Vienna Kein Schlüsselroman Es hätte seinen Reiz, Eva Menasses Familienchronik als Schlüsselroman über ihre prominente Familie zu lesen. Allerdings: Nichts wäre unangebrachter, als dieses imponierende Romandebüt ausschließlich nach Tratsch und Klatsch zu untersuchen. Natürlich, es hätte einen gewissen Reiz, Eva Menasses Familienchronik als g'schmackigen Schlüsselroman über die in Österreich nicht ganz unprominente Familie zu lesen, der die Autorin entstammt. Schließlich glaubt man das reale Vorbild des "Bruders" im Roman zu erkennen, der als progressiv-narzißtischer Kaffeehaus-Intellektueller von sich reden macht, auch von einem prominenten Fußballspieler, im Roman der "Vater" genannt, glaubt man dann und wann schon gehört zu haben. Allerdings: Nichts wäre unangebrachter als dieses imponierende Romandebüt ausschließlich unter Tratsch- und Klatsch-Auspizien zu rezipieren. Virtuoser Aufbau Was an Eva Menasses Erstling überzeugt, ist zunächst und vor allem einmal der gekonnte Aufbau, die raffinierte Struktur des Romans. Wie geschickt die Autorin da die Erzählebenen wechselt, wie virtuos Chronologien durcheinander gewirbelt werden, ohne dass der Leser je den Überblick über das doch reichlich verwickelte Geschehen verlöre - eindrucksvoll! Exzentrische Personnage Menasse erzählt die Geschichte einer Wiener Familie zwischen 1930 und heute. Da gibt es die kartenspielsüchtige Großmutter, die sich von einer Bridgepartie im "Café Bauernfeind" auch dann nicht losreißen kann, als bereits die ersten Wehen einsetzen; ihr Mann, ein jüdischer Vertreter für Weine und Spirituosen, profiliert sich als bel-ami-hafter Charmeur vor allem außerhalb des ehelichen Heims. Getrennte Wege Im schicksalsschweren 38er Jahr müssen die Kinder der beiden, ein achtjähriger und ein fünzehnjähriger Bub, mit einem Rettungstransport für jüdische Kinder nach England emigrieren. Während die Eltern in Wien bleiben und der Judenvernichtung mit knapper Not entrinnen, gehen ihre Söhne in England ganz und gar unterschiedliche Wege. Der Ältere träumt davon, Österreich als britischer Soldat von den Nazis zu befreien und landet als Angehöriger der 17. Indischen Division seiner Majestät im burmesischen Dschungel, um dort gegen die Japaner zu kämpfen. Der Jüngere wächst bei Pflegeeltern in einer Kleinstadt in Bedfordshire auf und entwickelt sich zum begnadeten Nachwuchsfußballer, der sein Talent in der Jugendmannschaft von Derby County zur Geltung bringt. Nach dem Krieg kehren beide nach Wien zurück, der Jüngere wird Fußballstar bei der "Vienna", der Ältere macht als KP-naher Geschäftsmann kurzfristig ein Millionenvermögen... Das sind nur einige wenige von vielen Geschichten, die Eva Menasse in ihrem Buch mit schwungvollem Gestus präsentiert. Wie souverän die Autorin dabei die Erzählfäden zusammenhält, wie gekonnt sie die Vielzahl von Anekdoten zu einem schlüssigen Romanganzen zusammenbündelt, das hat man so noch selten gelesen. Sicht von außen Seit zwei Jahren lebt Eva Menasse nun schon in Berlin - eine Stadt, in der sich die frühere "Profil"- und FAZ-Journalistin ausgesprochen wohl fühlt. Ihr Roman ist mehr als eine amüsante Familiensaga. Der Text überzeugt auch als ironisches Sittenbild der österreichischen Nachkriegsgesellschaft, die sich die längste Zeit als verdächtig harmoniesüchtig präsentiert hat - ein Umstand, den Eva Menasses Halbbruder Robert immer wieder enthusiastisch gegeißelt hat. Die Kraft des Fußballs "Vienna" darf als eines der überzeugendsten Debüts seit langem attributiert werden. Das erzählerische Repertoire der 34-Jährigen kann sich sehen lassen: von der Komposition bis zur differenzierten Figurenzeichnung. Dass der Fußball im Buch eine nicht undominante Rolle spielt, versteht sich angesichts der Menasseschen Familiengeschichte von selbst: Die libidinöse Energie, die damals in den Fußball geflossen ist, hat Eva Menasse längst in Richtung Literatur und Schreiben umgeleitet. Eine begrüßenswerte Entwicklung. Austria-Wien-Fans, auch weibliche, gibt es viele. Humorbegabte und zugleich hochintellektuelle Erzählerinnen wie Eva Menasse gab es bisher nur wenige. Frank Stronach wird den Verlust verschmerzen. Text: Günter Kaindlstorfer · 18.02.2005 aus: http://oe1.orf.at/artikel/207428