Abkürzungen Erstes Kapitel Begriffsbestimmung ACLA AILC/ICLA BjF CL CIS DVLG Escarpit Etiemble Forschungsprobleme Frenzel GRM Guyard P/R PMLA Proceedings II Proceedings IV RLC SjF Trousson Van Tieghem YCGL American Comparative Literature Association Association Internationale de Littérature Comparée/International Comparative Literature Association Fernand Baldensperger and Werner P. Friederich, Bibliography of Comparative Literature (Chapel Hill, University of North Carolina Press, 1950) Comparative Literature (University of Oregon) Comparative Literature Studies (University of Illinois) Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Robert Escarpit, Sociologie de la littérature (Paris, Presses Univer-sitaires de France, 21960) René Etiemble, Comparaison ríest pas raison: La Crise de la Littérature Comparée (Paris 1963) Forschungsprobleme der vergleichenden Literaturgeschichte, hrsg. von Fritz Ernst und Kurt Wais (Tübingen), Bd. I (1950), Bd. II (1958) Elisabeth Frenzel, Stoff-, Motiv- und Symbolforschimg (Stuttgart 1963) Germanisch-romanische Monatsschrift Marius-Francois Guyard, La Littérature comparée (Paris, Presses Universitaires de France, 31961) Claude Pichois et André-M. Rousseau, La Littérature comparée (Paris 1967) Publications of the Modern Language Association (of America) Comparative Literature: Proceedings of the Second Congress of the ICLA, hrsg. von W. P. Friederich (Chapel Hill, University of North Carolina Press, 1959), 2 Bde Actes du IVo Congrés de F Association Internationale de Littérature Comparée, hrsg. von Francois Jost (Den Haag 1966), 2 Bde Revue de Littérature Comparée Comparative Literature: Method and Perspective, hrsg. von N.P. Stallknecht und H. Frenz (Carbondale, Southern Illinois University Press, 1961) Raymond Trousson, Un Probléme de littérature comparée: Les études de themes, essai de méthodologie (Paris 1965) Paul Van Tieghem, La Littérature comparée (Paris 31946) René Wellek and Austin Warren, Theory of Literature (New York 1949) Yearbook of Comparative and General Literature VIII Das A und O einer Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft ist sachgemäß die Bestimmung dieses, in deutschen akademischen Kreisen noch immer ziemlich unbekannten und meist unzulänglich definierten Begriffs-Komplexes. Bei der Erarbeitung dieser Bestimmung scheint es uns in dem uns gesteckten Rahmen angebracht, einen Mittelweg zwischen der engen Auffassung der orthodoxen Pariser Schule (Paul Van Tieghem, Jean-Marie Carré, Marius-Frangois Guyard, Claude Pichois und André-M. Rousseau, um nur ein paar typische, wenn auch in methodologischen Fragen keineswegs immer übereinstimmende Vertreter zu nennen) und der Freizügigkeit gewisser Exponenten der »amerikanischen« Richtung (zu der wir, der Einfachheit halber, auch den Franzosen René Etiemble rechnen wollen) einzuschlagen. Wir tun dies nicht, weil wir dem noch immer in den Kinderschuhen steckenden oder in der Pubertät - keinesfalls schon in den Wechseljahren - befindlichen Wissenschaftszweig gewaltsam Fesseln anlegen wollen, sondern weil bei der systematischen Betrachtung einer komplexen Materie ein Zuwenig immer besser ist als ein Zuviel. Das erste der beiden soeben erwähnten Extreme in der kompara-tistischen Arbeitshypothese tritt eindeutig in dem kurzen Vorwort, das Jean-Marie Carré dem Handbuch Marius-Frangois Guyards voranstellte, zutage. Dort heißt es: La littérature comparée est une branche de l'histoire littéraire; eile est l'etude des relations spirituelles internationales, des rapports de fait qui ont existé entre Byron et Pouchkine, Goethe et Carlylc, Walter Scott et Vigny, entre les ceuvres, les inspirations, voire les vies ďécrivains appartenant ä plusieurs littératures. (Guyard, S. 5) Auf die von Carré als selbstverständlich bezeichnete Einstufung der vergleichenden Literaturwissenschaft in den Bereich der Lite-tvXVLtgeschichte kommen wir weiter unten zu sprechen. Zunächst sei die ausschließliche Betonung der rapports de fait Gegenstand unserer Betrachtung. Carrés nachdrücklich betonter Hinweis auf faktische, d. h. meßbare und statistisch erfaßbare Zusammenhänge und Einflüsse wird verständlich im Rückblick auf die Situation der Komparatistik (wie 1 der literarhistorischen Forschung überhaupt) am Ende des positivistisch eingestellten 19. Jahrhunderts, besonders auf die volkskundlich-stoffgeschichtlich orientierte Richtung, die heute entweder als veraltet gilt oder wenigstens ergänzungsbedürftig scheint. Wird das Studium der Literatur zur bloßen Materialsammlung degradiert, dann verliert es seine Würde, insofern als das ästhetische Moment im literarischen Kunstwerk nicht mehr als solches gewertet wird. Gegen die folkloristische Stoffhuberei hatte aus verschiedenen Gründen - darunter dem gewichtigen des zwangsläufigen Mangels an Kontinuität - bereits Fernand Baldensperger, der Altmeister der französischen Komparatistik unseres Säkulums, kräftigen Einspruch erhoben. Ihm schien, daß bei einer solchen Verfahrensweise das individuelle, schöpferische Element (die Persönlichkeit, die Initiative und die Originalität des Dichters) außer Acht gelassen werde: »Ce folklore ou cette Stoffgeschichte, vers quoi vint graviter toute une Variete de litterature comparee, c'est un ordre de recherches qui semble plus curieux de la matiere que de Fart, pour qui les survi-vances secretes sont plus interessantes que Finitiative de Partisan.«1 Ihm folgte, ins andere Extrem verfallend und das Folkloristische selbst da, wo es sich in der Literatur niederschlägt - wie beim Volksmärchen, der Legende oder der Sage - der Anonymität seiner Produkte wegen aus dem Bereich der (vergleichenden) Literaturwissenschaft ausschließend, Paul Van Tiegbem, der behauptet: C'est lä du folklore, ce n'est pas de l'histoire litteraire; car celle-ci est l'histoire de la pensee humaine vue ä travers l'art d'ecrire. Or, dans cette subdivision de la thematologie, on ne considere que la matiere, ses passages d'un pays ä un autre, ses modifications; mais l'art n'est pas en jeu dans ces traditions anonymes, dont le caractere est de rester impersonelles, tandis que la litterature comparee etudie Taction et Pinfluence des personnalites. (Van Tieghem, S. 89) Aus dieser Haltung erklärt sich, wenigstens zum Teil, der zwar theoretisch nicht ausgesprochene, aber an der Sorbonne nach Van Tieghems eigenem Geständnis lange obwaltende Ostrazismus gegenüber der antiken und mittelalterlichen Literatur, weil bei dieser (etwa in den Plomerischen Epen oder dem Nibelungenlied) der Dichter als Person nicht immer greifbar ist: L'objet de la litterature comparee ... est essentiellement d'etudier les osuvres des diverses litteratures dans leurs rapports les unes avec les autres. Concue dans des termes aussi generaux, eile comprendrait, ä ne considerer que le monde occidental, les relations des litteratures grecque et latine entre elles, puis la dette des litteratures modernes, depuis le moyen äge, envers les litteratures anciennes, enfin les rapports des litteratures modernes entre elles. Ce dernier ordre de questions, le plus etendu d'ailleurs et le plus complexe, est celui que se reserve la litterature comparee dans l'acception ordinaire de l'expression ... (Van Tieghem, S. 57f.) Daß der obige Standpunkt heute nicht mehr vertretbar ist und die antike und mittelalterliche Literatur in den Bereich komparatistischer Forschung mit einbezogen werden muß, braucht in einem Zeitalter, das gelernt hat, sich auf die Dichtung selbst zu konzentrieren, und das Studium der Rohmaterialien und Stoffe sowie der Psychologie des schöpferischen Genius hilfs- statt hauptwissenschaftlich zu betreiben, kaum eigens betont zu werden.2 Carré hielt die Beschäftigung mit literarischen Einflüssen im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger und Zeitgenossen deshalb für gefährlich, weil man es dabei oft mit Imponderabilien zu tun hat. Er warnte seine Schüler und Kollegen: »D'ailleurs on s'est peut-étre trop précipité sur les études ďinfluences. Elles sont difficiles ä mener, souvent décevantes. On s'y exposé parfois á vouloir peser des imponderables« (Guyard, S. 6). Sicherer und dankenswerter sei die »histoire du succěs des ceuvres, de la fortuně d'un écrivain, du destin ďune grande figuře, de 1'interprétation réciproque des peuples, des voyages et des mirages. Comment nous voyons-nous entre nous, Anglais et Francais, Francais et Allemands, etc.