Kein einziger bewusster Sünder weit und breit: Eva Menasse. EVA MENASSE Schauspieler ohne Text 11. September 2009, 17:27 Sind wir alle Sünder? In Eva Menasses "Lässlichen Todsünden" irrlichtern leidende, schwache Menschen durch das Leben Hochmut. Neid und Habgier. Zorn, Trägheit und Völlerei. Und Wollust. Anders gesagt: die sieben Todsünden. Einst wurden diese Begriffe als Warnung ins Feld geführt, ging es doch entweder ums ewige Seelenheil oder um die apokalyptische Verdammung im Jenseits. Im Gegensatz zu den Zehn Geboten, die die interne Organisation einer Gemeinschaft begütigend und regulierend ordneten, zielten die Todsünden ins Innere des Menschen. Ist aber dieser Lasterkatalog nicht antiquiert? Ein Auslaufmodell? Zumindest eine erstaunliche Wandlung hat er mittlerweile erfahren. Was früher als Verfehlung galt, erscheint heutzutage als Ausdruck der Selbstverwirklichung. Und der Psychohygiene. Aus Sünden sind zeitgenössische Tugenden geworden. Habgier ist Treibstoff des Kapitalismus. Wollust wird für einen ausgeglichenen Hormonhaushalt empfohlen. Zorn liefert das nötige Testosteron, um im Wettbewerb zu bestehen. Hochmut ist gesunder Egoismus. Und Völlerei, und deren Gegenteil: Schlankheitswahn, ist eine Wachstumsindustrie mit tausenden von Arbeitsplätzen. Was aber sind lässliche Todsünden? So heißt Eva Menasses Band, der ohne Genrebezeichnung daherkommt und sieben sich aufeinander beziehende Erzählungen enthält. Diese sind allesamt in Österreich angesiedelt, auch wenn die 1970 geborene Autorin, früher Journalistin und Kulturkorrespondentin in Wien, seit sechs Jahren in Berlin lebt. Kaleidoskopische Struktur Diese kaleidoskopische Struktur scheint in der aktuellen deutschsprachigen Literatur zum beliebten Muster zu werden. Auch Angelika Klüssendorf und Daniel Kehlmann legten ihre in diesem Frühjahr erschienenen Erzählbände Amateure und Ruhm so an. Aber weitaus gekonnter, artistischer, existenziell gefährdeter, und Kehlmann zudem ironisch unterfüttert. Denn so lockend die Uridee gewesen sein muss, Eva Menasse scheitert an der Ausführung. Da gibt es einen Mann, der sich zwischen Familie und Ausbruch nicht entscheiden kann, eine Siebzehnjährige, die unsicher ist, eine nervlich strapazierte Mutter dreier Kinder, die sich eine Affäre imaginiert, die Geschichte eines Paars, in dem er zum Pfleger und sie zur chronisch Kranken mutiert, einen Adligen, der sich unter seinem Stand erotisch verlustiert, und eine naive Fernsehjournalistin, die unwissentlich zum Instrument einer Politkampagne wird. Rollenprosa samt und sonders. Beziehungsweise: Menasse will Rollenprosa schreiben, alles aus der subjektiven, subjektiv eingeschränkten Sicht der Protagonisten erzählen. Unter denen sich kein einziger aktiver, bewusster Sünder findet. Vielmehr fühlen sie sich, wie es einmal heißt, wie "Schauspieler ohne Text" . Über eine Frau schreibt Menasse: "Ilka ist eine, die sich sogar beim Kontrollverlust in gewissem Ausmaß zuschauen kann." Und über den Adligen namens derStandard.at › ›Kultur Literatur Schauspieler ohne Text - Literatur - derStandard.at › Kultur http://derstandard.at/1252680424015/Eva-Menasse-Schauspieler-ohne-Text 1 von 2 06.09.2010 22:49 Cajou: "Er war nie ganz bei sich, ein Teil war immer woanders, auf einem ironischen Beobachterposten." Beobachter sind sie alle, auf die eine oder andere Weise, ironisch aber nie. Sie sind von sich selbst distanziert, sind leidende, schwache Existenzen. Sie leiden an einem entschiedenen Defizit gelebter Entschiedenheit. Kein Wunder, dass es lediglich in einer Geschichte, der letzten, Dialoge gibt. Ansonsten herrscht indirekte Rede vor. "Leidenschaftlich und liebevoll geht die Autorin mit ihren Figuren ins Gericht" , schreibt Me-nasses Verlag. Nichts könnte falscher sein. Denn das, woran es Menasses Prosa mangelt, sind Biegsamkeit und Einfühlungsvermögen, auch Raffinesse. Stattdessen schreibt sie umständlich und passagenweise fast bürokratisch. Es ist weder überzeugend noch realistisch, dass eine Siebzehnjährige so spricht und denkt wie die doppelt so alte dreifache Mutter oder wie die Journalistin mit mehr als 20-jähriger Berufserfahrung, die innerlich hin- und herlichtert. Stilistische Fallhöhe und Differenzierung fehlen gänzlich. Was die Personen treiben und was Menasse mit ihnen treibt, berührt kaum. Hinzu kommen sprachliche Schnitzer. Als Ilka, die Mutter, panisch wegläuft, endet die Passage hüftsteif so: "So bleibt die Erregungsblase, in der sie herumtappt, vorerst intakt." Der Text über die Wollust setzt mit folgender Stilblüte ein: "Rument schäumte gerade die Milch für Joanas Kaffee, da fiel ihm auf, dass er lange nicht mehr an Sex gedacht hatte." Auch auf windschief dräuende Bilder stößt man: "An einem Freitag im September, in der faulig kriechenden Dämmerung nach einem goldenen Herbsttag, war er schließlich fällig." Dass Eva Menasse, deren Erstlingsroman Vienna von 2005 sich gut verkaufte, auch anders kann, das beweist eine Passage wie die folgende, die an Elias Canettis grotesken Blick erinnert: "Er hatte ein überentwickeltes Gefühl für Peinlichkeit, das ihn geradezu lähmte. Er grüßte oft Menschen auf der Straße nicht, weil er sie früher sah und es ihm unangenehm war, sie aus ihrem unbeobachteten Gestiere zu reißen." Wurde Eva Menasse vielleicht vom Lektorat im Stich gelassen? Das wäre sündhaft; und keineswegs lässlich. (Alexander Kluy, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 12./13.09.2009) Eva Menasse, "Lässliche Todsünden." Roman. € 19,50 / 256 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2009 © derStandard.at GmbH 2010 Alle Rechte vorbehalten. Nutzung ausschließlich für den privaten Eigenbedarf. 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