Die Liebe zur Hetz Mit einer feinen Goschn: Eva Menasses Familienroman "Vienna" 16. April 2005 Eva Menasses "Vienna" ist ja gar kein Roman, aber sie hat das Glück, daß ihre Familie (und wenn nur die Hälfte wirklich wahr wäre) so zusammenhält, daß sich ihre Geschichten unterderhand in einen Roman verwandeln, chaotisch und ordentlich zugleich. Eigentlich ist diese Wiener Familie, mit ihren Vorfahren im jüdischen Polen und im christlichen Mähren-Schlesien, nicht eben solidarisch, aber sie reden unaufhörlich mit- und übereinander, die Pointen zählen mehr als die Geschehnisse, und während die Türen auf und zu schlagen, weil immer einer das Zimmer beleidigt verläßt, sitzen sie dann wieder, mehr oder minder einträchtig, im Café Weisskopf oder, wie zu Arthur Schnitzlers Zeiten, im Tennisklub, als ob nichts geschehen wäre, und klatschen über die jeweils anderen. Zweiter Wiener Bezirk, so zwischen der Kleinen Sperlgasse und dem Donaukanal, aber nie provinziell, weil es die Erzählerin, als artige Kompositeurin, sehr gut versteht, ihre Schauplätze zu wechseln, denn Vater und Onkel wurden, als die Judengesetzgebung drohte, nach England transportiert, und der Onkel kämpfte sogar als britischer Soldat im burmesischen Dschungel. Ich habe mir dennoch erlaubt, einige Seiten gegen Ende zu überschlagen, um ungeduldig zu sehen, wie es ausgeht, aber in diesen Familien geht eben gar nichts aus, die Alten sterben, aber inzwischen sind die Vettern, Geschwister, Kinder und Kindeskinder herangewachsen und reden eifrig weiter oder zitieren einander mit Lust und Leidenschaft. Bei den Menasses geht "alles durcheinander", wie in einem guten Woody-Allen-Film. Der Großvater (jüdisch, aber in einer "gemischten" Ehe lebend) und der Vater haben es nicht darauf angelegt, dramatische Opferrollen zu spielen, und die Erzählerin, zwanzig Jahre nach Kriegsende geboren, sieht alles aus ihrer historischen Distanz und mit der gerade in dieser Familie notwendigen Selbstironie. Ihr kommt es nicht darauf an, die historischen Fakten festzunageln oder uns über halbvergessene Gesetzestexte aufzuklären. Sie zieht es lieber vor, ihren Vater zu zitieren, der immer von "Überschwangsarbeit" spricht, wenn er die Zwangsarbeit 1934/44 meint. Von einer tragischen Szene am Aspangbahnhof, von dem die Wiener Juden abtransportiert wurden, berichtet er lieber lakonisch, anstatt sie melodramatisch auszuspielen: Der Großvater, der ja nicht mitmuß, verabschiedet sich dort von seiner Mutter, fällt beim Aussteigen hin, bricht seine Knochen und will nie wieder mit der Eisenbahn fahren, "in Straßenbahnen schon, aber in Zügen nicht". Die Erzählerin nimmt ein beträchtliches Risiko auf sich, denn sie schreibt so, als ob sich Leser und Leserinnen, nach sechzig und mehr Jahren, an alle Einzelheiten der Nürnberger Gesetze erinnerten (ebendeshalb zitiert ihre italienische Verbündete Elsa Morante in ihrem Familienroman "La Storia" alle Rassengesetze im Anhang und auch noch den ebenso komplizierten Familienstammbaum dazu), und gestattet es ihrer Leserschaft, Juden endlich wieder als Komödienfiguren, mit einem bestimmten Hintergrund freilich, zu begreifen. Das Jüdische selbst steht in Frage; es ergibt sich, daß der Vater und seine Nachkommen gar keine Juden im strengen und religiösen Sinne der rabbinischen Halachah sind, denn dazu fehlt ihnen die jüdische Mama. Sie haben in der späteren Suche nach Identität ihre Schwierigkeiten, vor allem ihr Bruder, der berühmte Schriftsteller (eigentlich Halbbruder, aber wer setzte sich gerne dem Vorwurf der Familie aus, über diese Feinheiten wie ein pedantischer "Kleinbürger" urteilen zu wollen?). Jedenfalls fühlt sich der Bruder, der eben die Geschichte der Sephardim studiert hat und in einer Selbsthilfegruppe "Mischlinge 2000" hospitiert, geradezu zerschmettert, als ihm ein Experte auf den Kopf zusagt, er sei nur ein "Vierteljude". Nur seine vernünftigere Schwester will mit dem auf den Kopf gestellten Nachleben der