DiePresse.com | Archiv | Literatur | Artikel drucken "Vienna": Bis zur Unterlippe 19.02.2005 | 00:00 | Von Karl-Markus Gauß (Die Presse) Eine Sturzflut an skurrilen Episoden und Bonmots ergießt sich in Eva Menasses Familienroman "Vienna" über den Leser. Das Buch gewährt jenes Lesevergnügen, auf das es aus ist. Es beginnt mit einem Paukenschlag - der Sturzgeburt. Der erste Satz von Eva Menasses erstem Roman wird noch viel zitiert werden. Zu Recht, denn es ist ein klug kalku-lierter Auftakt, der lange forthallt: "Mein Vater war eine Sturzgeburt." Weil seine Mutter, eine leidenschaftliche Bridge-Spielerin, noch unbedingt ihre Partie zu Ende spielen wollte, kam der Vater fast unter einem Kartentisch im Café Bauernfeind auf die Welt. Immerhin schaffte es die Gebärende noch bis nach Hause, aber aus dem feinen Pelzmantel nicht mehr; der wurde durch die Geburt "verdorben", vielleicht mit ein Grund dafür, dass der Neugeborene, der zu rasch in die Welt rutschte, sich auf dieser so viel Mühe geben wird, nichts anderes mehr falsch zu machen: "Mein Vater schrie, weil das für ein Neugeborenes normal ist. Zeit seines Lebens würde mein Vater die Dinge gewissenhaft so machen, wie er sie für normal hielt, auch wenn ihm das objektiv selten gelingen würde." Die da spricht und alles weiß, über den Vater, aber auch über dessen Eltern, den Onkel und seine Frauen, die Tante und ihren kleinkriminellen Sohn, den Bruder, die Cousins, kurz: über die ganze Familie und was dieser "objektiv" gelingt oder misslingt, ist eine junge Frau. Sie hat im Roman keinen Namen und fast keine eigene Biografie. Was sie tut und was ihr widerfährt, davon ist nicht die Rede. Diese geht vielmehr über lauter Schnurren und Anekdoten ausschließlich von den anderen Mitgliedern der Familie, die einen rechten Clan von Schwadroneuren, Geschichtenerfindern und Spracherotikern bilden. "Vienna" ist ein Familienroman, aber er hat weniger mit Abrechnung zu tun, wie sie in diesem Genre gerne hasserfüllt, empört oder traurig geübt wird, als mit Legenden, die sich von Generation zu Generation wie von selbst weitererzählen. Nicht die Sprachlosigkeit ist es, die die Verwandtschaft aneinander bindet, sondern die Sprachmächtigkeit, denn in dieser Familie wird fortwährend geredet, durcheinander zwar, aber stets originell, zuweilen boshaft, aber immer geistreich, gibt man doch "in meiner Familie im Zweifelsfall der Pointe den Vorzug vor der Geschmackssicherheit". Das gilt nicht nur für die Familie, sondern auch für den Roman, der sich ihr widmet: Auf eine Pointe läuft jede Geschichte zu, die Eva Menasse über drei Generationen einer österreichischen Familie erzählt, und da es unzählige Geschichten sind, die ihr einfallen, sind es auch unzählige Pointen, die sie setzt. Viele davon, das ist ohne Einschränkung zu rühmen, sind gut. "Vienna" ist ein Roman, dessen Lektüre nicht nur unterhaltsam sein will, sondern streckenweise auch tatsächlich jenes Lesevergnügen gewährt, auf das er aus ist. Bei so hohem Pointenaufkommen geraten naturgemäß nicht alle Witze gleich witzig, und die serielle Verfertigung amüsanter Anekdoten hat zwischenzeitlich etwas Ermüdendes. 400 Seiten lang immer nur geistreich sein, das ist eben auch anstrengend. Wenn einer große Schwierigkeiten hat und ihm das Wasser metaphorisch bis zum Halse steht, heißt es bei Eva Menasse forciert, es reichte "bis zur Unterlippe". Eine Drehung weiter auf der Kishon-Schraube, und man ist beim Oberlippenbart angelangt. Nach den ersten Kapiteln, die eine Sturzflut an skurrilen Episoden und Bonmots über die Leser ergießen, schleppt sich der Roman eine Zeitlang merklich ermattet dahin. Gegen Ende aber erholt er sich wieder, und das Finale, ein Begräbnis, korrespondiert dann wieder