten im Zusammenhange der deutschen Gesamtentwicklung"36 zu betrachten. Drittens: Ihre Methodologie konzentrierte sich zunächst um den Begriff „Volksund Kulturbodenforschung", seit Mitte der 1930er Jahre dann um die Bezeichnung „Landes- und Volksforschung".37 Mit diesen Begriffen verband sich, wie in den Zeitschriften und Sammelbänden38 zu erkennen ist, eine enge Zusammenarbeit der Historiker mit Archäologen, Sprachwissenschaftlern, Geographen, Volkskundlern, Soziologen und Kunsthistorikern. Dieser methodologische Ansatz lässt sich nicht trennen von ihrer Deutschtumsfixierung; aus ihr leitete sich letztlich ab, ob „innovative" oder „traditionelle" Forschungsansätze entwickelt wurden. Knapp zusammengefasst ließe sich behaupten, dass politik- oder verfassungsgeschichtliche Elemente dort wichtig blieben, wo sie - wie in Ostpreußen oder im Baltikum - einer Deutschtumsgeschichte dienlich waren, dass aber etwa in Westpreußen oder der Volksinselforschung „volksgeschichtliche" Ansätze wichtiger wurden. Wenn man die Beiträge der beiden Bände der Brackmann-Festschrift Deutsche Ostforschung39 auf den Anteil volksgeschichtlicher Abhandlungen hin untersucht, so lässt er sich etwa auf ein Drittel der historischen Beiträge beziffern, wohingegen knapp drei Viertel aller Aufsätze „deutsch" oder „germanisch" im Titel führen. Viertens: Der regionale Einzugsbereich der Ostforschung umfasste die ostdeutschen Regionen östlich von Elbe und Saale sowie Polen, Böhmen und Mähren, die baltischen Länder, Schleswig-Holstein und auch Nordeuropa mit Dänemark, Skandinavien und Finnland, d. h. in moderner Terminologie die Großregionen Ostmittel-und Nordosteuropa.40 für Danzig, s. J. Hackmann, Ostpreußen und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht. Landeshistorie als beziehungsgeschichtliches Problem, Wiesbaden 1996 (=Deutschcs Historisches Institut Warschau, Quellen und Studien, 3), S. 176. 36 Brackmann an Max Vasmer, 19.5.1937, in: GStA Rep. 92, NL Brackmann, Nr. 82, s. a. J. Hackmann, ,J)er Kampf um die Weichsel". Die deutsche Ostforschung in Danzig von 1918-1945, in: ZH 58, 1993, S. 37-57, hier 38, Hervorhebung vom Verf. 3 Deutlich zu sehen an den beiden Zeitschriften: „Deutsche Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung" 1, 1930 -4, 1934 und „Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung" 1, 1937 - 8, 1944. Genannt seien hier exemplarisch: W. Volz (Hg."), Der ostdeutsche Volksboden. Aufsätze zu den Fragen des Ostens, 2. erw. Ausgabe, Breslau 1926; E. Kcyscr (Hg.), Der Kampf um die Weichsel. Untersuchungen zur Geschichte des polnischen Korridors, Stuttgart 1926; Deutsche Staatenbildung und deutsche Kultur im Preußenlande, hg. vom Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen, Königsberg 1931; A. Brackmann / C. Engel (Hg.), Baltische Lande, Bd. 1: Ostbaltische Frühzeit, Leipzig 1939. 39 Deutsche Ostforschung (wie Anm. 15); vgl. auch u., VIII. * Hier nach einer Übersicht der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft von 1941 (in: HStAM 340 NL Papritz, C 12 d 30), wo Vertreter für die folgenden Regionen genannt werden: Ostpreußen, Danzig-Westpreußen, Pommern, Schneidemühl, Wartheland, Brandenburg-Preußen, Schlesien, Generalgouvernement, Sachsen, Sudetengau, Protektorat Böhmen-Mähren, Lettland-Estland, Litauen, Finnland, Ostsee, Hanse, Schleswig-Holstein, Nordschleswig, Dänemark, Schweden, gesamtnordische Fragen, Norwegen; vgl. Fahlbusch, Wissenschaft (wie Anm. 6), S. 187. Deutsche Ostforschung und Geschichtswissenschaft 33 Fünftens: Das zentrale Argument, mit dem die Politisierung gerechtfertigt wurde, war die „Abwehr" von Positionen, die die deutsche Stellung in Ostmitteleuropa untergrüben. Das war