« (Ebd.) Damit befinden wir uns aber, vom literarischen Standpunkt aus gesehen, auf einer ins Soziologische führenden Ausfallstraße entlang einer Route, die nur auf dem Umweg über das Nachleben der Werke, den Nachruhm (Etiemble würde sagen: den Mythos) der Dichter und das Bild, welches sich durch Vermittlung literarischer Zeugnisse die Völker voneinander machen, ihr Ziel anstrebt.3 Gegen diese pseudoliterarische Auffassung der vergleichenden Literaturwissenschaft sträubt sich René Wellek, der in seiner scharfen Erwiderung an Carré darauf aufmerksam macht, daß eine derartige Substitution methodologisch unstatthaft ist, weil »the comparative psychoanalysis of national myths demanded by MM. Carré and Guyard . . . not a part of literary scholarship« sei, sondern »a subject belonging to sociology or generál history.«4 Wir teilen diese Ansicht, zumal Guyard selbst uns den Schlüssel zu dieser ins Außerliterarische tendierenden Betrachtungsweise in die Hand gibt, wenn er unter Bezug auf die Genre-Forschung feststellt: Etudier la fortuně d'un genre exige done une analyse rigoureuse, une méthode historique trěs severe, une reelle pénétration psychologique. Loin ďétre arides, de tels travaux peuvent et doivent étre finalement ceuvre de moralisté. La litterature comparee s'y épanouit, comme souvent, en psychologie comparee. (Guyard, S. 20f.) »L'Etranger tel qu'on le voit« lautet der Titel des achten und letzten Kapitels seiner Übersicht, in dem die Zukunft der vergleichenden Literaturwissenschaft lebhaft ausgemalt wird. Freilich sah sich der französische Gelehrte im Nachwort zur zweiten, veränderten Auflage seines Buches (1961) im Hinblick auf die inzwischen angebahnte Entwicklung dazu veranlaßt, eine Korrektur dieses Standpunktes vorzunehmen, die eine Legitimation der von René Etiemble und Robert Escarpit vertretenen Auffassungen mit einschließt.5 Doch der 2 3 Schaden war angerichtet und in vielen Fällen nicht wieder gutzumachen. So ragen denn Studien wie Simon Jeunes Darstellung der Geschichte amerikanischer Typen in der neueren französischen Literatur als Anachronismen in eine Zeit hinein, in der ihre methodologischen Grundlagen keine Geltung mehr besitzen.6 Tut die völlig auf rapports de fait abgestellte Komparatistik des Guten zu wenig, so schießt, unserer Ansicht nach, die ihr polar entgegengesetzte, tatsächliche Zusammenhänge abschätzig beurteilende und für Analogien schwärmende über das wissenschaftlich vertretbare Ziel hinaus. Zwar begrüßen wir die Großzügigkeit Henry H. H. Remaks, demzufolge »the French desire for literary sécurité is unfortunate at a time which cries, as Henri Peyre has pointed out, for more (not less) imagination«7, im Prinzip, möchten aber auf die Nachteile einer so offensichtlichen Liberalität in Fragen der Begriffsbestimmung hinweisen, selbst auf die Gefahr hin, von vornherein als reaktionär verschrieen zu werden. In Anbetracht der möglichen und wirklichen Auswüchse einer bloßen Parallelenjagd sollte man die warnende Stimme Baldenspergers nicht ungehört verhallen lassen, die sich vor fast fünfzig Jahren wie folgt vernehmen ließ: Aucune clarté explicative ne résulte d'une comparaison qui s'arreterait ä ce regard simultane jeté Sur deux objets, ä cc rappel, conditionné par le jeu des Souvenirs et des impressions, de similitudes qui peuvent trěs bien n'etre que des points erratiques mis fugitivement en contact par une simple fantaisie de l'esprit.8 Carré möchte, wie mancher seiner Kollegen, derartige Analogiestudien gänzlich aus der Komparatistik verbannt wissen, während sie Van Tieghem wenigstens insofern gelten läßt als sie auf einen couraní commun hinweisen.9 Aber selbst dann gehören sie, seiner Meinung nach, eher in die littérature generale als in die vergleichende Literaturwissenschaft. Was darunter zu verstehen ist, erhellt aus seiner Definition: »On appelle histoire generale de la littérature, ou plus briěvement littérature generale, un ordre de recherches qui porte sur les faits com-muns ä plusieurs littératures, constdérés comme tels, soit dans leurs dčpendances réciproques, soit dans leur coincidence« (Van Tieghem, S. 174). Wie gesagt: Wir sympathisieren mit Remaks Enthusiasmus, möchten aber den festen Boden der sécurité nicht verlassen, ohne Maßnahmen zu treffen, die ein Abrutschen ins Bodenlose der literarkriti-schen Spekulation verhindern. Wir sprechen z. B. Etiembles weitgespannter Forderung, auch die vergleichende Metrik, die vergleichende Ikonographie und Ikonologie, die vergleichende Stilistik usw. zu betreiben, keineswegs ihre Berechtigung ab, scheuen uns aber, die Analogiestudien auch auf Phänomene, die unterschiedlichen Kulturkreisen angehören, auszudehnen. Uns scheint nämlich, daß nur innerhalb eines einzelnen Kulturkreises jene Gemeinsam- keiten der bewußt oder unbewußt bewahrten Tradition im Denken, Fühlen und Schaffen zu finden sind, die bei ungefähr gleichzeitigem Auftreten als courants communs zu bezeichnen wären, die aber auch über Zeit und Raum hinweg zu einer oft erstaunlichen Einheitlichkeit etwa des Gefühlswertes von Farbattributen, der Auffassung einer Landschaft oder der Individual- und Massenpsychologie führen, selbst da, wo von Zeitgeist im engeren Sinn nicht die Rede sein kann. So lassen sich Vergleiche der Art, wie sie heute im amerikanischen Universitätsbetrieb gang und gäbe sind (Rilke und Wallace Stevens, Rilke und Antonio Machado oder gar Rilke und Johannes vom Kreuz), vom komparatistischen Standpunkt aus eher verteidigen als der Versuch, die westliche und die mittel- oder fernöstliche Auffassung des Poetischen vergleichend darzustellen.10 Wohin ein Vergleich ostasiatischer und europäischer Romane im äußersten Falle führen kann, beweist mit ungewollter Naivität der mit beiden Kulturkreisen bestens vertraute Fachmann Etiemble, wenn er behauptet, daß »l'etude comparative de la strueture des poěmes (que les civilisations en cause aient ou non des relations historiques) nous permettrait, qui sait, de découvrir les conditions sine qua non du poeme« (Etiemble, S. 102). Denn bei diesen »Bedingungen« kann es sich doch höchstens um so grundlegende Züge handeln, wie sie nur durch Gemeinplätze zu umreißen sind - etwa um die Beantwortung der Frage »Wann und unter welchen Umständen hört ein Roman auf, Roman zu sein?« Wir schließen uns deshalb - mit leisem Vorbehalt - der programmatisch geäußerten Meinung des Herausgebers der Arcadia an, seine Zeitschrift werde »die Erörterung aller ahistorischen, nur auf Vermutung beruhenden Parallelen vermeiden, die dem Ruf der Komparatistik im Zeitpunkt ihrer Konsolidierung schaden könnten.