Eva Menasse: Lässliche Todsünden Der Herrgott wird’s schon richten Standes- und landestypische Gestörtheiten unter Wiener Intellektuellen: Mit „Lässliche Todsünden“ hat Eva Menasse einen scharfsichtigen Erzählband geschrieben. Ihre nervösen Charaktere und Neurotiker sind echte Wiener Würstchen. Von Martin Halter Eva Menasse: Lässliche Todsünden 13. November 2009 Todsünden sind nach katholischer Lehre schwere, willentlich und wissentlich begangene Verfehlungen, die mit ewiger Verdammnis geahndet werden; auf lässliche Sünden steht nur das Fegefeuer als Strafe. Lässliche Todsünden sind also schwarze Schimmel, ein Oxymoron, und paradoxe Figuren sind auch die armen Sünder Eva Menasses. Weder für Todsünden noch für Ehrenrunden in der Vorhölle geschaffen, verwirken sie mit ihren kleinen, ohne Vorsatz und Not begangenen Fauxpas ihr irdisches Seelenheil. Die Strafe kommt nicht aus heiterem Himmel: Als Intellektuelle und Österreicher sind sie nachlässig und kommod ironisch bis zur Abstumpfung. Über ihre Dummheiten, ihr schlampiges Gefühlsleben, ihre kaputten Beziehungen und Familien trägt sie ein gewisser „Opferstolz“ hinweg, der leicht mit Herzensträgheit oder Hochmut zu verwechseln ist. Gott ist natürlich tot, aber der Herrgott wird’s schon richten. Wenn man ihn einen guten Mann sein lässt, darf man schon mal Frau, Kinder, Freunde oder auch sich selbst betrügen. Für die Wölfe, „Leitzicken“ und Streithammel des Wiener Kulturbetriebs – Professoren, Journalisten, Künstler, smarte Unternehmer, abgebrühte Politiker, allesamt mit Patchwork-Familien, Teilzeitgeliebten, gebrochenen Biographien und fragmentarischem Wertekanon ausgestattet – gibt es weder Tragödien noch Todsünden. Alles ist erlaubt und lässlich, solange es nur standesgemäß und stilvoll, nicht zu spießig und nicht zu extravagant ist: Ehebruch, Arroganz, Gefühlskälte, Verrat, kleine Bosheiten, Intrigen und fiese Psychotricks. Hauptsache lax und links Für das Betroffenheits- und „Wohlstandsgerede von Traumatisierung und innerer Bearbeitung“ haben die beruflich und sexuell hochtourig drehenden Freigeister nur Hohn übrig. Sie wollen ja nur spielen. Bloß nicht jammern oder sentimental werden, Blößen zeigen oder Verantwortung übernehmen. Selbstironische Laxheit und Lässigkeit im Angesicht tödlichen Ernstes gehört zum guten Ton unter den arrivierten linken Melancholikern, jedenfalls in Wien; so werden selbst schwere Sinn- und Beziehungskrisen, Müdigkeit und Trauer blasiert verdrängt und charmant weggewitzelt. Aber höhnische Distanz macht auf die Dauer auch einsam und verbittert, und eitle Selbstbetrachtung noch beim Kontrollverlust und Scheitern hinterlässt ein schales Gefühl. Ein überentwickeltes „Distinktionsorgan“ für Peinlichkeit und Kitsch wirkt manchmal so lähmend wie ein amputiertes Bein oder ein fehlendes Herz. In „Trägheit“ zieht ein müder Frauenheld nach seiner Scheidung erst in eine Männer-WG und dann zu seinen Töchtern: Überall ist es bequemer als bei der starken, neurotischen Frau zu Hause oder der schwachen, infantilen Geliebten. In „Gefräßigkeit“ wird die junge, naive Martine von ihrer Lehrerin und großen Liebe bitter enttäuscht: Die taffe Fiona behandelt sie wie eine dumme Schülerin und demütigt sie wegen eines Stückchens Käse. Cajou, Zyniker aus altem Geschlecht, heiratet, der exaltierten Boheme-Luder und anstrengenden „Lebensmenschen“ überdrüssig, ein hochadliges Dummchen mit festen katholischen Grundsätzen. Für Marie-Therese nimmt er sogar eine „Ehevorbereitung inklusive Bibellektüre“ und die landes- und „standestypischen Gestörtheiten“ einer antisemitisch-reaktionären