geradezu unschicklich gut mit dem Beginn, der Sturzgeburt. Was ist das für eine Familie? Der Großvater ein Jude, Spieler und Vertreter für Weine und Spirituosen, die Großmutter eine katholische Sudetendeutsche, die ihrem Mann wohl weniger aus Zuneigung, als durch eine Anzahl gemeinsamer Abneigungen verbunden ist. Weil er mit einer "Arierin" verheiratet ist, kann der Großvater die sieben österreichischen Jahre des Tausendjährigen Reiches in Wien irgendwie überstehen. Die beiden Söhne werden als Kinder nach England verschickt, wo der ältere, der Onkel der Erzählerin, der britischen Armee beitritt und in DiePresse.com http://diepresse.com/home/diverse/literatur/155585/print.do 1 von 2 06.09.2010 23:13 Burma kämpft. Der Vater ist acht Jahre, als er mit dem rettenden Kindertransport vom Westbahnhof abfährt, und da mutet es ihn noch wie ein aufregender Ausflug, ein Bubenabenteuer an. Aber dann ist er in einem fremden Land, umgeben von keineswegs nur freundlichen Leuten, und er versteht kein Wort und weiß nur, dass er auf einmal entsetzlich einsam ist. Seinem auf Harmonie und Wohlverhalten orientierten Naturell entsprechend, schlägt er sich anfangs mit der Floskel "Very well, thank you" durch; Jahre später, nach Wien zurückgekehrt, wird er eine Zeit brauchen, bis er wieder Deutsch gelernt und für die englische Formel, sich freundlich in die Welt einzufügen, das Äquivalent gefunden hat: "Alles bestens, danke." Nicht dass es keine Konflikte gäbe, die durch diese Familie schneiden: Der Vater etwa, der nach dem Krieg als Fußballstar bei der Vienna und gar in der Nationalmannschaft spielt, ist unbedankt bereit, den Arisierern von gestern zu vergeben; der Onkel hingegen hält es da merklich kritischer. Aber alles in allem ist die Familie von einem erstaunlichen Zusammenhalt geprägt, der sogar die ideologischen Gräben überwindet. Immerhin, Tante Gustl, des Großvaters Schwester, hat es sich schon ziemlich weit in Feindes Lager gemütlich eingerichtet. Der familiäre, persönliche Konflikt bricht erst in der nächsten Generation auf, dann nämlich, als der "große Bruder" der Erzählerin seinem Vater den Vorwurf macht, als Jude über das Erlittene wie die Täter ringsum zu schweigen und, übrigens, ohnedies schon fast ein kapitalistischer Ausbeuter zu sein. Ach ja, "mein großer Bruder". Natürlich führt "Vienna" die Gattungsbezeichnung "Roman", und natürlich möchte man in dem großen Bruder, der durch den Roman geistert, gerne den Autor Robert Menasse erkennen. Die charmanten Anekdoten, die Eva Menasse um ihn rankt, fügen sich zu einem Porträt von, nun ja: abgefeimter Liebenswürdigkeit, eine Hommage aus lauter klitzekleinen Bosheiten. Da hat es die "kleine Schwester" besser und schlechter zugleich, wird sie doch, en passant, gerade noch erwähnt. Größere Aufmerksamkeit hat die Autorin manchen Nebenfiguren gewidmet, die ihr, so wie Tante Gustls Ehemann, der Bankdirektor Königsberger, ein unfreiwilliges Genie der Verballhornung geflügelter Worte, glänzend gelingen. Debüts, zumal wenn sie autobiografisch angelegt sind, haben oft etwas Ungestümes, ein Autor ist sich seiner literarischen Mittel noch nicht sicher, dafür weiß er aus dem Überschuss an Empörung leidenschaftlich übers Ziel zu schießen. Nichts von dieser schönen Schwäche vieler Erstlingswerke ist in Eva Menasses gekonntem und bedachtsam auf Wirkung geschriebenem Debüt zu merken. Wenn ihr Roman eine Schwäche hat, dann ist es nicht das Ungehobelte, sondern das berechnend Gedrechselte, das kunstgewerblich Gediegene. Eva Menasse: Vienna. Roman. 432 S., geb., 20,50 (Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln) © DiePresse.com DiePresse.com http://diepresse.com/home/diverse/literatur/155585/print.do 2 von 2 06.09.2010 23:13