LITERATUR VON: Michael Naumann 31.8.2009 - 19:02 Uhr EVAMENASSE Im Wiener Bestiarium Es gibt kein Glück, sagen Eva Menasses Geschichten. Aber es gibt das Glück, sie zu lesen Vor einigen Jahren tauchte eine neue literaturkritische Kategorie in den deutschen Feuilletons auf: Eine melancholische Autorin aus Berlin, Judith Hermann, treffe, so hieß es, den »Sound« ihrer Generation. Und in der Tat gibt es ja eine regionale Akustik in der Dichtung – zum Beispiel in den Büchern von Siegfried Lenz oder Uwe Johnson. Norddeutscher geht es nicht. Mit ihrem biografischen Familienroman, Vienna, hatte Eva Menasse schon im Titel keinen Hehl aus Herkunft und Schauplatz ihrer Protagonisten gemacht. In ihrem neuen Buch, Lässliche Todsünden, hören wir ein fernes Echo des klassischen »Sounds« von Karl Kraus und Robert Musil, von Thomas Bernhard oder Helmut Qualtinger und Elfriede Jelinek: Wer, wie Eva Menasse, im grell-ironischen Tonfall ihrer literarischen Vivisektionen in Wien zu hören, zu lesen und zu schreiben gelernt hat, ist gegen alle Sentimentalitäten von Liebe, Krankheit und Tod gefeit. Keine ihrer fabelhaft genauen sechs Kurzgeschichten, die hier versammelt sind, ist »zum Heulen schön«. Im Gegenteil, sie sind von Herzen böse und erzählen von den großgeschriebenen Enttäuschungen zufällig geschlossener Ehen, versehentlich gezeugter Kinder, grundlos dahintreibender Affären und sogenannter Amouren ohne Liebe. Dass sich hinter aller scheinbaren literarischen Erbarmungslosigkeit der Storys eine tiefe Traurigkeit verbirgt, gibt dem Buch einen verborgenen konservativen Kammerton. Auch das ist der bekannte »Sound«, den die bedeutende Literatur Österreichs seit mehr als einem Jahrhundert kennzeichnet – wer im prächtigen Wien mit entsprechender Empfindsamkeit aufwächst, lernt offensichtlich, mit dem Gefühl verlorener Größe umzugehen, aber auch die politischen und kulturellen Kompensationshandlungen zu durchschauen. Auch davon handelt Eva Menasses kompaktes Porträt ihrer eigenen Generation. Im Übrigen verhält sie sich in Liebesdingen, als wäre sie den Bühnenstücken Arthur Schnitzlers ins nächste Jahrhundert entkommen, also durchaus altmodisch. Eva Menasse ist eine junge Autorin, doch die Lebenserfahrung, die ihre Storys tränkt, könnte als Jahresbilanz eines erfolglosen Paarberaters missverstanden werden. Weil sie aber keinen Ratgebertext, sondern kristallklare Prosa schreibt über Eva Menasse: Im Wiener Bestiarium | Kultur | ZEIT ONLINE http://www.zeit.de/2009/36/L-B-Menasse-4-Fassung?page=all&print=true 1 von 3 06.09.2010 23:32 die Vergeblichkeit des sehnsuchtsvollen Miteinanders, wird ihr Buch gewiss nicht die Herz-und-Schmerz-Kundschaft unter den Leserinnen und Lesern beglücken. An der Spitze der Bestseller-Liste des Spiegels war jüngst wieder von »Glück« die Rede. Dabei ist doch Unglück, nehmen wir all die Verhaltenstherapeuten und Eheberater, die Kulturkritiker, den Aktienindex und den Papst beim Wort, die Signatur unserer Gegenwart. Eva Menasse ist ihre unbestechliche Chronistin. Unglück ist die Spezialität dieses Wiener Bestiariums, dessen Hauptdarsteller fast ausnahmslos in Restaurants oder Beiserln namens Blaubichler und Jakobinerwirt hausen, wenn sie nicht gerade aufs Land fahren oder in die Betten ihrer Freundinnen und Freunde kriechen: kraftlose Liebhaber, abgewiesene Ehemänner, Mütter in Aspik. Das ganze Elend bindungsfeindlicher Dozenten, Journalisten, Poeten, Künstler und »ausgewiesener Unterschichtenkenner« steht zur Ansicht in den sechs Storys bereit, und das