«11 Um noch einmal kurz auf die Bedeutung der sogenannten rapports de fait zurückzukommen: Es versteht sich von selbst, daß diese im Grunde den Historiker angehen, unser Fach also bei einer freiwilligen Beschränkung auf das Erfassen tatsächlicher Zusammenhänge zur vergleichenden lÄttt&tmgeschichte absinkt. Daß dies der dem heutigen Stande der Forschung angepaßten »fortschrittlichen« Auffassung nicht mehr entspricht, verrät der deutsche Sprachgebrauch. Wie im Untertitel der Arcadia neigt man nämlich schon seit einiger Zeit dazu, dem Begriff »Vergleichende Litetatmwissenschaft« den Vorrang einzuräumen. Nur die Vertreter der älteren, philologisch ausgerichteten Schule bestehen noch auf dem alten usus, so z. B. Werner Krauss im Titel seiner Akademierede aus dem Jahre 1962.12 Daß hierbei auch politische Faktoren im Spiele sein mögen, läßt Evamaria Nahkes Bericht über die vierte Tagung der Association Internationale de la Littérature Comparée (AILC/ICLA) vermuten, von der im Inhaltsverzeichnis als Internationaler Vereinigung für ver- 4 5 gleichende Literatur, im Titel aber als Internationaler Vereinigung für vergleichende Literaturwissenschaft die Rede ist.13 In den geläufigeren Fremdsprachen steht der Name unserer Disziplin mit der zu beinhaltenden Sache und der dabei anzuwendenden Methode nicht immer im Einklang. So beklagte schon H. M. Posnett in einem 1901 veröffentlichten Aufsatz die Tatsache, daß der englische - aus dem Französischen entlehnte - Begriff »Cornparative Literature« den Forschungsgegenstand statt der Forschungsmethode bezeichne. Er selbst, heißt es weiter, habe sich gezwungen gesehen »to make the name of the subject-matter do duty for the uncoined name of the study of the subject-matter.«14 Auch das französische littérature compares und seine italienischen, spanischen und portugiesischen Entsprechungen (letteratura comparata, literatura comparada, litteratura comparada) sind sprachlich unbefriedigend, selbst wenn man berücksichtigt, daß sie durch Analogieschluß aus den Naturwissenschaften entlehnt sind (anatomie compares usw.).15 »Vergleichbare Literatur« (comparative literature) und »Literatur verglichen« (littérature comparée) sind nur Abbreviaturen für Bezeichnungen wie »Die Produkte einer Nationalliteratur verglichen mit den Produkten einer oder mehrerer anderer Nationalliteraturen.« Der deutsche Sachbegriff ist wie der ihm verwandte holländische (vcrgelijkend litera-tuuronder^pek) weitaus präziser. Literaturwissenschaft (dies sei ausdrücklich betont) ist ihrem Wesen nach umfassender als bloße Literaturgeschichte, beinhaltet sie doch neben dem Studium der Geschichte der literatur auch das ihrer Kritik und Theorie und sogar der Poetik, während sie die Ästhetik als Sondergebiet der Philosophie, in dem Literatur nur noch zur Illustration apriorischer Anschauungen dient, ausklammert.16 Im vierten Kapitel ihrer Theory of Literature befassen sich René Wellek und Austin Warren des näheren mit der systematischen Trennung und Abgrenzung dieser Zweige und kommen zu folgendem Ergebnis : Within our >proper study,* the distinction between literary theory, criticism, and history ate clearly the most important. There is, first, the distinction between a view of literature as a simultaneous order and a view of literature which sees it primarily as a series of works arranged in a chronological order and as integral parts of the historical process. There is, then, the further distinction between the study of the principles and criteria of literature and the study of the concrete literary works of art, whether we study them in isolation or in a chronological series. It seems best to draw attention to these distinctions by describing as >literary theory* the study of the principles of literature, its categories, criteria, and the like, and by differentiating studies of concrete works of art as either >literary criticism< (primarily static in approach) or >literary history? {W\W, S. 30). Demnach wäre also der Sektor »Vergleichende Literaturwissenschaft« zu unterteilen in die Segmente »Vergleichende Literatur- 6 geschiente«, »Vergleichende Literaturkritik« und »Vergleichende Literaturtheorie oder Poetik«, was im Sinne unserer Definition darauf hinausläuft, daß innerhalb der so verstandenen Komparatistik sowohl der Vergleich zwischen Hauptmann und Tolstoi als auch der zwischen Schlegel und Coleridge als Kritikern und der zwischen Aristoteles und Corneille (als dem Verfasser des Discours sur les trois unites) legitim ist. Nur ein Pedant wird im Jahre 1968 der Meinung sein, man müsse, wie dies die orthodoxen Theoretiker der vergleichenden Literaturwissenschaft noch vor zwanzig Jahren forderten, alle Kritik vermeiden, weil sie einen dazu zwinge, literarische Werturteile zu fällen.17 Wenn wir oben feststellten, die litterature comparee befasse sich vergleichend mit den Produkten verschiedener Nationalliteraturen, so taten wir dies, ohne näher auf die Umstände, die eine solche Auslegung des Begriffs nahelegen, einzugehen. Es ist jetzt an der Zeit, das Versäumte nachzuholen, und zwar zunächst mit Bezug auf die in aufsteigender Linie ihrem Umfang nach angeordneten Glieder der Reihe Nationalliteratur, »Vergleichende Literatur« und Weltliteratur, wozu der Vollständigkeit halber auch der von Van Tieghem zwar nicht geprägte, doch von ihm in Umlauf gesetzte und mit einer spezifisch komparatistischen Bedeutung versehene Begriff der »Allgemeinen Literatur« (litterature generale) gerechnet werden muß. Zunächst bedarf der Terminus »Nationalliteratur« einer für die vergleichende Literaturwissenschaft bindenden und gültigen Auslegung, bezieht er sich doch sachgemäß auf die Einheiten, die das Fundament der Komparatistik bilden. Es erhebt sich also die Frage, was - aus dieser besonderen Perspektive gesehen - eine Nationalliteratur sei und welche Grenzen ihr gesteckt sind. Ferner muß entschieden werden, ob die Bestimmung nach politisch-historischen oder nach sprachlichen Gesichtspunkten erfolgen soll. Nach reiflicher Überlegung wird man zum Ergebnis kommen, letzteren müsse unbedingt der Vorzug gegeben werden, da die politischen Grenzen sich im Laufe der Zeit unter dem Druck der geschichtlichen Ereignisse bekanntlich öfter und schneller verschieben als die sprachlichen. Um nur ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte herauszugreifen: Die Teilung Deutschlands im Jahre 1945 riß zwei sprachlich einheitliche Gebiete eines Landes mit gemeinsamer Kultur gewaltsam auseinander, ohne daß man deswegen einen Vergleich des Schrifttums der Bundesrepublik und der DDR ohne weiteres komparatistisch nennen könnte oder möchte. Wie unzulänglich politische Gesichtspunkte im komparatistischen Bereich sein können, beweist die Indifferenz, mit der etwa Fragen der Staatsangehörigkeit oder des Wohnsitzes zu behandeln wären. Man denke an das Schicksal der deutschen Emigranten in den dreißiger oder vierziger Jahren unseres Jahrhunderts. So floh Heinrich Mann ___: nach Frankreich, erwarb dann die tschechische Staatsangehörigkeit und verbrachte seinen Lebensabend in den Vereinigten Staaten von Amerika. Soll er dieser, rein äußerlichen Umstände wegen als deutschfranzösisch-tschechisch-amerikanischer Dichter in die Literaturgeschichte eingehen? Das wäre absurd; doch ließe sich aufgrund seiner Liebe zu Frankreich, seiner Kenntnis des Französischen und seiner auf großer Vertrautheit mit der französischen Literatur und Geschichte fußenden Wahl französischer Stoffe (wie im Henri Quatre) ein wahlverwandtschaftlicher esprit gaulois an seinem Werke demonstrieren. Bei anderen Dichtern - wie dem späten Rilke - ist