Leo Perutz Nachts unter der steinernen Brücke dtv 2002 269 Seiten ISBN: 3423130253 € 9,50 [D] Von Richard Niedermeier am 28.04.2003 Den Himmel auf die Erde geholt Es sind schon einige Bücher geschrieben worden, die es dem Leser überlassen, aus mehr oder weniger fragmentarischen Mitteilungen ein Ganzes zusammenzusetzen; aber wohl keines von denen kommt auch nur annähernd an Leo Perutz’ Roman „Nachts unter der steinernen Brücke“ heran. Denn was bei anderen ein Zeichen für die Unreife oder gar das Unvermögen des Autors ist, zeugt bei Perutz von höchster literarischer Qualität: unsere vertrauten Handlungsschemata eines zeitlich progressiven Verlaufs einer Geschichte radikal zu durchbrechen und statt eines Anfanges und eines Endes eine Mitte zu setzen, um die herum alles andere gruppiert ist. Diese Mitte ist die unmögliche Liebe zwischen dem in Prag residierenden Habsburger Kaiser Rudolf II und der jungen Esther, der Frau des reichen jüdischen Kaufmannes und Bankiers Mordechai Meisl. Es sind 14 Novellen, die hier erzählt werden, und alle haben, obwohl sie in sich abgeschlossen sind, mehr oder weniger mit einer dieser Personen, Rudolf, Mordechai und Ester, zu tun. Doch Vorsicht, wer sich hier einen akribisch um den Sachverhalt einer verbotenen Liebe kreisenden historischen Roman vorstellen möchte! Historisch sind zwar die zentralen Figuren: Rudolf, Mordechai Meisl und der ebenfalls als Protagonist gesetzte Hohe Rabbi Löw; historisch sind auch der astrologiebesessene Wallenstein sowie die Entourage des Herrschers, soweit sie von Stand ist bzw. bedeutende Hoffunktionen ausübt. Aber es ist doch eine ganz andere Geschichte, eine Geschichte gleichsam „von unten“, zudem angereichert mit Mythen und Legenden, die hier vorgetragen wird. Denn unter der Steinernen Brücke Prags finden wir auch eine ganz andere Welt, die nicht nur ins Dunkel enger Gassen getaucht ist, sondern uns Aufgeklärte und Lichtverwöhnte im Dunkel mythologischer Vorstellungen tappen läßt. Es ist die Gedankenwelt der jüdischen Kabbala, die hier zuhause ist, wonach Esther stirbt, weil der Hohe Rabbi Löw, von dem die Legende sagt, er habe auch den unheimlichen Golem geschaffen, es so verfügt hat, um Gottes Strafgericht von der durch Esthers Ehebruch mitbetroffenen jüdischen Gemeinde zu nehmen. Himmlische Gewalten und Engel spielen da in die Menschenwelt hinein, deren Name allein schon mit dem Zwielichten okkulten Wissens behaftet ist. Phantastische Erzählungen also, wie wir sie auch von Gustav Meyrink kennen, der mit seinen an E.T.A. Hoffmann gemahnenden Geschichten aus Prag ein Vorbild für Perutz war. Doch würde man den Sinn dieser Erzählungen gänzlich mißverstehen, wenn man sie auf das Niveau einer altertümlichen Fantasy-Story herabzöge. Sie haben ihren Quellgrund nämlich nicht im Erschrecken, im Schaudern vor dem Unheimlichen und dem ewig Unverfügbaren, sondern in einer sehr subtilen Liebespoesie, die nicht nur mit abstrakten sozialen Verhältnissen, etwa dem Graben zwischen Juden und Christen, zwischen Arm und Reich, zwischen Herrscher und Beherrschten, sondern auch mit den Mentalitäten und Biographien der einzelnen Personen kontrastiert. Die Liebe zwischen Rudolf und der schönen Esther sprengt jede von der Legende zugestandene Realität, da sie sich nur mehr symbolisch in den Blüten einer Rose und eines Rosmarins, die sich nächtens umschlungen halten, und in den Träumen des Kaisers und der Jüdin verwirklicht. So ist die