DiePresse.com | Spectrum | Literatur | Artikel drucken Lust, Laster & Co. 28.08.2009 | 18:25 | Von Christoph Bartmann (Die Presse) „Lässlicher Todsünden“ nimmt sich Eva Menasse in ihrem neuen Erzählungsband an: lässlich deshalb, weil sie die Todsünden in den Bezirk der kleinen bürgerlichen Verfehlungen überführen. Was ist eigentlich aus der guten alten Sünde geworden? Aus der Sünde, auf die, wie auf ihr irdisches Gegenstück, das Verbrechen, eine Strafe stand: die „Verdammnis“ und im schlimmsten Fall, bei den sogenannten Todsünden, die „ewige“? So wie die bürgerliche Rechtsprechung zwischen Vergehen und Verbrechen unterscheidet, so kennt die christliche Lebens- und Glaubenslehre den Unterschied zwischen „lässlichen“ und „Todsünden“. Lässliche Sünden sind diejenigen, für die es mildernde Umstände gibt: Der Tatbestand als solcher ist nicht wichtig, das Wissen um das Böse der Tat ist beschränkt, und Gleiches gilt für den freien Willen. Für solche Sünden gibt es befristete Strafen (im „Fegefeuer“ und bei guter Führung auch den „vollkommenen Ablass“). „Eine lässliche Sünde lässt sich durch die Gnade Gottes menschlich wiedergutmachen“, lesen wir im Katechismus der katholischen Kirche aus dem Jahre 2003. Anders die im selben Katechismus aufgeführten uralten sieben Tod- oder Hauptsünden namens „Stolz“, „Habsucht“, „Neid“, „Zorn“, „Unkeuschheit“, „Unmäßigkeit“ und „Trägheit“. „Falls sie nicht bereut wird“, so der derzeit gültige Katechismus, zieht die Todsünde „den ewigen Tod in der Hölle nach sich.“ Man sieht erstens: Die Grenze zwischen lässlicher und Todsünde ist unscharf. Und zweitens: Was Todsünde genannt wird, ist nicht das schwere Verbrechen (Mord etwa ist keine Todsünde), sondern eher ein „Laster“, das im Alltag niederzuhalten wir unsere Last haben. Dass nur noch wenige von uns in der Furcht der Herrn und seiner Höllenstrafen leben, macht die Sache leichter und schwerer zugleich. Alle Sünden sind jetzt Sünden an uns selbst, und unsere Laster sind nicht mehr durch Ablass- und Bußübungen aus der Welt zu schaffen, sondern nur noch durch tätige Arbeit am eigenen Geist und Körper. Wo die Buße war, steht jetzt die Therapie, und wo die Angst vor der Hölle herrschte, finden wir nun die Angst des Subjekts vor der eigenen Disziplinlosigkeit. Alle unsere Sünden sind lässlich geworden, das heißt, wir könnten sie lassen, wenn wir nur wollten. Aber das Fleisch ist bekanntlich schwach. Mir ihrem Erzählungsband „Lässliche Todsünden“ begibt sich die 1970 in Wien geborene und heute in Berlin lebende Eva Menasse in ein Gelände, das theologische und kulturelle Fragen en masse aufwirft. Von Dante bis David Fincher und von Hieronymus Bosch bis zu Bertolt Brecht und Kurt Weill haben sich Künstler mit dem Kanon unserer Laster auseinandergesetzt. Von der Drastik früherer Darstellungen heben sich diese Erzählungen vor allem dadurch ab, dass sie die Todsünden vollständig in den Bezirk der kleinen bürgerlichen Verfehlungen und Versäumnisse überführen. Die hier geschilderten Sünden sind „lässlich“, weil ihnen keine Verdammnis folgt, sondern allenfalls verpasste Gelegenheiten und versäumte Lebenschancen. Auch das kann, im modernen, psychologischen Verständnis, eine Sünde sein, ja vielleicht die schlimmste aller Sünden. Die Trägheit zum Beispiel, Thema der ersten von sieben, miteinander nach Figuren und Schauplätzen verwobenen Erzählungen. Fritz, ein mäßig glücklich verheirateter Mann, den seine Frau Karin gern der Trägheit bezichtigt, hat in einer Bar eine Frau namens Hilda kennengelernt und mit ihr eine Affäre angefangen. Bald schon kommt es zwischen Fritz und Karin zur Trennung, aber während ihm die neue DiePresse.com http://diepresse.com/home/spectrum/literatur/504722/print.do 1 von 2 06.09.2010 23:06 Freundin zunehmend auf die Nerven geht, kommt es im Umgang mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern zu einer neuen, patchworkmäßigen Vertrautheit: „Fast war alles wie früher, und er konnte sich einer gewissen Sentimentalität nicht erwehren.