die Zweisprachigkeit (der Bilinguismus) noch ausgesprochener; und Männer, die wie der Zauberer von Muzot und der Portugiese Fernando Pessoa, in zwei Sprachen und zwei literarischen Traditionen zuhause sind, können, so scheint uns, in der Tat Gegenstand kompa-ratistischer Forschung werden. Gibt man, der Mehrzahl der Theoretiker der vergleichenden Literaturwissenschaft folgend, den sprachlichen Kriterien den Vorzug vor den politisch-geographischen, so stößt man freilich auch liier auf gewisse Schwierigkeiten. Schon die Frage, ob die französische Literatur auch die Werke der französisch schreibenden belgischen, schweizerischen, kanadischen und nordafrikanischen Dichter mit einbegreift, ist schwer zu beantworten. Das gleiche gilt, mutatis mutandis, von der deutschen Dichtung, zu der auch das österreichische Schrifttum sowie die Werke der deutschsprachigen Schweizer und der Mitglieder des Prager Kreises um Max Brod und Franz Kafka gehören. Und wie steht es mit der spanischen Literatur in ihrem Verhältnis zur süd- und mittelamerikanischen (mit Ausnahme Brasiliens) oder der arabischen Literatur als dem Repositorium eines kulturellen Erbes, dem Ägypten, der Irak, Syrien, Libanon und Saudiarabien gleichermaßen verpflichtet sind? In diesem Zusammenhang interessieren die Ausführungen Wolfgang von Einsiedels im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen einbändigen Uberblick über 130 Literaturen. Es heißt da, die einzelnen Literaturen seien »primär nach Sprachgemeinschaften« benannt worden, »die keineswegs mit Nationen identisch sind; und nur in Ausnahmefällen nach Glaubensgemeinschaften oder Bevölkerungsgruppen«18. Als Grundmerkmal für jede der behandelten Einheiten gilt ferner, daß sie »eine mehr oder minder ausgeprägte Physiognomie« besitzt, »die nur dann deutlich erkennbar wird, wenn sie als Ganzes . . . mit anderen Literaturen verglichen wird«19. Jedes der oben erwähnten Probleme stellt einen Sonderfall dar und bedarf einer den historischen Umständen und dem literatur-geschichtlichen Gewohnheitsrecht sorgfältig angepaßten Lösung. Für den angehenden Komparatisten ist schon aus diesem Grunde das Studium mehrerer Geschichten der gleichen Nationalliteratur auf- schlußreich, weil er dabei eine praktische Handhabe für die von ihm angestrebte Grenzziehung findet. Als Beispiel sei der von Van Tieghem kommentierte usus französischer Literaturhistoriker angeführt : En France, oü l'unite nationale est si ancienne, et le sentiment de cette unke si profond et si vif, la question n'est resolue qu'avec une timidite souvent tätonnante et parfois illogique. Pom des raisons evidentes, nous considerons comme ecrivains francais le genevois Rousseau, le savoyard de Maistre; nous admettons generale-ment les Suisses Vinet, Scherer, Rod, Cherbuliez, les Beiges Rodenbach et Ver-hacren, parce qu'üs ont plus ou moins gravite autour de Paris comme centre littcraire; mais nous laissons ä la SuisseToepffer, ä la Belgique Camille Lemonnier, parce qu'ils sont volontiers restes chez eux. En bonne logique, il faut considerer alors l'influence de Zola Sur Camille Lemonnier comme un sujet de litterature comparee. De meme, le romantisme ä Geneve ou dans le pays de Vaud; de meme, les influences francaises Sur la litterature de langue francaise du Canada, de Haiti, etc. (Van Tieghem, S. 58f.) Auch das Studium der vielfach in den Kultursprachen der westlichen Großmächte geschaffenen Literatur der afrikanischen Entwicklungsländer muß vom vergleichenden Literaturwissenschaftler in Rechnung gestellt werden, wobei es sich fragt, ob deren besondere Weltanschauung oder ihr bloßes Lokalkolorit als nationalliterarische Züge zu gelten haben. Daß die hier angeschnittene Frage keine rein theoretisch-spekulative ist, sondern auch in der Praxis eine mitunter recht folgenschwere Bedeutung hat, wird besonders dem Bibliographen einleuchten. Auch ein dreisprachiges Land wie die Schweiz (seit 700 Jahren politisch und territorial stabil) bildet eine kulturelle Einheit, die zur Ausbildung einer Nationalliteratur führen könnte, obgleich man mit Francois Jost eher von lettres suisses als von einer litterature suisse sprechen möchte.20 Es ist jedenfalls bedauerlich, daß Baldensperger und Friederich in ihrer Bibliograpby of Comparative Uterature dem Elsaß und der Schweiz eine Sonderstellung einräumen, aber Österreich und Kanada der deutschen bzw. französischen und englischen Literatur unterordnen. Abwegig wäre es auch, einem falsch verstandenen methodologischen Purismus zuliebe die irische Literatur von der englischen abzuzweigen, wobei Gestalten wie Swift, Yeats und Shaw um eines nicht-lilcrarischen Prinzips willen literarisch entwurzelt würden. Ein ilie Forschung immer wieder beschäftigendes Problem erwächst aus dem Verhältnis der englischen Literatur zur amerikanischen, da es sich hierbei um zwei Nationen handelt, die auch kulturell - und daher literarisch - zumindest seit Mitte des 19. Jahrhunderts ihre eigenen Wege gehen, so daß nach allgemeiner Übereinkunft die Produkte ihrer Nationalliteraturen trotz der, von geringfügigen Einzelheiten 8 9 abgesehen, immer noch gemeinsamen Sprache Objekt der kompara-tistischen Forschung sind. Unsere Betonung des sprachlichen Unterschieds als des bei der Klärung der Frage, ob ein Gegenstand von den Einzelphilologien oder von der vergleichenden Literaturwissenschaft zu behandeln sei, ausschlaggebenden, wird gerechtfertigt durch den Blick auf solche Länder, die zwar politisch geeinigt, aber kulturell und sprachlich in sich selbst uneinheitlich sind, so daß von einer gemeinsamen Nationalsprache nicht die Rede sein kann. Dazu gehören die Schweiz, Indien und die Sowjetunion, in der es von sprachlichen Minderheiten wimmelt. Daß ein Vergleich der Romane von Gottfried Keller und Ramuz literarkritisch und -geschichtlich trotz Friederich in die Kom-paratistik gehört, steht für uns außer Zweifel, der gleiche Gesichtspunkt muß auch für das vergleichende Studium der in Bengali, Hindi, Urdu und Tamil verfaßten indischen und der ukrainisch, georgisch, estonisch, burjatisch und kirgisisch geschriebenen russischen Literaturen gelten.21 Auch innerhalb einer im wesentlichen einsprachigen Nation wie Frankreich oder England gibt es »fremdsprachliche« Einsprengsel, deren Verhältnis zur koine des Vaterlandes komparatistisch zu erschließen wäre. Man denke an den neuprovenzalischen Dichter Gabriel Mistral, von dem Van Tieghem sagt: »Les histoires de notre litterature ne lui font aucune place; il faut donc considerer ses rap-ports avec les poetes francais comme ressortissant ä la litterature comparee« (Van Tieghem, S. 59), und den schottischen Dichter Robert Burns, dessen kulturelle Staatsangehörigkeit Louis Cazamian als semi-ötrangere bezeichnete. Der Fall Burns mag als Beispiel dafür gelten, daß auch Dialektliteratur, soweit sie den die Hochsprache sprechenden und schreibenden Bürgern eines Landes nicht (oder wenigstens nicht ohne weiteres) verständlich ist, in den Bereich der komparatistischen Forschung hineinragt. Dabei ist zu beachten, daß die Grenzen zwischen »Dialekt« und »Sprache« fließend sind und mangels streng wissenschaftlicher Unterscheidungsmerkmale der populäre Test der »intelligibi-lity« (Verständlichkeit) über die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Kategorie entscheiden muß. Methodologisch ist es für uns wichtig, daß die im sizilianischen Dialekt geschriebenen Lustspiele Eduar-do de Filippos und die plattdeutschen Romane Fritz Reuters als fremdsprachliche Werke anzusehen sind, insofern sie der Übersetzung ins Italienische bzw. Hochdeutsche bedürfen.22 Hier befinden wir uns anscheinend in einer Sackgasse, da doch niemand ernsthaft behaupten wird, Ut de Stromtid, Hauptmanns Weber in der Urfassung und Ludwig Thomas Filserbriefe seien nicht Bestandteil der deutschen Nationalliteratur. 