Familie auf sich, aber auf der Mesalliance des Décadents liegt auch kein Segen. „Er war nie ganz bei sich, ein Teil war immer woanders, auf einem ironischen Beobachterposten“, und daran scheitert letztlich auch seine hochmütige Selbstkasteiung. Verwaiste Feuchtgebiete In „Wollust“, der vielleicht besten Erzählung, lässt sich Rument von den multiplen Allergien und der Hygienehysterie seiner Geliebten zum Eunuchen degradieren. Weil sie überall Scheidenpilze, Urinübersäuerung und Nickelallergien spürt, trägt er ihr Blasentee und Apfelessig ans Bett, fährt sie ins Spital und zur Kräuterhexe und verzichtet sogar auf Sex. Aber weder mit Gewalt noch auf die sanfte Tour dringt er in die verwaisten Feuchtgebiete vor: Ohne „Beischlafoption“ ist er nur noch ein kastrierter Krankenpfleger, ein „unklar verletzter, missgelaunter Troll“, der seine schmutzigen Phantasien mit kalten Duschen und aufgeschäumtem Cappuccino in Schach halten muss. Nora, freie Kulturjournalistin mit jüdischen Wurzeln (und wohl auch ein Selbstporträt der Autorin), blamierte sich am Anfang ihrer Karriere bei einem Interview mit Josef Tolomei, einer Größe in der Wiener Kulturmafia. Aus Scham und Schwäche fordert sie kein Honorar, als er sie Jahrzehnte später um eine Gefälligkeit bittet; schließlich geht es um eine „gute Sache“ und gegen den Sheriff, einen feschen braunen Politiker vom Schlage Jörg Haiders. Der knausrige Tolomei stürzt dann doch über eine Intrige seiner Parteifreunde, aber Nora kann keine Genugtuung über ihren Sieg empfinden. Der Stich mit der „Nazi-Karte“ war zu billig. Ihren Freund, einen Berliner Piefke, macht dieses verschämte Gekungel und Gekabbel fassungslos und wütend. Mütter kurz vor der Marktuntauglichkeit Die Erzählung steht für die Sünde der Habgier. So diskret und beiläufig wie hier das delikate Motiv des jüdischen Materialismus werden auch die anderen Todsünden verhandelt. „Das Wenigste ist einfach, eigentlich fast nichts, und nie das Interessante.“ Menasse seziert komplizierte Beziehungsgeflechte mit sprachlicher und psychologischer Raffinesse, mit diskreten Andeutungen, Rückblenden und Querverweisen so subtil und virtuos, dass man die Struktur und den dramatischen Kern ihrer Erzählungen oft erst beim zweiten oder dritten Lesen begreift. Das liegt auch an einem unterkühlten, fast hochmütigen Ton und ruppigen Sarkasmen wie „Mütter kurz vor der Marktuntauglichkeit“ oder „dieses Herz auf Beinen, das sich rührenderweise für eine schizophrene Zynikerin hält“. Nicht nur stilistisch steht Menasse in der Tradition der Wiener Moderne; auch ihre nervösen Charaktere und Neurotiker sind echte Wiener Würstchen. Freuds „weibliche Hysterie“, die süßen Mädel Schnitzlers und Musils „Mann ohne Eigenschaften“ heißen heute anders und sind auch längst nicht mehr geschlechtsspezifisch zuzuordnen. Die Klassengegensätze, die bürgerliche Sexualmoral, die ethnischen und intellektuellen Distinktionen Kakaniens haben sich in feinen Unterschieden aufgelöst. Geblieben ist, gerade in den gebildeten und emanzipierten Ständen, eine Melange aus hochmütigem Dünkel, lächelndem Schmäh und aufreizender moralischer Indolenz. Nach ihrem großen Familienepos „Vienna“ zeigt Eva Menasse, dass sie auch die Laster und Sitten, Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten der neueren Wiener Intelligenz scharfsichtig und gnadenlos beschreiben kann. Eva Menasse: „Lässliche Todsünden“. Erzählungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 253 S., geb., 18,95 €. Buchtitel: Lässliche Todsünden Buchautor: Menasse, Eva Text: F.A.Z. Bildmaterial: Verlag