Gérard Genette: Persiflage (aus Palimpseste. Frankfurt: Suhrkamp, 1993. S. 129f.) Jede satirische oder nicht-satirische Nachahmung eines Stils setzt die Kenntnis dieses Stils voraus, und man weiß, daß zur Zeit der Klassik die stilistischen oder thematischen Merkmale einer Gattung deutlicher wahrgenommen wurden als individuelle Merkmale, die im dichterischen Kanon nirgendwo umrissen werden. Wahrscheinlich ist die Nachahmung von Gattungsstilen genauso alt wie die Gattungen selbst, und wir konnten bereits feststellen, daß das komisch-heroische Gedicht, ein typisches Produkt der Klassik, aus einer satirischen Nachahmung des »epischen Stils« besteht, was auch immer darunter zu verstehen sein mag. Im dichterischen Bewußtsein der Klassik wird jedes individuelle Stilmerkmal sozusagen sofort nachdem es wahrgenommen wurde, in ein zeitloses Charakteristikum einer Gattung uminterpretiert oder verwandelt und damit aufgelöst. Der Marotismus stellt durchaus einen für Marots Stil typischen Zug dar, in der Sprache der Klassik würde man eher sagen, daß Marot den Marotismus lediglich erfunden habe und daß dieser nun im Repertoire der Figuren genauso allen zur Verfügung stünde wie die Metapher oder die Hypallage[1]. Und wenn Boileau auf Kosten seines bevorzugten Prügelknaben die erwähnte Nachahmung verfaßt, so tut er dies nur insofern, als sich in Chapelain jenes allgemeine Merkmal ideal verkörpert, das im vorliegenden Fall als »Fehler« gilt: die Kakophonie. Die Persiflage wirkt hier also zugleich satirisch und reduzierend; dies trifft auch auf jenen berühmten Brief an den Herzog von Vivonne[2] zu, in dem Boileau nacheinander die Manieren Guez de Balzacs und Voitures imitiert. Balzac steht hier als Beispiel für ein negatives Merkmal, nämlich die großsprecherische Hyperbel, und Voiture für das gegenteilige Merkmal, die asteisierende Litotes. Ersterer ist, wie Boileau kommentiert, »weder in der Lage, die Dinge einfach auszudrücken, noch von seinem hohen Roß herabzusteigen«, »weil er zuviel sagen wollte, hat er gar nichts gesagt« (dies ist bereits das Prinzip Talleyrands: »alles Übertriebene ist bedeutungslos«), und Voiture »sagt alles, was gesagt werden muß, indem er vorgibt, nichts zu sagen« (dies ist die implizite Überlegenheit des Understatements und erinnert bereits an die Devise Mies van der Rohes: »Less is more«). Ein Autor, ganz gleich, ob er nun »gut« oder »schlecht« ist, stellt für Boileau offenbar – zumindest als Gegenstand einer Nachahmung – nie eine komplexe literarische Individualität dar, sondern immer die typische Verkörperung eines allgemeinen Merkmals. Typisch und ausschließlich: Chapelain, Balzac und Voiture setzen also nicht nur ein universelles Merkmal eidetisch[3] ein, sondern scheinen dabei auch davon auszugehen, daß dieses Merkmal ihre Stile erschöpfend definiert. Von einer bestimmten Zuspitzung abgesehen, gilt – nach wie vor im 18. Jahrhundert – dasselbe für jene Marivaux-Persiflage, die Crebillon in seinem Roman L'ecumoire (Der Schaumlöffel dem Maulwurf Moustache in den Mund legt. Hier ein Auszug: »Diese Sitten mögen Euch sonderbar anmuten, aber Ihr habt unrecht damit. Eine von Euch als tugendhaft angesehene Frau läßt Euch einen Monat lang auf ein Rendezvous warten. Eine lange Zeit! Und was gewährt sie Euch am Ende Eures Martyriums? Nicht mehr als das, was Euch eine andere, die nicht so mit ihrer züchtigen Ehrbarkeit prahlt, gleich am Anfang geboten hat! Ihr seht, es kommt auf eins heraus; die brünstige Liebesglut setzt sich zuletzt doch immer durch. Durch alle die ausgeklügelten abschlägigen Antworten, die eine Frau gibt, schimmert immer ihre spätere Niederlage durch; sie mag sie beschleunigen oder hinauszögern, aber am Ende kommt sie gewiß. Doch die Phantasie ist dieser Niederlage vorausgeeilt, und nun hat man die Begierden gut beim Ohre zupfen; sie wachen kaum auf; und geschieht es trotz dem, so stellt sich das Vergnügen, das erst für eine ferne Zukunft verheißen wurde, entweder nicht zur rechten Zeit ein, oder es kommt überhaupt nicht mehr. Die Tugend ist weiter nichts als