10 Über eines müssen wir uns allerdings bei Anwendung der sprachlichen Kriterien im klaren sein: man muß sich ihrer diskret bedienen, wenn es sich um - wie verschieden auch immer geartete -Stufen in der organischen Entwicklung einer Nationalsprache handelt, z. B. um das Angelsächsische oder das Althochdeutsche, das der moderne Engländer oder Deutsche wie eine Fremdsprache erlernen muß. Ein Vergleich zwischen althochdeutsch, mittelhochdeutsch und neuhochdeutsch geschriebenen Werken ist, sprach- und kulturgeschichtlich gesehen, keineswegs Sache der vergleichenden Literaturwissenschaft. Nachdem wir mit einiger Ausführlichkeit dargelegt haben, welche Schwierigkeiten sich ergeben, wenn man es unternimmt, den Begriff der Nationalliteratur zu definieren und die einzelnen Literaturen gegeneinander abzugrenzen oder komparatistisch miteinander in Bezug zu setzen, dürfen wir uns bei der Betrachtung des Wechselverhältnisses von litterature comparee und litterature generale kürzer fassen, da es sich hierbei um eine künstliche Trennung handelt, der methodologisch keine allzugroße Bedeutung zukommt. Zunächst sei noch einmal daran erinnert, daß beide Begriffe, rein sprachlich gesehen, Abbreviaturen sind, bei denen der Name des Gegenstands der Forschung an die Stelle der einzuschlagenden Methode getreten ist: litterature comparee bedeutet »histoire comparative des litteratures«, während litterature generale für »histoire generale de la litterature« Mehl. Paul Van Tieghem definiert den Begriff der »Allgemeinen Literatur« (litterature generale, general literature) im dritten und letzten Teil seines Handbuchs. Ihm zufolge beschränkt sich die vergleichende Literaturwissenschaft auf die Untersuchung von »rapports binaires, enire deux elements seulement; que ces elements soient des ouvrages, des cerivains, des groupes d'ceuvres ou d'hommes, des litteratures entieres« (Van Tieghem, S. 170). Literarische Phänomene, die drei oder mehr Nationalliteraturen umfassen, weist der französische Geld nie folgerichtig der litterature generale als Aufgabengebiet zu, »un ordre de recherches qui porte sur les faits communs ä plusieurs lit-l eratures, consideres comme tels, soit dans leur dependances reeipro-ques, soit dans leur co'incidence« (ebd. S. 174)23. Pichois-Rousseau geben zwar diese Differenzierung nicht preis, schränken aber den Bereich der litterature generale auf literargeschichtliche Analogien ein i/jR, S. 95). Rene. Wellek hat darauf hingewiesen, daß Van Tieghem selbst außerstande war, eine reinliche Scheidung der beiden Begriffe und ihres Inhalts vorzunehmen In seinem Auisatz »The Concept of Com-l»,ii,uivc Literature« bemerkt er zu diesem Thema: |( lomparative Literature] is now an established and comprehensible terra, while »general literature* is not. >General literature.< used to mean poetics, theory of 11 literature, and M. Van Tieghem has tried to give it a new and special sense. Neither meaning is well established today. M. Van Tieghem drew a distinction between comparative literaturc< which studies the interrelationship between two or more literatures and >general Hterature< which is concerned with international movements. But how can one determine whether e. g. Ossianism is a topic of >general< or >comparative< literature? One cannot make a valid distinction between the influence of Walter Scott abroad and the vogue of the historical novel. >Compara-tivc< and >general< literature merge inevitably {YCGL 2 [1953], S. 4). Unter den innerhalb der litterature generale zu behandelnden Themen nennt Van Tieghem u. a. das Studium international wirksamer Einflüsse wie den Petrarkismus und den Rousseauismus, die Beschäftigung mit geistesgeschichtlichen Problemen wie dem Humanismus, dem Rationalismus und der Empfindsamkeit, die Analyse ausgreifender literarischer Bewegungen wie Naturalismus und Symbolismus und die sogenannten »formes communes d'art ou de style« (sprich: Gattungen) wie das Sonett, die klassische Tragödie und den Dorfroman (Van Tieghem, S. 176). Andererseits behandelt er aber im zweiten Kapitel des Hauptteils seiner methodologischen Übersicht das Genre- und Stilproblem als ein komparatistisches Ressort. Hier hebt sich also, wie Wellek andeutet, die künstliche Trennung ganz von selbst auf. Auch ist zu beachten, daß die von Van Tieghem zur litterature generale geschlagenen Themen teils literar- und teils geistesgeschichtlicher Art sind. Sinnvoll wäre die Scheidung aber nur, wenn das Literarische vom Philosophischen, Religiösen und Naturwissenschaftlichen abgezweigt und die »history of ideas« als Hilfswissenschaft deklariert würde. Darüber im folgenden mehr.24 Wie wenig zufriedenstellend Van Tieghems Begriffsbildung ist, geht ferner daraus hervor, daß Guyard seinen Herrn und Meister verleugnet, wenn er im siebten, »Grands courants europeens: idees, doctrines, sentiments« überschriebenen Kapitel seines Abrisses auf die Kontamination hinweist und, indem er sie als notwendiges Übel akzeptiert, die methodologische Fehlleistung seines Vorgängers anprangert : Paul Van Tieghem proposait de nommer litterature generale cette forme superieure de comparatisme qui depasse le plan des relations >binaires< pour prendre sur les mouvements d'idees ou les courants de sensibilite un point de vue veritablement international, en tout cas europeen. La litterature generale embrassait egalement pour lui les faits proprement litteraires: histoire des genres, des formes, des themes. Ce livre evite soigncusement les discussions theoriques, souvent oiseuses en ce domaine. ... Au lectcur ignorant, ou justement insoucieux, des qucrelles verbales, 11 faut pourtant indiquer ... que si les mots litterature generale ont un sens, ile s'appliqucnt precisement aux etudes comparatistes qu'envisage le present chapitrs (Guyard, S. 96f.). Von der Nationalliteratur zur litterature comparee und von dieser über die litterature generale Van Tieghems aufsteigend, gelangen wir letztlich zur sogenannten Weltliteratur, einem Begriff, der zwar, samt 12 seinen fremdsprachlichen Entsprechungen (litterature universelle, world literature usw.) weniger umstritten ist als litterature generale, ohne daß sich bei seiner Bestimmung Überschneidungen gänzlich vermeiden ließen. Es ist im Rahmen dieser Darstellung nicht möglich, das ganze Spektrum etwaiger Bedeutungen in Augenschein zu nehmen. (Wir können den Leser dafür auf die reichhaltige Sekundärliteratur zu diesem wichtigen Thema verweisen.25) Uns geht es lediglich darum, eine Abgrenzung der Nuancen des Begriffs vorzunehmen, die die vergleichende Literaturwissenschaft tangieren oder mit ihr kollidieren. Wie aus den von Fritz Strich zusammengestellten Äußerungen Goethes hervorgeht, verstand der greise Dichterfürst unter »Weltliteratur« ein historisch bedingtes und durch die politische und technische Entwicklung der unmittelbaren Vergangenheit, d. h. durch die »gegenwärtige, höchst bewegte Epoche« und die »durchaus erleichterte Kommunikation«26 erklärbares Phänomen. Diese »höchst bewegte Epoche« war aber ein Vermächtnis Napoleons; »denn die sämtlichen Nationen, in den fürchterlichsten Kriegen durcheinander geschüttelt, sodann wieder auf sich selbst einzeln zurückgeführt, hatten zu bemerken, daß sie manches Fremde gewahr geworden, in sich aufgenommen« und »unbekannte geistige Bedürfnisse hie und da empfunden« hatten. »Weltliteratur« hieß also für Goethe eigentlich nur, daß die einzelnen Nationen (oder, genauer gesagt, die zeitgenössischen Schriftsteller verschiedener Länder) »einander gewahr werden, sich begreifen, und wenn sie sich wechselseitig nicht lieben mögen, sich einander wenigstens dulden lernen.