Einzige, was fehlt, ist Hoffnung. Oder doch ein wenig Wehmut. Nichts da, sagt die Autorin, wir sind alle verloren. Trägheit, Gefräßigkeit, Wollust, Zorn, Hochmut und Habgier sind die Todsünden, die Eva Menasse ebenso kunstvoll wie unerbittlich am Beispiel ihrer Haupt- und Nebendarsteller vorführt – wobei zu hoffen ist, dass diese so lebensnah geschilderten Fritz, Martine, Fiona und ein adliger Carl Ludwig nicht allzu genau aus rachsüchtigen Geist- und Ungeistkreisen gegriffen sind. Und wenn schon – ihre seziermesserscharfe Sprache gewährte der Autorin im Notfall Asyl. Außerdem lebt sie seit sechs Jahren in Berlin, was auch einen Grund haben muss: Dort wartet weiterführendes Story-Material auf mitleidlose Protokollierung. Das ist Menasses Stärke. Bemerkenswert ist außerdem ihr schriftstellerischer Mut, mit der vertrödelte Lebensläufe nicht in Augenblicksminiaturen angedeutet, sondern in erfrischend glaubwürdigen Zeitsprüngen über Jahrzehnte hinweg verfolgt werden. Der träge Fritz zieht am Ende seines verpfuschten Lebens in seine alte Wohnung zurück, im Keller lauter Kisten voller Zeugnisse seiner Jugend, die er nicht mehr öffnen wird. Martine ist längst verheiratet und erinnert sich an einen Moment spontan aufwallender Liebe als 17-Jährige, den ihre verbitterte und verlassene Lehrerin Fiona nicht verstand. Rument (den wir in einer anderen Story als Kleinkind eines charismatischen Professors kennenlernen, der, wie nicht anders zu erwarten, frühzeitig ermattet), Rument also versucht vergeblich, seine eigene Frau zu verführen – eine gnadenlose Geschichte von realem Ehe-Elend. Ilka stiehlt sich aus ihrer Familie davon, um einen Einsiedler zu lieben, der sie aber ebenso wenig begreift wie ihre eigenen Kinder. Der feine Carl Ludwig heiratet standesgemäß das Dummerchen Marie-Therese, deren Gedanken »klar und einfach waren wie die der Urchristen«, um sie alsbald im Namen von »niveauvollem Sex« zu betrügen. Zu allem Überfluss gibt es Kinder, die bei Gelegenheit in sich hineinstarren »mit einem Gesicht wie eine geballte Faust«. Eva Menasse: Im Wiener Bestiarium | Kultur | ZEIT ONLINE http://www.zeit.de/2009/36/L-B-Menasse-4-Fassung?page=all&print=true 2 von 3 06.09.2010 23:32 Mehr zum Thema Robert Menasse Durch Mutters Jalousienbrille Schlagworte Literatur | Belletristik Es gehört zum Wesen fast aller Kurzgeschichten, dass ihre Inhalte früher oder später der Vergessenheit anheimfallen. Aber es gibt Ausnahmen, von Anton Tschechow über Ernest Hemingway zu Raymond Carver oder Deborah Eisenberg. Und merkwürdigerweise neigt sich unsere Erinnerung vorzugsweise den Geschichten des großen oder kleinen Unglücks zu. Warum das so ist, lassen Eva Menasses Storys erahnen. Literatur, so die Erwartung der Mehrzahl aller Leser, möge erheitern, ermutigen oder doch zumindest den Eindruck erwecken, dass das Elend der Welt lediglich zwischen zwei Buchdeckeln Platz findet, während das Leben in Wirklichkeit fröhlich weitergehe. Große Literatur kümmert sich aber nicht um diese Erwartung. Insofern sind Eva Menasses Kurzgeschichten große Literatur. Wer ihr viel Glück wünscht, müsste das Buch noch einmal lesen. Es gibt kein Glück, sagt die Autorin. Wahrscheinlich hat sie recht – sehen wir ab vom Glück der Lektüre (über das Unglück anderer Leute). QUELLE: DIE ZEIT, 27.08.2009 Nr. 36 ADRESSE: http://www.zeit.de/2009/36/L-B-Menasse-4-Fassung Eva Menasse: Im Wiener Bestiarium | Kultur | ZEIT ONLINE http://www.zeit.de/2009/36/L-B-Menasse-4-Fassung?page=all&print=true 3 von 3 06.09.2010 23:32