Bericht 139 ihnen zuhören), wenn sie die Clubräume in Besitz nehmen, die Musikanlage ausprobieren, ihren ersten Skat spielen und den ersten Schoppen von der Theke holen. Solche Berichte folgen einer eigenen Dramaturgie, die auch z. B. erzählender Natur sein kann. Reportage Eine schwere Gasexplosion, die am Montagroorgen ein fünfstöckiges Wohnhaus im Münchner Stadtteil Schwabing vollkommen zerstörte, forderte bisher zwei Menschenleben und verletzte 18 Personen zum Teil schwer. Nach Angaben der Polizei wurde am Nachmittag immer noch ein Hausbewohner vermisst, sie schließt nicht aus, dass er sich noch unter den Trümmern des teilweise eingestürzten Hauses befindet. Eine Nachricht der dpa, Landesdienst Bayern. Am selben Tag verbreitete dpa eine Reportage vom Unglücksort; sie fing so an: 7 Uhr 18 zeigte die weißlackierte Küchenuhr, die unter den Gesteinstrümmern auf der Straße lag. Zu dem Zeitpunkt war sie unter der Wucht einer der größten Gasexplosionen, die München nach dem Krieg erschütterten, durchs Fenster geflogen. Rundherum lagen verstreut noch andere Küchenge-genstande, zertrümmerte Fernsehapparate, Möbel und ein blutiges Leintuch. Im zweiten Stockwerk wehten zerfetzte Vorhänge vor den herausgerissenen Fensterstöcken im Wind, darunter baumelten ein paar Heizungskörper an ihren Leitungen. Die Reportage ist kein Ersatz für Nachricht oder Bericht, sondern deren Ergänzung. Der Reporter schildert, was er sieht und erfährt, notiert sich bezeichnende Einzelheiten (z. B. dass die weißlackierte Küchenuhr bei 7 Uhr 18 stehen geblieben ist) und schreibt in der Redaktion nieder, was er (das meint das französische Wort reportet) zurückgebracht hat. 140 Weitere informierende Darstellungsformen Reportage 141 Warum der Reporter für seine Skizze das Imperfekt lagen wehten baumelten bevorzugt, ist mir nicht klar. Denn im Präsens würde seine Schilderung eindringlicher und unmittelbarer: 7 Uhr 18 zeigt die weißlackierte Küchenuhr, die unter den Gesteinstrümmern auf der Straße liegt... Rundherum liegen verstreut noch andere Küchengegenstände... Im zweiten Stock wehen zerfetzte Vorhange vor den herausgerissenen Fensterstöcken im Wind, darunter baumeln ein paar Heizungskörper an ihren Leitungen. So konkret und anschaulich wie möglich. Die Reportage vom eingestürzten Haus befolgt diese Regel, aber nicht konsequent. Sie fängt so bildhaft mit der Küchenuhr an, wird aber unmittelbar danach auffällig blass durch den Satz Rundherum lagen verstreut noch andere Küchengegenstande... Das Wort Küchengegenstände schafft in meiner Vorstellung kein Bild, und wenn, vielleicht ein falsches. Sind es Kochlöffel und Schneebesen oder Küchenwaage, Gewürzgläser, Kochbuch oder Töpfe und Deckel aus Email, Aluminium oder Eisen? Vielleicht sagen Sie: Der hat Probleme! Bei einer Gasexplosion mit zwei Toten, 18 Verletzten und einem Vermissten will der womöglich auch noch wissen, welche Farbe der Emailtopf gehabt hat. Möchte ich wirklich. Daneben liegen Gewürzgläser, Kochlöffel und ein großer blauer Deckel aus Email. Gewiss, der Reporter soll nicht wahllos Details um ihrer selbst willen aufgreifen, sondern wegen ihrer Charakteristik für die zu beschreibende Sache oder Person. Aber Bequemlichkeit und Blindheit sorgen leider dafür, dass sehr viele Reportagen nicht unter einem Zuviel, sondern einem erheblichen Zuwenig an Genauigkeit leiden. Deshalb habe ich mir die Übertreibung mit Gewürzglas und Kochlöffel gestattet. Zwar nicht unbedingt notwendig, aber besser als Küchengegens tände sind sie allemal. Während ein fehlendes Detail die Reportage verpatzen und ihren Informationswert verkürzen kann, schadet ein überflüssiges Detail fast nie36. Zustände und Abläufe: Die Reportage liefert Anschauung von Zuständen (Wie sieht es nach der Gasexplosion am Unfallort aus?) und von Abläufen. Beispiel: Um 11.15 Uhr an diesem Donnerstag kann der Mann in der zweiten Reihe der Abgeordnetenbänke die Nervosität einen Augenblick lang nicht mehr verbergen. Er