Nürnberger Gesetze nichts zu tun haben. In dieser interessanten Familie, deren liebstes Vergnügen das "manische Mythologisieren" und das Bridgespiel bleibt, wimmelt es nur so von ungewöhnlichen Charakteren. Die Tochter erzählt von ihrem Vater und Großvater in ironischer Sympathie, von ihren Frauen aber mit deutlicherem und engagiertem Mitgefühl. Großvater war ein eleganter Weltmann und Spieler, privat und geschäftlich; der "harmoniesüchtige" Vater, noch von England her ein exzellenter Fußballspieler und nach seiner Rückkehr zuzeiten ein gefeiertes Mitglied der österreichischen Nationalmannschaft, gibt sich im Geschäftlichen mit einem Ramschladen für reisende Sportler aus den Ostblockstaaten zufrieden und provoziert seinen politisch energischen Sohn, der ihm vorwirft, den Sozialismus jener Länder zu unterminieren. Die Frauen schließlich, einschließlich Großmama, tragen die schwere Bürde alltäglicher Ehen mit ihren streunenden Gatten, "zischen" und "fauchen" oft, aber sie haben ihren Grund dazu. Die Tochter karikiert, wenn es darauf ankommt, die reiche Tante Gustl (Wien, Neunzehnter Bezirk, Döbling, zumindest am Rande) mit ihrem mißratenen Sohn Nandl, der ein wenig an Nino in Elsa Morantes "La Storia" erinnert, aber sie erschöpft sich nicht in Karikatur. Es ist unmöglich, an ihren wortlos rührenden Liebesgeschichten vorbeizulesen. Der greise Großvater will seine blutjunge burmesische Bedienerin Mimi, die immer zur Unzeit lacht, adoptieren, aber der Richter gestattet das nicht, weil der schon Verarmte nicht die finanzielle Verantwortung für Mimis Zukunft übernehmen kann, und eine achtzigjährige Fußpflegerin, die den Großvater stürmisch und schweigend geliebt hat - denn er kam zur Pediküre immer nur zu ihr ins Dianabad -, erscheint mit einem aufgebügelten Hut zu seiner Kremation und läßt sich dann von einem alten Mann zu einem Kaffee einladen. Sie ist in diesem Heimito-von-Doderer-Gewimmel eine der schönsten Gestalten, die man nicht so bald vergißt. Manchmal fährt wenigstens eine Straßenbahn vorbei, aber sonst fließen die Reden munter fort, im Chorus oder mindestens zu dritt. Eva Menasse geht auf außergewöhnlich gescheite Weise mit dem Wiener Idiom um, das ja seine eigene Klassen- und Bezirksstruktur besitzt, ungefähr wie die Sprecharten in "My Fair Lady". Wenn der Vater oder die Fußpflegerin wienerisch zu reden belieben, ist das noch lange nicht dasselbe. In Großvaters Frage "Bin i a Reh?" (wenn er spazierengehen soll) höre ich noch seine jüdische Mutter und die Wiener "Mazzesinsel" mit, aber wenn die Pedikeurin beteuert, den Großvater schon "fria" (früher) behandelt zu haben, klingt das eher nach Plebejischem Zehntem Bezirk. Die Familie liebt es zwar, Dolly Königsbergers ("ka Jud, aber a Bankdirektor") verrenkte Idiome zu wiederholen ("um den Preis fleischen"), aber mir sind Eva Menasses Meister- und Paradesätze lieber, in denen sie zwei oder drei Sprachen kombiniert. Nandls kriminelle Bandenfreunde nennt sie "coole Strizzis, die neben dem unanstrengenden Broterwerb vor allem die Hetz liebten". Es ist hilfreich, daß dem Roman ein kleiner Katalog folgt, in dem man Rätselhaftes nachschlagen darf: "Hetz" etwa ist gleich "Spaß" oder "Gaudi"; "Fetzenlaberl" dagegen ein behelfsmäßiger Fußball aus Lumpen, der ja in Papas Kindheit von Wichtigkeit war. Ich wünschte mir nur, Eva Menasse hätte dem Leser auch einen anderen Wiener Ausdruck dort nicht vorenthalten, der mit den Urteilen zu tun hat, die sie fällt. Ich meine das wienerische Wort "Goschn", und im philologischen Anhang könnte es dann heißen: "scharfe Zunge, außerordentliche Fähigkeit zu epigrammatischen Sentenzen, kluges Mundwerk". Kein Zweifel: Eva Menasse hat schon in ihrem ersten Roman eine Goschn von der feinsten, von der vergnüglichsten Art. Eva Menasse: "Vienna". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 428 S., geb., 19,90 [Euro]. Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.04.2005, Nr. 88 / Seite 50