« Daß dabei die Individualität der Nationalliteraturen gewahrt bleiben müsse, hielt Goethe für unumstößlich. Er betonte ausdrücklich, »daß nicht die Rede sein könne, die Nationen sollen überein denken.« Ein Ausgleich sollte vermittels dieser weltweiten literarischen Berührung der Sphären nur innerhalb der einzelnen Literaturen erfolgen - keineswegs aber in der Form der Nivellierung. So schrieb Goethe am 12. Oktober 1827 an Boisseree: »I herbei läßt sich ferner die Bemerkung machen, daß dasjenige, was ich Weltliteratur nenne, dadurch vorzüglich entstehen wird, wenn die Differenzen, die innerhalb der einen Nation obwalten, durch Ansicht und Urteil der übrigen ausgeglichen v/erden.« Bewußt hütete sich Goethe davor, der kulturellen Gleichschaltung das Wort zu reden. Im Gegenteil: Nichts haßte er mehr als diese Art von Sanskulottismus, mit deren unausbleiblichen Folgen dank einer immer größeren Technisierung des Kommunikationssystems wir heute zu rechnen haben. In Zeiten des engstirnigen Nationalismus ist zwar das Uterarische Weltbürgertum (cosmopolitisme) zu begrüßen; doch sind seine Auswüchse schärfstens abzulehnen. Als Studienobjekt im Rahmen der vergleichenden Literaturwissenschaft 13 nahm dieser Kosmopolitismus - wenigstens bei den Franzosen - von jeher eine Sonderstellung ein, weil die Komparatistik vielfach in seinem Boden Wurzeln schlägt.27 So spricht Van Tieghem von den vier kosmopolitischen Zeitaltern der europäischen Literatur: Au moyen äge, Fidentite de la foi religieuse et de la culture latine, un immense fonds commun de legendes pieuses, chevaleresques, populaires, etablissaient entre tous les clercs ou lettres de FOccident d'innombrables points de contact, et les faisaient se sentir citoyens d'une meme cite divine et humaine. Au XVIe siecle, la Renaissance, en proposant comme sources communes de la pensee les grands pen-seurs grecs et latins, rapprochait etroitement tous les humanistes des divers pays, epris de ce meme ideal et nourris de cette meme substance, tous les ecrivains qui tentaient ici et lä de rivaliser avec les anciens en les imitant. Au XVlIIe siecle, Fusage de la langue francaise repandu dans les hautes classes de toute l'Europe, l'admiration pour les ecrivains francais ... la similitude des gouts litteraires et des tendances philosophiques, unissaient les litterateurs et le public eclaire de toutes les nations dans un cosmopolitisme rationaliste. Enfin, au XIXe siecle, sous l'influence des revolutions, des guerres, des emigrations ... sous ['impulsion des etudes historiques et philologiques ... et surtout par Faction du romantisme, beaueoup de critiques considerent les litteratures modernes de l'Europe comme un ensemble, dont les diverses parties presentent des contrastes ou des ressemblances (Van Tieghem, S. 26£). Von Rousseau inspiriert, übertrug Sebastien Mercier den Begriff des Kosmopolitismus auf die Literatur und Joseph Texte gewährte ihm Heimatrecht in der Literaturgeschichtsschreibung.28 Als kom-paratistische Kategorie halten wir dieses Phänomen - *" dem die Teilnehmer am Fribourger Kongreß der AILC/ICLA (1964) ihre besondere Aufmerksamkeit zuwandten29 - schon deshalb für anrüchig, weil es einen politischen Beigeschmack hat und erst entschärft werden muß, ehe eine rein literarische Anwendung erfolgen kann. In der Literatursoziologie fungiert der Kosmopolitismus unter dem Decknamen der Belesenheit. Goethes Auffassung der Weltliteratur erweist sich nach dem oben Gesagten wegen des Verweises auf internationale Kontakte und lebendige literarische Wechselbeziehungen ohne Verzicht auf nationale oder individuelle Sonderheiten als fruchtbar für die vergleichende Literaturwissenschaft, zum Teil wohl auch deshalb, weil sie der Rolle des Mittlers oder Vermittlers (transmetteur, intermediary) eine Bedeutung zuschreibt, die unserer Disziplin nach der »klassischen« Theorie durchaus zukommt. In diesem Sinne befassen sich französische und nichtfranzösische Komparatisten seit langem mit Übersetzern, Reisenden, Auswanderern, politischen Flüchtlingen, Salons und am überregionalen Austausch literarischer Güter beteiligten Publikationsorganen, soweit es sich diese zur Aufgabe gemacht haben, die Dichtung eines Landes in einem anderen zu verbreiten. Mit den bisherigen Ausführungen ist der vielfältig schimmernde und schillernde Begriff der Weltliteratur keineswegs ausgeschöpft. Wir können nicht umhin, als abschreckendes Beispiel eine zweite, besonders in den Vereinigten Staaten weit verbreitete und in dortigen akademischen Kreisen populäre Nuance kurz zu charakterisieren. Es handelt sich um die in den sogenannten »World Literature«, »Freshman Literature« oder »Great Books«-Vorlesungcn an die Studenten herangetragenen und für sie interpretierten literarischen Meisterwerke aller Zeiten und Zonen - wobei allerdings erst in neuester Zeit in Ausnahmefällen der Rahmen des christlichen Okzidents überschritten wird.30 Um eine Verwechslung dieses Hilfsbegriffs mit dem Goetheschen Terminus »Weltliteratur« zu vermeiden, empfiehlt es sich vielleicht, statt »world literature« classics zu sagen, ohne die Anwendung dieses Epithetons mit T. S. Eliot auf die ganz großen und in ihrer Wirkung einzigartigen Werke wie die Aeneis und die Göttliche Komödie zu beschränken. Im Gegenteil sollte man mit Matthew Arnold in dieser Rubrik »the best that is known and thought in the world« zusammenfassen. Wichtig für unsere spezielle Fragestellung ist der Umstand, daß (wenigstens im Prinzip und soweit die in den Lehrplänen ausgesprochenen pädagogischen Absichten in Betracht kommen) an eine wirklich und durchgehend vergleichende Darstellung dieser Meisterwerke kaum je gedacht wird und komparatistische Methoden nur vereinzelt da, wo eine gattungsmäßige oder thematische Einheitlichkeit angestrebt wird, zur Anwendung gelangen. Hinzu kommt, daß die Analyse der »Great Books« oft in kooperative Einführungsvorlesungen in die allgemeine Kulturgeschichte eingebaut wird, was eine im literarhistorischen und -kritischen Sinne komparatistische Darbietung weitgehend ausschließt. Vergessen wir nicht, abschließend auf die durch die Häufigkeit ihres Gebrauchs hervorstechende Bedeutung des Wortes »Weltliteratur« als Abbreviatur für »Geschichte der Weltliteratur« hinzuweisen, wobei an eine Entsprechung mit litterature comparee = Vergleichende Literaturgeschichte und litterature generale = Allgemeine Literaturgeschichte zu denken ist. Die Geschichte der Weltliteratur muß sinnvoll als eine Geschichte der Literaturen der Welt verstanden werden, wobei prinzipiell zwischen großen und kleinen, bedeutenden und unbedeutenden Beiträgen nicht zu unterscheiden wäre. Da aber offensichtlich die großen Literaturen im allgemeinen besser bekannt sind als die kleinen, hat es sich die AILC/ICLA zur Aufgabe gemacht, der - oft vermittelnden - Rolle der kleineren oder jüngeren Geschwister besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Ihr war deshalb ein Teil der Referate beim Utrechter Kongreß des Jahres 1961 gewidmet. An Übersichten über die Geschichte der Weltliteratur herrscht (trotz des unglaublichen Wissensstoffes, der vorauszusetzen ist) kein Mangel. Dies erhellt sowohl