“ Will er nun abends lieber wilden Sex mit Hilde oder seinen halbwüchsigen Töchtern ein verständnisvoller Vater sein? Am Ende geht es ohne Karin und ohne Hilde, aber dafür zieht Fritz ohne Frau zu den Kindern zurück. „Und jetzt bleibt Papa für immer“, hatte ihm das jüngste der Kinder zugekräht, als er mit den Umzugskartons im vierten Stock angekommen war. Was ist nun an Fritz' Verhalten auf eine lässliche Todsünde namens Trägheit zurückzuführen und wäre die Quintessenz dieser moralischen Erzählung (die uns ja nicht bloß als Geschichte von Fritz und Karin, sondern eben als moralische Erzählung dargeboten wird)? Was ist träge oder gar sündhaft träge an Fritz' Verhalten? Das Hilda-Ereignis erweist sich, was abzusehen war, als nur bedingt alltagstauglich, die Fortsetzung einer ermüdeten Ehe ebenfalls. Was bleibt und was in Fritz eine gewisse moralische Selbstachtung befördert, ist die Pflege des eigenen Nachwuchses, was spätere und vielleicht alltagstauglichere Liebesgeschichten nicht ausschließt. Im Grunde handelt Menasses kleine Erzählung also gar nicht von einer Todsünde namens Trägheit, sondern von einer einigermaßen banalen Güterabwägung im Alltag. Hieße die Erzählung nicht „Trägheit“, wäre sie nicht besser und nicht schlechter und würde uns überdies die Enttäuschung über die selbst gestellte, aber nicht eingelöste Aufgabe ersparen. Ähnlich verhält es sich auch mit den übrigen sechs Erzählungen: Der hübsche, wenngleich nicht neue Einfall mit den sieben Todsünden wird nicht wirklich an den Figuren und ihren jeweiligen „Lastern“ durchgeführt. Man kann eine Geschichte „Gefräßigkeit“ nennen und dann von einer komplizierten Liebesbeziehung zwischen einem jungen Mädchen und seiner Französischlehrerin erzählen, aber wer hier weshalb und mit welchen Konsequenzen gefräßig ist und was für eine Art Verfehlung solche Gefräßigkeit darstellt, bleibt offen. Ihrer Bauart nach und in der Art und Weise, wie sie sich in einer gewissen technischen Versiertheit erschöpfen, erinnern diese Geschichten ein wenig an Daniel Kehlmanns „Ruhm“, wo man ebenfalls über raffinierte Korrespondenzen staunen soll und doch nie herausfindet, was den Autor an seinem Thema eigentlich interessiert. Diese Geschichten sind auf eine eigenartige und enttäuschende Weise geheimnislos – vor allem, weil sie die Arbeit an bestimmten Themen und Motiven versprechen, ohne das Versprechen einzulösen. Zum Geheimnislosen trägt eine Sprache bei, die für alles Worte findet, aber nur Worte, die man im günstigsten Falle „gewandt“ nennen würde: „Ilka flutet ihr Gefühlschaos mit wohlfeilem Zorn.“ Oder: „Das Schöne an der Jugend waren ja diese großen, durch keine Erfahrung gemilderten Gefühle. Oder: „So war Martine, damals: Der kurze Blick auf ein bisschen Mull und Leukoplast in Fionas Leistengegend beendete ihr Nachdenken, anstatt es in Gang zu setzen, wie Fiona es sich gewünscht hätte.“ Vielleicht gehört diese Art Ausgebufftheit ja selbst zu den lässlichen Todsünden. ■ © DiePresse.com DiePresse.com http://diepresse.com/home/spectrum/literatur/504722/print.do 2 von 2 06.09.2010 23:06