faltet die Hände, löst sie wieder, greift in die linke Brusttasche, nimmt einen Kugelschreiber, schlägt den vor ihm liegenden gelben Aktendeckel auf, als wolle er schnell die Zahlen notieren, die in diesem Moment durch die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Annemarie Renger, bekanntgegeben werden. Er notiert sie nicht, steckt das Schreibgerät zurück in die Tasche, kann gerade noch rechtzeitig wieder die Hände falten, den Kopf senken - da hebt der Beifall an. Die Mehrheit des Hauses applaudiert dem neuen Bundeskanzler. Die Kunst, mit der Martin E. Süskind37 die Wahl von Helmut Schmidt schildert, lässt sich, wenn überhaupt, nur in langer Zeit und bei viel Übung erlernen. Eine Reportage wie die über das eingestürzte Haus aber müsste jeder Journalist am Ende seiner Ausbildung schreiben können. Abgesehen von der Brillanz, mit der Süskind seine Beobachtungen aneinanderreiht, bedient auch er sich jener erlernbaren Regeln, von denen einige wichtige bereits im Kapitel »Verständlichkeit« vorgestellt wurden; bei Süskind sind dies die Regeln 1, 2, 3,8,9,10,11,12,14,15,17. 142 Wettere Informierende Darstellungsformen Reportage 143 Verkürzen Sie Eindrücke nicht auf Schlussfolgerungen: Das Haus in Schwabing bietet ein erschütterndes Bild, sondern liefern Sie die Fakten, aufgrund derer der Leser, Hörer oder Zuschauer zu einer eigenen (wahrscheinlich mit der des Reporters übereinstimmenden) Schlussfolgerung kommen kann: 7 Uhr 18 zeigt die weißlackierte Küchenuhr, die unter den Gesteinstrümmern auf der Straße liegt... Also nicht: Der Conferencier zündete ein Feuerwerk der guten Laune. Beschreiben Sie lieber, was der Conferencier auf der Buhne macht, wie und worauf sein Publikum reagiert; vielleicht zitieren Sie sogar einen besonders erfolgreichen Kalauer. Lassen Sie rüe Menschen zu Wort kommen. Aus einer Reportage38 vom Gottesdienst anlässlich des Festes des heiligen Franz von Assisi, zu dem die Kinder des Viertels um St. Agnes in Köln ihre Tiere {200 lebende, etwa 100 Stofftiere) in die Kirche mitbringen durften: »Guck mal, wie schnell mein Kaninchen lauft«, sagt Andreas zum Kaplan Ulrich Katzenbach. »Fühl mal, was mein Hamster für ein weiches Fell hat«, sagt Jörg Szymanski zum Kaplan Gerhard Dane... Bevor der Kaplan die Legende des hl. Franziskus und einen Auszug aus der Vogelpredigt vorliest, berichten die Kinder am Altar über ihre Tiere. Etwa Ursula vierkötter über ihren »Mischhund Purzel*: »Er frisst in der Woche zwei Pfund Pansen, ein Pfund Haferflocken, ein Pfund Herz, Reis, und das bezahlt alles meine Mutter.« Der Reportage-Anfang: Ein Schulautsafe beginnt mit dem Allgemeinen und führt dann zum Besonderen weiten In A-Stadt leben 4000 Türken. Achmed T. ist einer von ihnen. Die Reportage beginnt mit dem Besonderen und leitet dann zum Allgemeinen üben Achmed T. kennt beim Aus1anderamt sogar schon den Hausmeister, so oft war er da... Achmed T. ist einer von den 4 000 Türken, die in A-Stadt leben. Der Reportage-Aufbau: Anders als Nachricht und Bericht ist die Reportage nicht »hierarchisch-, sondern »dramaturgisch* aufgebaut {Wolf Schneider39). Sie wird also nicht nach dem Prinzip abnehmender Wichtigkeit gegliedert, sondern in der Abfolge der Szenen so, dass auch in der Mitte und am Schluss noch Höhepunkte kommen. Der Reportage-Schluss bestimmt mit den Gesamteindruck. Rinnt die Reportage einfach aus oder hat sie einen gestalteten Schluss, vielleicht sogar eine in den Fakten steckende Pointe? Ein Reporter hatte drei Spalten lang beschrieben, wie sich im Stahlwerk Salzgitter ein von Gerhard Förster geleitetes Ergonomie-Zentrum erfolgreich darum bemüht, die Arbeitsplätze von Hitze, Lärm, Staub {oder Gestank), Dunkelheit (oder Blendung) und Erschütterung zu befreien. Seine Reportage schließt: oft allerdings wollen die Arbeiter von Försters Verbesserungen nichts wissen. Denn für Staub, Hitze und Lärm gibt es tarifliche Zulagen. Werden die Erschwernisse abgeschafft, entfallt die Zulage. Die Reportage ist weder Feuilleton noch Glosse. Aus einer dichtenden statt beschreibenden Prüfungsarbelt zum Thema »Fasching«: Lange noch grölten wir in Legion den tiefsinnigen Text gerade rechtzeitig produzierter Schlager. Der etwaige Witz in einer Reportage muss aus der dargestellten Sache, nicht aus dem darstellerischen Aufputz kommen. 