Fiktion noch einmal übersteigert, auf eine Höhe getrieben, um die selbst die Engel die Menschen beneiden. Doch nicht nur die Engel verstehen das Geheimnis menschlicher Liebe nicht; unter den Menschen selbst hat es keinen Raum. Rudolf ist alles andere als ein Lyriker der Liebe: geizig, herrschsüchtig, abergläubisch. So wird er – durch das Einfallstor seiner Melancholie - von dieser Liebe eher wie von einer fremden Macht ergriffen, als daß sie eine Tat seiner Person wäre. Und dann gibt es da noch die vielen, ebenso unverständigen Randfiguren dieses Liebesmysteriums, volle, ganz prosaische und meist sehr skurrile Charaktere, in denen die vielen zu Wort kommen, die die Historikerzunft zur Zeit eines Leo Perutz schlichtweg übersehen hat: der Ofenfeger und Hofnarr Brouza z.B., der sich für sein karges Auskommen vom Kaiser malträtieren läßt, ein aufrechter Charakter allerdings, mit Witz und einer Weisheit, die manchmal nicht sehr hoch über dem tierischen Lebensinstinkt steht. Solche Typen wie er hauchen der Erinnerung an das alte Prag überhaupt erst Leben ein, und man möchte so manchem der vielen verunglückten historischen Romane nur ein wenig von diesem Farbenreichtum wünschen oder anders gesagt: Nach der Lektüre dieses Buches weiß man, warum selbst ein so begnadeter Schriftsteller wie Perutz mehr als 20 Jahre bis zur Vollendung dieses Romans gebraucht hat. Aber diese Personen sind noch aus einem anderen Blickwinkel zu lesen, eben aus dem der Kabbala, die ja nichts anderes ist als eine Form jüdischer Gnosis, welche in der Tat zur Zeit Rudolfs in Prag sehr im Schwange war. Legt man das gnostische Weltschema an diesen Roman an, dann verkörpern die Menschen darin jene unerlöste Erdenschwere, die dem Lichtwesen Engel unbegreifbar bleibt: „Ihr Menschenkinder..., gar arm und voll von Kümmernissen ist Euer Leben. Warum beschwert Ihr es mit der Liebe, die Euch den Sinn verstört und Eure Herzen elend macht?“ Leidenschaftliche Liebe contra reine Erkenntnis – eines der großen Menschheitsthemen. Versöhnt wird dieser Zwiespalt nicht, auch wenn Perutz zwei Tränen aus den Augen des sich an seine ferne Jugend erinnernden Engel fallen läßt. Aber soll er denn überhaupt versöhnt werden? „Ich kenne alles. Alles, nur nicht mich“, so überschreibt Ulrike Siebauer ihre jüngst erschienene Perutz-Biographie. Auf seine eigene Person bezogen markiert Perutz in diesem Satz Möglichkeiten und Grenzen seines Erkennens. Im „ich kenne alles“ formuliert er das gnostische Ideal, das dann in der fehlenden Selbsterkenntnis radikal destruiert wird. „Nachts unter der steinernen Brücke“ stellt eine Art Stufenleiter dar, auf der der nach sich selbst Suchende auf- und absteigt, gleichsam alle Möglichkeiten des Menschseins auslotend. Was aber das eigentlich Menschliche ausmacht, das faszinierende Geheimnis seines Lebens hat nichts mit dem Aufstieg des Menschen nach oben zu tun; es ist dieser selbst Klassen- und Rassengegensätze einschmelzende Brand des Herzens, den wir mit dem abgegriffenen Wort „Liebe“ benennen. Sie allein verleiht dem Menschsein einen ihm eigenen Höhenflug, der nicht in den reinen Gefilden des Engels endet, sondern mit der materiellen Basis des Lebens verbunden bleibt. Perutz hat in seinem Roman den Himmel auf die Erde geholt und vielleicht gerade so auf die Frage nach der Identität des Menschen als eines Wesens zwischen Dunkel und Licht, zwischen Materie und Geist eine Antwort – seine Antwort – gegeben.