Felix Mitterer - "Tödliche Sünden" Leseprobe TRÄGHEIT Das Auge des Überdrüssigen starrt dauernd die Fenster an, und sein Geist stellt sich die Besucher vor. Die Tür knarrt, und jener springt auf. Er hört eine Stimme und spät durch die Fenster, und er geht von dort nicht weg, bis er, lahm geworden, sich setzt. (Fernsehstudio. Mann trägt den langen, schwarzen Mantel, sitzt auf einem Barhocker an einem erhöhten Tisch, auf dem ein Glas Wasser steht und eine automatische Schrotflinte liegt. Mann nimmt die Waffe an den passenden Stellen des Textes in die Hände. Mehrere Scheinwerfer sind auf den Mann gerichtet, der Rest des Raumes liegt im Dunkeln. Die Zuschauer erfahren erst am Schluß, um welchen Raum es sich handelt.) MANN: Das Rauchen schmeckt mir nicht mehr, das Trinken schmeckt mir nicht mehr, auch das Essen schmeckt mir nicht mehr, Sie können mir hinstellen, was Sie wollen. Soweit bin ich gekommen. Früher hab ich gern gegessen, getrunken und geraucht. Jetzt kann ich nichts mehr genießen. Nichts. Nichts. Die Satellitenschüssel hab ich heruntergeschossen. Hab mich durchgezappt, jahrelang, nächtelang, die ganzen Idioten, die durch die Gegend knallen und Autos zu Schrott fahren und ganze Häuserzeilen in die Luft blasen; diese blödsinnigen Talkshows mit ihren Sado-Maso-Freaks und den Proleten, die sich wegen Lappalien anschreien und prügeln; klar, manchmal holt man sich einen herunter, allein vorm Fernseher, aus dem die Brüste quellen; reicht dir dann auch, diese asymmetrischen Frauenleiber und Muskelprotze mit ihren bemühten Turnübungen, das Gefakte idiotisch und der Hardcore genauso. (S. 19) (Applaus. Mobiltelefon läutet, Frau schaltet Fernseher aus, nimmt das Telefon.) FRAU: Fairyland Hotline, Doris. - Hallo, Hans, du Arsch, gehst mir ganz schön auf den Wecker. Okay, hör zu. Einstmals hat ein Hausvater ein Schwein geschlachtet, das haben seine Kinder gesehen; als sie nun nachmittag spielen wollen, hat das eine Kind zum andern gesagt: "Du sollst das Schweinchen und ich der Metzger sein"; hat darauf ein bloß Messer genommen und es seinem Brüderchen in den Hals gestochen. (Stöhnen aus dem Hörer.) Warte, warte, laß dir Zeit, Hans, die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Die Mutter, welche oben in der Stube saß und ihr jüngstes Kindlein in einem Zuber badete ... - Ja, ich komm und bade dich, Hans, ich will dein Metzger sein, (steht auf und geht herum) Hans, aber ... - Hans, hör zu, die Geschichte geht noch weiter. Die Mutter also hörte das Schreien ihres anderen Kindes, lief alsbald hinunter, und als sie sah, was vorgegangen, zog sie das Messer dem Kind aus dem Hals und stieß es im Zorn dem andern Kind, welches der Metzger gewesen, ins Herz. (Stöhnen) Ja, Hans, ja, Hans. Und nun gute Nacht, Hans, bis morgen, erinnere dich, deine Frau beklagt sich über die hohe Telefonrechnung. - Du bist in der Firma, Hans, das ist klug. Oder auch nicht, du Idiot, was ist, wenn sie die Nummern kontrollieren? - Im Chefbüro bist du, du raffiniertes Luder? - Okay, Hans, so will ich dir die Geschichte zu Ende erzählen. Darauf lief die Mutter alsbald nach der Stube und wollte sehen, was ihr Kind in dem Badezuber mache, aber es war unterdessen in dem Bad ertrunken; (Stöhnen) deswegen die Frau so voller Angst ward, daß sie in Verzweiflung geriet und sich selbst erhängte. - Nein, Hans, ich verachte dich wirklich, Hans, abgrundtief, Hans. - Nein, es ist nicht gespielt, bei dir nicht, Hans, bei vielen anderen ja, die nur das eine wollen, Hans, aber du willst den Abgrund, Hans, den Haß, Hans, das ist so geil, Hans, laß dir weitererzählen. (Setzt sich.) (S. 37) © 1999, Haymon, Innsbruck. Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.