144 Weitere informierende Darstellungsformen Feature 145 Die Reportage ist kein Kommentar und keine Abhandlung. Sie hat mehr mit der Anschauung als mit der Analyse zu tun, mehr mit Dingen als mit Begriffen. Die Reportage ist eine informierende Darstellungsform. Der Reporter führt den Leser oder Hörer durch die Reportage »vor Ort«; der Leser oder Hörer sieht die Dinge mit den Augen des Reporters. Auf diese Subjektjvierurig der Sinneseindrücke sollte sich der Einfluß des Subjektiven beschränken. Im Übrigen sollte sich der Reporter bei Recherche und Schilderung um Objektivität bemühen (vgl. Nachrichten-Kapitel »Objektivität«). Der Reporter darf sich selbst in der Reportage erwähnen: wie ich weitergehe, zupft mich jemand am Ärmel und flüstert... Das ehrliche »ich« für die Person des Reporters ist mir sympathischer als das pseudoobjektjvierende, angeblich Bescheidenheit ausdrückende »wir«. B vmerführende Literatur. Ulrich Fey/Hans- Joachim Schlüter, Ffeportagen schreiten. \Axi der Idee bis zum fertigen Text (2., aktueisterte und erweiterte Auflage, ZV Zeitungs-Verlag Service GmbH, Berön 2003) Michael Haler, Die Reportage. Bn Handbuch für Joumatsten (4. Auflage, ölschB-ger/UVK, Müx^en/Konstanz 1997} Feature Der Redakteur erhielt einen Hinweis: Fehlalarme automatischer Notrufmelder, zu Tausenden in Großstädten registriert, schwächen die Einsatzbereitschaft der Polizei. Der Redakteur mochte in einem Beitrag das Thema »Fehialarme automatischer Notrufmelder und ihre Auswirkungen auf die Einsatzbereitschaft der Poüzei« grundsätzlich behandeln und alle Überlegungen, Untersuchungsergebnisse und Statistiken einbeziehen, die es dazu gibt. Er bestellt ein Feature. Als der Spiegel40 das Thema brachte, begann er den Beitrag so: Schrilles Klingeln, am Nummernpult leuchtet's auf. In der Einsatzzentrale der Hamburger Polizei ist über direkten Draht ein Notruf von Alarmanschluß 3138 gekommen - eine Modeboutique in der Poststraße. Eine Minute später rasen Streifenwagen zum Tatort. Mit durchgeladenen Waffen in der Hand machen sich die Beamten auf die Jagd nach dem Täter. Die Ermittlungen ergeben: Es war eine Maus, die den Fehlalarm ausgelöst hatte. Bis hierher könnte das auch eine Reportage aus einer Hamburger Lokalzeitung sein. Der Beitrag geht weiter Allenthalben in westdeutschen Großstädten, die über ein Notrufnetz mit direkt geschalteten Alarmanlagen in Banken, Geschäften und Büros verfügen, klingelt oder piepst es täglich, gerät der Polizeiapparat in Bewegung, und am Ende ist außer Spesen nichts gewesen: Fehlalarm - das ist keineswegs Rarität, sondern die Regel . In Hamburg wurde im vergangenen Jahr 2493mal Fehlaiann registriert, nur 162mal war der Alarm regulär. In München: 2350mal blinder, 56mal echter Alarm; in Mannheim gar wurden neben 399 Falschmeldungen nur fünf echte Notrufe aufgefangen. Reportage oder Feature? Um das überzeugt entscheiden zu können, müssten wir den ganzen Spiegel-Beitrag kennen. Ich habe beim Weiteriesen folgende Stichworte notiert: Kosten pro Fehifahrt - Werbeslogans der Herstetier - Katalog des Angebots an Alarmanlagen - Übermittlungsweg von der Anlage zur Polizei - Gründe für die Zunahme der Fehlalarme - Gefahren für die Allgemeinheit, die solche Fehlaiarme mit sich bringen. Eine besonders umfassend angelegte Reportage, kann man sagen. Man kann den Bettrag aber auch Feature nennen, weil alles, was darin an Stories und Zitaten zusammengetragen ist, nur zur Illustration einer Analyse dient, die das eigentliche Gerüst des Beitrags bildet. Das Beispiel falscher Alarm ist ein Grenzfall zwischen Reportage und Feature; denn das Thema steckt schon von sich aus so