Roma-Streit Brüssel lockt und droht Paris 29. September 2010, 18:25 Artikelbild: Bulgarische Roma bei einer Demonstration gegen die gruppenweise erfolgenden Abschiebungen von Roma durch die französische Regierung. Seit Mittwoch sind juristische Feinspitze am Zug. - Foto: AP/Valentina Petrova Bulgarische Roma bei einer Demonstration gegen die gruppenweise erfolgenden Abschiebungen von Roma durch die französische Regierung. Seit Mittwoch sind juristische Feinspitze am Zug. Im Streit um systematische Abschiebungen von Roma bekommt Frankreich von der EU-Kommission eine "letzte Chance": Bis Mitte Oktober muss Paris garantieren, dass EU-Recht national umgesetzt wird - sonst kommt ein Verfahren. Die Entscheidung war einstimmig. Aber die Diskussion der versammelten EU-Kommissare zum Thema "Verletzung von EU-Recht bei den Abschiebungen von Roma durch Frankreich" sprengte völlig die Tagesordnung: Das waren die außergewöhnlichen Umstände, unter denen das Kollegium in Brüssel bei seiner wöchentlichen Sitzung am Mittwoch einen "politischen Beschluss" zum weiteren Vorgehen im Streit mit der französischen Regierung beim Umgang mit den Roma fasste. Eine Minute nach Mittag brachte Kommissionschef José Manuel Barroso die heikle Materie auf den Tisch, die beim EU-Gipfel vor zwei Wochen zu einem Eklat mit Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy geführt hatte. Zwei Stunden später trat seine Sprecherin Pia Ahrenkilde vor die Presse, um eine Erklärung zu verlesen. Deren Kern: Die Kommission habe sich entschieden, vorerst ein mahnendes Schreiben an die französische Regierung zu schicken. Darin werde diese aufgefordert, die EU-Richtlinie zur Personenfreizügigkeit in vollem Umfang umzusetzen. "Derzeit" sei die Kommission der Auffassung, dass Frankreich diese Richtlinie, die "diese Rechte für alle Bürger wirksam und transparent macht", also auch für Roma, "nicht in nationales Recht umgesetzt hat." Bis 15. Oktober wird Paris Zeit gegeben, die Freizügigkeitsrichtlinie umzusetzen oder - zumindest - "Entwürfe für Umsetzungsmaßnahmen und einen detaillierten Zeitplan dafür vorzulegen". Ultimatum für Paris Erst dann, fuhr Ahrenkilde fort, würde in einem "Paket von Vertragsverletzungsverfahren" gegen EU-Mitgliedsländer entschieden werden, ob es auch eines in Sachen Roma-Abschiebungen durch Frankreich geben werde. Also: derzeit kein Rechtsverfahren. Gleichzeitig will die EU-Kommission prüfen, ob und wie auch andere Mitgliedsländer gegen die Richtlinie zur Personenfreizügigkeit verstoßen. In der Erklärung wird betont, dass EU-Staaten zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung auch EU-Bürger ausweisen können. Dies müsse aber im Einzelfall geprüft werden, und es müssten einige Faktoren wie Dauer des Aufenthalts, Familiensituation, wirtschaftliche Lage des Betroffenen berücksichtigt werden. Grundrechtskommissarin Reding, die bei einer Erklärung zu den Roma-Abschiebungen mit einer Anspielung auf den Zweiten Weltkrieg die Empörung bei Sarkozy ausgelöst hatte, bekräftigte in Brüssel, dass Frankreich derzeit "europäisches Recht nicht umsetzt, wie es sollte". Aber: "Wenn Frankreich seine Gesetze rasch ändert, stoppen wir dieses Verfahren", sagte Reding in France 24. Das französische Außenministerium nahm den Ball umgehend auf. Man werde "in den nächsten Tagen zu einer umfassenden Analyse der neuen Forderungen der Kommission schreiten", sagte ein Sprecher. (Thomas Mayer aus Brüssel/DER STANDARD, Printausgabe, 30.9.2010)