ein geschwätziges Weib, das Buch um Eure kostbare Zeit zu bringen sucht; und wenn sie die Liebe vertrieben zu haben glaubt . . . Wiederholt doch bitte, was Ihr soeben gesagt habt, unterbrach Tanzai sie. Ich w i l l auf der Stelle tot umfallen, wenn ich davon auch nur eine Silbe verstanden habe. Was für eine Sprache sprecht Ihr bloß? Die von Lappalien, erwiderte der Maulwurf. Wenn Ihr meine Sprache reden wolltet, entgegnete der Prinz, würdet Ihr mir großes Vergnügen bereiten. Wie stellt Ihr es nur an, daß Ihr Euch selbst versteht ? Ich versuche mich zu erraten, antwortete der Maulwurf. Ich mich auch. Es ist aber nicht sicher, ob die Einschätzung C r é b i l l o n s selbst nicht nuancierter oder m e h r d e u t i g e r ausgefallen wäre; darauf scheint zumindest die durchaus begeisterte Reaktion der ebenfallszuhörenden Prinzessin N e a d a r n e h i n zu deuten: Ich kenne nichts Entzückenderes, als zwei Stunden über Dinge zu sprechen, über die andere kaum eine Minute reden können. Was macht es schon, wenn man sich wiederholt, sofern man dem, was man sagt, nur einen Anstrich von Neuheit zu geben versteht? Überdies ist jene vortreffliche Ausdrucksweise, die Ihr rügt, ungemein verführerisch. Sie gibt Stoff zum Nachdenken. Glücklich, wessen Unterhaltung einen so feinen Geschmack verrät! Weshalb soll man immer ein und dieselben Redensarten gebrauchen und es nicht einmal wagen zu trennen, was nebeneinander zu stehen gewohnt ist? Warum sollte es verboten sein, Wörter miteinander Bekanntschaft schließen zu lassen, die sich nie gesehen haben oder die glauben, daß sie nicht zusammenpassen? Führt uns das Erstaunen, das sie ergreift, weil sie sich nebeneinander erblicken, nicht auf den Gipfel des Entzückens ? U n d wenn sie darüber hinaus noch außer dem Erstaunen, das Euch amüsiert, Schönheiten hervorbringen, wo Ihr Fehler zu finden vermeintet, seid Ihr dann nicht aufs höchste überrascht? Und muß ein Vorurteil... Aber selbst dieses Plädoyer ist, wie man sofort sieht , eine Marivaux-Imitation ; darauf weist auch folgende Bemerkung Tanzais hin: »Ihr überrascht mich in der Tat ; ich wundere mich nur , daß es bloß so kurze Zeit gebraucht hat, Euch mit diesem schlechten Geschmack anzustecken. « Tanzai gibt jedenfalls ein vollkommenes Beispiel für die kritische Haltung ab, die für die Persiflage typisch ist: Moustaches Stil erscheint ihm als Fremdsprache (»Was für eine Sprache sprecht ihr bloß?«), die für ihn, wie er etwas später sagt, ein trostloses Geschwätz, ein Geschwafel darstellt, das völlig unverständlich ist und »uns nun schon wenigstens drei Stunden mit einer Geschichte auf(hält), die ich in längstens einer Viertelstunde zu Ende gebracht hätte«; denn »es gibt nichts Lächerlicheres, als Geist und Witz zur Unzeit auszukramen«. Dieser Stil ist also ein Typus, der zwar von Marivaux erfunden wurde, aber so, wie Marot einst die Kunst des »Marotisierens« erfand: Diese spitzfindigen Erörterungen, jene »Fliegeneier«, wie Voltaire sagen wird, »die auf Waagschalen aus Spinnweben gelegt werden«, stellen eine zugleich thematische (Subtilitäten über Empfindungen) und stilistische (Neologismen, Oxymora, substantivierte Adjektive, Abstrakta) Manier dar, die bezeichnenderweise ebenfalls mit einem aus dem Namen ihres Erfinders abgeleiteten Gattungsnamen belegt wurde: eben Marivaudage. Jenes satirische Verfahren, das darin besteht, den nachgeahmten Stil als eine künstliche Sprache zu beschreiben, wird in der Folge zu einem derTopoi, zu einem der ergiebigsten Themen karikaturistischer Metatexte werden. ________________________________ [1] eine rhetorische Figur, bei der logische Wortbeziehungen meist durch grammatische Zuordnung des Adjektivs zu einem Wort oder Wortbestandteil, zu dem es inhaltlich nicht gehört, verschoben werden. Beispiele: "in baldiger Erwartung Ihrer Antwort"; der (oft zur Veranschaulichung benutzte) "vierstöckige Hausbesitzer". [2] 1 ;.Iuni 1675, in: Boileau, CEuvres completes (Paris: Gallimard, 1966), S. 776. Gemeinsames Thema ist eine Lobrede auf den genannten Herzog. [3] anschaulich, bildhaft