offensichtlich auch das entscheidende Motiv für Brackmann, als er 1929 die Leitung der preußischen Staatsarchive übernahm: durch planvolle wissenschaftliche Arbeit sollte der gegnerischen Seite - das hieß: vor allem Polen ~ entgegengetreten werden.41 Dabei spielten Übersetzungen und Informationen über die Geschichtsschreibung in Polen, der Tschechoslowakei und den baltischen Ländern eine wichtige Rolle,42 um entsprechende Entgegnungen vorzubereiten. Es sei jedoch unterstrichen, dass in dem Selbstvcrständnis der „Abwehr" bereits eine Legitimierung zur politischen Indienststellung lag. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Förderung oder Behinderung wissenschaftlicher Vorhaben innerhalb der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft sich vorrangig an diesen politischen Erwägungen orientierte, so war etwa Theodor Schieders Arbeit über Ständische Freiheit im Weichselland als Arbeit über das Deutschtum in Pommerellen vor 1772 gefördert worden.43 Letztlich galt es wissenschaftlich als legitim, sich allein auf die Geschichte des Deutschtums zu beschränken, während die Geschichte der Nachbarn „der anderen Seite" überlassen blieb. Es muss nicht weiter ausgeführt werden, dass diese intendierte Einseitigkeit dem Anspruch strenger Wissenschaftlichkeit zuwiderlief und oftmals nicht mehr als ein Deckmantel war, den man sich aus taktischen Erwägungen umlegte.44 So sind denn die für die Ostforschung charakteristischen Sammelbände wie Der ostdeutsche Volksboden, Der Kampf um die Weichsel, Deutsche Staatenbildung und deutsche Kultur im Preußenland sowie das für den Internationalen Historikerkongress in Warschau 1933 erstellte Buch Deutschland und Polen45 als kritische oder - exakter - als polemische Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Kontrahenten zu verstehen ebenso wie die Zeitschrift „Jomsburg", die als Gegenreaktion auf die „Baltic (ab 1937: and Scandinavian) Studies" des Ostsee-Instituts in Thorn bzw. Gdingen initiiert wurde.46 Nach Mühle, Staatliche Förderung (wie Anm. 18); vgl. Haar, Historiker (wie Anm. 3), S. 108. 42 Zu den Übersetzungen s. das Verzeichnis: Übersetzungen der Publikaiionsstelle 1935-1942, Berlin 1943; zur Beobachtung der polnischen Geschichtswissenschaft s. die Hinweise bei Hackmann, Ostpreußen (wie Anm. 35), S. 242-247, zur estnischen und leuischen Geschichtswissenschaft s. J. Hackmann, Contemporary Baltic History and German Ostforschung 1918-1945. Cuncepts, Images and Notions, in: JBS 30, 1999, S. 322-337. 43 Th. Schieder, Deutscher Geist und ständische Freiheit im Weichsellande. Politische Ideen und politisches Schrifttum in Westpreußen von der Lubliner Union bis zu den polnischen Teilungen, Königsberg 1940 (=Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 8); zur Planung durch die Publikationssteile im Geheimen Staatsarchiv s. BA R 153/1084. Sachlichkeit als wissenschaftliches Poslulat beziehe sich nur auf die Methode, nicht aber auf den Gegenstand, heißt es bei E. Keyser, Die Geschichtswissenschaft. Aufbau und Aufgaben, München - Berlin 1931, S. 167; vgl. Hackmann, Ostpreußen (wie Anm. 35), S. 255. Vgl. die Angaben in Anm. 38; sowie A. ßrackmann (Hg.), Deutschland und Polen. Beiträge zu ihren geschichtlichen Beziehungen, München - Berlin 1933; zu den Hintergründen dieser Publikation s. Burleigh, Germany (wie Anm. 9), S. 59-70; und Haar, Historiker (wie Anm. 3), S. 116-126. „Jomsburg. Völker und Staaten im Osten und Norden Europas" 1, 1937- 6, 1942; zum Hintergrund s. Burleigh, Germany (wie Anm. 9), S. 139-143; zum Ostsee-Institut s. mit weiteren Litcraturhinweiscn: J. Hackmann, Strukturen und Institutionen der polnischen Westforschung (1918-1960), in: ZfO 50, 2001, S. 230-255.