aus den in der Bibliography of Comparative Literature (S. 7f.) gemachten Angaben als auch aus der auf die unmittelbare Vergangenheit bezogenen, aufschlußreichen Darstellung von Jan Brandt Corstius in dessen Aufsatz »Writing Histories of World Literature«31. Der holländische Gelehrte macht im Rahmen seiner Ausführungen darauf aufmerksam, daß die überwältigende Mehrheit der von ihm besprochenen Übersichten analytischer Natur sind, in ihnen also die Literaturen der Welt nach geographischen, sprachlichen oder chronologischen Gesichtspunkten der Reihe nach einzeln behandelt werden. Dafür mag das von Wolfgang von Einsiedel geleitete, bereits erwähnte Kindlersche Sammelwerk Die Literaturen der Welt als Beispiel dienen. Selbst hier sind allerdings sämtliche indischen Literaturen in einem Kapitel zusammengefaßt, was besonders den uneingeweihten Leser verwirrt und ein richtiges Setzen der Akzente verhindert. Der Versuch, die Geschichte der Weltliteratur so zu schreiben, daß die Wechselbeziehungen der einzelnen an der Schaffung einer Tradition beteiligten Literaturen mitberücksichtigt werden, ist kaum je unternommen worden, zuletzt wohl von Werner P. Friedrich und David H. Malone, deren Outline of Comparative Literature from Dante to O'Neill im ganzen leider als mißglückt bezeichnet werden muß.32 So besaß Brandt Corstius' Kritik noch vor einem Jahrfünft uneingeschränkte Gültigkeit: After what has been said it seems obvious that the time for writing a history of world literature in the synthetic manner has not yet arrived. There is some difficulty in using the term world literature in connection with literary historiography. This term surely cannot be understood in the Goethean sense of the conditions favorable to cosmopolitanism in literature. For the history of world literature is neither a history of the preliminaries of a cosmopolitan literature nor the history of that literature itself. It cannot be taken in the canonic sense of the Great Books; the history of world literature cannot use this concept as an organizing principle because we do not possess the knowledge demanded by such a task. It would perhaps be better simply to speak of the history of literature.33 Inzwischen bahnt sich aber in der internationalen Literaturgeschichtsschreibung eine neue Entwicklung an. Ob der von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften den Mitgliedern der AILC/ ICLA in Belgrad vorgelegte und von ihnen gutgeheißene Plan einer gemeinschaftlich abzufassenden Histoire comparee des litteratures de langues europeennes sich in toto realisieren läßt, bleibt abzuwarten. Doch ist anzunehmen, daß wenigstens die Vorstufe zu dieser synthetischen Gesamtdarstellung der Literatur in den europäischen Sprachen - die zunächst projektierte Reihe von Sammelbänden über verschiedene gesamteuropäische Bewegungen - in absehbarer Zeit verwirklicht wird.M Bei unserer Umschreibung des Begriffs der litterature generale in der ihm von Paul Van Tieghem aufoktroyierten Bedeutung begaben wir uns in einen Grenzbereich, eine Art von akademischem Niemandsland, das sich zwischen dem Hoheitsgebiet der Literatur als schöner Kunst (helles lettres) und anderen, entweder zur Literatur hin tendierenden oder von ihr gespiegelten Wissenszweigen erstreckt. In jenem besonderen Fall hieß der Grenzbereich »Geistesgeschichte« (history of ideas) und verband die schöngeistige Literatur mit der Philosophie, Theologie und ähnlichen systematisch verstandenen Ausdrucksformen abstrakten Denkens. Da die Literatur - als Sammelbecken der Überlieferung geistiger Werte an die Nachwelt -eine Schlüsselstellung im kulturellen Bereich einnimmt, gibt es solcher Grenzgebiete die Hülle und Fülle. Der Literaturwissenschatt-Icr (ganz gleich, ob er Komparatist ist oder Einzelphilologie betreibt) muß ihren methodologischen Stellenwert bestimmen. Der vergleichende Literaturwissenschaftler muß sich zudem aus praktischen Gründen entscheiden, ob er die rigorose französische Auffassung I ei len oder sich der Meinung Henry H. H. Remaks anschließen will, in dessen Augen ('.t »mparative literature is the study of literature beyond the confines of one particular country, and the study of the relationships between literature on the one hand and other areas of knowledge and belief, such as the arts ... philosophy, hislory, the social sciences, the sciences, religion, etc., on the other. In brief, it is i lie comparison of one literature with another or others, and the comparison of literature with other spheres of human expression SjF, S. 3) Der Kürze halber wollen wir in dieser einleitenden Übersicht das Problem des Wechselverhältnisses von Literatur, Musik, Malerei, Skulptur, Architektur, Tanz und Film ausklammern, weil wir es im M hten Kapitel gesondert behandeln wollen. Dort werden wir auch den sogenannten semi-literarisehen Genres wie dem Libretto, der Emblematik, dem Filmskript usw. Gerechtigkeit widerfahren lassen. ( rrundsätzlich sei aber schon hier betont, daß insofern die Literatur Kunst, d. h. also zweckfreie schöpferische Tätigkeit der menschlichen Einbildungskraft ist, als sie ausdrucksmäßige Gemeinsamkeiten mit den Schwesterkünsten aufweist, die die Anwendung einer gemeinsame n' I 'crminologie trotz unterschiedlicher Medien möglich macht oder u enigstens erlauben sollte. Schon aus diesem Grunde neigen wir dazu, • l.t'. Studium der belies lettres in ihrem Zusammenhang mit den beaux .ah als komparatistisch zu bezeichnen, besonders wenn es sich um I >' ippelbegabung, Gesamtkunstwerk, Nachahmung einerKunst durch ■ lie iiudere und ähnliche Erscheinungen handelt. Dem Puristen ist Vielleicht damit Genüge getan, daß wir diese Materie als »verglei-l In mir Geschichte und Wissenschaft von den Künsten« klassifizieren ii ml uns verpflichten, als vergleichende Literaturwissenschaftler bei Ihfet Behandlung stets von der Literatur auszugehen und zu ihr zunu kzukehren. Die von W. P. Friederich zur Beruhigung des philologischen Gewissens vorgeschlagene Trennung von Forschung und 16 17 Lehre lehnen wir auch in diesem Sonderfall als einen menschlich und wissenschaftlich unvertretbaren Kompromiß ab.36 Nicht ganz so einfach liegt der Fall - unserer Meinung nach - beim Studium des Verhältnisses der Literatur zu den nichtkünstlerischen oder nicht primär künstlerischen »spheres of human expression« wie der Philosophie, der Theologie, der Historiographie und den reinen oder angewandten Naturwissenschaften. Ehe man sich hier ein abschließendes Urteil bildet, sollte man vielleicht die naiv erscheinende Frage stellen, was Literatur eigentlich ihrem Wesen nach sei. Diese Frage, die Wolfgang von Einsiedel in seiner Einleitung zu dem von ihm betreuten Sammelband Die Literaturen der Welt kurz anschneidet (er stellt z. B. fest, daß das mittellateinische Wort litteratura »seit Hieronymus zunächst das weltliche Prosaschrifttum zum Unterschied vom geistlichen, scriptura genannten« bezeichnete36), wird von Robert Escarpit in einem bislang nur in hektographierter Form zugänglichen Beitrag zum Dictionnaire internationale des termes littéraires aufgegriffen.37 Wir können den historischen Bedeutungswandel des Wortes hier nur in den allergröbsten Umrissen nachzeichnen: Sowohl im Englischen als auch im Französischen wurde der Begriff ursprünglich im Sinne von »Bildung« oder »Belesenheit« verwendet. (Escarpit zitiert als Beispiel den Satz Voltaires: »Chapelain avait une littérature immense«). Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde das Schwergewicht vom lesenden Subjekt auf das Objekt der Lektüre übertragen, wobei zunächst unter »Literatur« die gesamte Publizistik - ganz gleich ob wissenschaftlicher oder schöngeistiger Art - verstanden wurde. In dieser Phase grenzte man die helles lettres als »Poesie« vom allgemeinen Schrifttum ab. Erst seit dem 19. Jahrhundert kommt es in zunehmendem Maße zur Trennung von zweckfreier und zweckgebundener Literatur. Sobald diese Trennung endgültig vollzogen und unwiderruflich geworden ist, gilt die von Raymond Queneau in seinem Vorwort zur Encyclopédie de la Pléiade gegebene Definition der Literatur als »art ďécrire par Opposition aux usages fonctionels de l'expression ecrite« in einem Zeitalter, in dem »les techniciens sortent au für et ä mesure de 1'élévation de leur specialita ä la dignitě de sciences.« Vergessen wir nicht, daß noch um die Jahrhundertwende (im Falle Winston Churchills sogar erheblich später) der literarische Nobelpreis wiederholt prominenten Naturwissenschaftlern und Philosophen zugesprochen wurde. Da nun die Sonderung von Fachliteratur und imaginative literatuře (wie die helles lettres auf Englisch heißen) ein fait accompli ist, wird das Studium des Wechselverhältnisses der beiden Sphären zu einem Zuständigkeitsproblem. Gleich anfangs sei bemerkt, daß auch hier - 18 wie so oft im geistigen Bereich - eine Scheidung durchaus nicht immer gelingt, da es Zwittererscheinungen gibt, und zwar besonders da, wo die schöngeistige Literatur ins Geschichtliche und Psychologische tendiert. Wie verhält es sich z. B. in dieser Hinsicht mit den (pseudo-)literarischen Gattungen des Essays, des Tagebuchs und der Autobiographie, die erst in neuester Zeit bei der Literaturwissenschaft die ihnen gebührende Beachtung finden. Um noch ein paar Beispiele herauszugreifen: wie soll man etwa Soren Kierkegaard einstufen, dessen Entweder/Oder ein Kollege kürzlich mit erfrischendem Leichtsinn als psychologisch-erotischen Roman bezeichnete; wie die Bekenntnisse eines Rousseau oder Goethe, die Tagebücher Gides und die Essais eines Michel de Montaigne? Kann man vom Einfluß Sigmund Freuds auf die französischen Surrealisten als einem literarischen (sprich: komparatistischen) sprechen?38 Im deutschen Geistesleben scheint es selbstverständlich, daß Nietzsche - und zwar nicht nur wegen seiner Gedichte und der dichterischen Qualität seines Prosastils, sondern auch wegen seines weltanschaulichen Ein-llusses auf das schöngeistige Schrifttum Deutschlands und des Auslandes (man denke an den jungen Gide und Gabriele d'Annunzio, sowie innerhalb der Sprachgrenzen an Heinrich und Thomas Mann) ZU! Literatur geschlagen wird. Bei Meister Eckhart, Jakob Boehme c iilcr Schopenhauer wäre diese Zuweisung problematischer, während Kant in der Geschichte der Literatur höchstens indirekt (etwa auf dem Umweg über Coleridges Biographia litterarid) einen Platz an der Siiiine beanspruchen könnte. I )ie Franzosen, deren Kultur insofern einheitlicher und besser integriert ist als die deutsche, als alle schriftlichen Äußerungen ohne weil eres nach literarischen Maßstäben gemessen werden, lassen neben Montaigne, Pascal und Bergson auch den abstrakten Denker Des-i .ii les als Dichter (Schriftsteller) gelten, während man in den meisten BlJgllschen Literaturgeschichten die Namen John Locke und John '•iii.nl Mill vergebens suchen wird. Theoretisch sollte sich die Lite-i .ilin'Wissenschaft qua Literaturwissenschaft mit außerliterarischen l'li.mnmcncn nur dann befassen, wenn die Literatur diese reflektiert; dui h läßt sich praktisch eine Kompetenz-Überschreitung kaum ver-iiii idcii. Ähnlich verhält es sich beim Studium der Literatur in ihrem i il i engen - Verhältnis zur Wissenschaft, etwa im Lehrgedicht oder Mldcrcn didaktischen Ausdrucksformen. Hier entpuppt sich der Philologe oft als Laie, der sich der Kritik des Spezialisten aussetzt. Üii wurde dem Verfasser eines den Einfluß Lukrezens auf die eng-ll'n In- Literatur behandelnden Buches vom Rezensenten vorgewor-fl ii, ci er kläre zwar eingangs, daß er den römischen Dichter nicht in mihi Eigenschaft als Naturphilosoph betrachten wolle, täte aber in Wahrheit eben dies und scheitere aufgrund seiner mangelhaften hu hliehen Vorbildung.38 19 Wir sehen schon: Bei einem Vergleich literarischer Werke mit nichtliterarischen Produkten werden dem Dilettantismus Tür und Tor geöffnet, und man tut gut daran, hier die Geistesgeschichte als Hilfswissenschaft heranzuziehen. Remaks Versuch, dieses umfangreiche Grenzgebiet für die komparatistische Forschung zu retten, beruht auf der Überzeugung, man müsse zwischen pragmatischen und systematischen Kriterien unterscheiden:»We must make sure that comparisons between literature and a field other than literature be accepted as comparative literature< only if they are systematic and if a definitely separable, coherent discipline outside of literature is studied as such« [S\F, 8. 8f.) Rein methodologisch ist, wie die wenigen angeführten Beispiele erhärten, eine solche Hypothese leider unhaltbar. Sie steht denn auch in der Geschichte unserer Disziplin vereinzelt dar, ohne daß sich ihr die französischen oder amerikanischen »Schulen« in ihren Hauptvertretern anschlössen. Welcher vergleichende Literaturwissenschaftler ließe wohl widerspruchslos die Behauptung gelten, das Studium der historischen Quellen eines Dramas von Shakespeare sei vergleichend »if historiography and literature were the main poles of the investigation, und die Untersuchung der Funktion des Geldes in Balzacs Roman Pere Goriof »if it were principally . . . concerned with the literary osmosis of a coherent financial system or set of ideas« (SjF, S. 9)? Der erste Fall geht allein den Anglisten und Historiker an, der zweite allein den Romanisten und Nationalökonomen. Die Kolonisierung so weit zu treiben, heißt die Kräfte, die einer Konsolidierung bedürfen, verzetteln. Wir Kom-paratisten sind nämlich kein Volk ohne Raum, sondern eher eines, das an Platzangst leidet. Uns ist der faustische Drang, »nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen«, nur dann erlaubt, wenn da, wo das methodologische Chaos einzubrechen droht, »Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen«. Davon überzeugt, daß der Ruf nach philologisch-historischer securityletzten Endes mit Remaks Ruf nach »mehr Einbildungskraft« vereinbar ist, wollen wir im folgenden - im Anschluß an eine ausführliche Darstellung der Wissenschaftsgeschichte (2. Kapitel) - als eindeutig in den Bereich der vergleichenden Literaturwissenschaft gehörig zunächst das Wesen des literarischen Einflusses (3. Kapitel) und der Rezeption (4. Kapitel) bestimmen, wobei das Problem der Übersetzung nur gestreift werden kann. Daran anschließen werden sich längere Ausführungen über die für unsere Disziplin so ungemein wichtigen Begriffe der Periodisierung (5. Kapitel), der Gattungsgeschichte und -poetik (6. Kapitel) und der kürzlich rehabilitierten Stoff- und Motivgeschichte (7. Kapitel). ZumAbschluß folgen einExkurs über die wechselseitige Erhellung der Künste (8. Kapitel), wobei die Grenzen der vergleichenden Literaturwissenschaft im eigentlichen Sinne überschritten werden, und ein kurzer Überblick über 20 1 tue bibliographische Lage (9. Kapitel). Nicht gesondert behandelt werden - um es in gedrängter Form zu wiederholen - die sogenannten Analogiestudien, die Geistes- und Ideengeschichte, das Verhältnis der Literatur zu den Wissenschaften, die Weltliteratur im Sinne des Kosmopolitismus und der Great Books und die analytisch verfahrende Universal-Literaturgeschichte. Daß wir weder der Volkskunde noch der mündlich überlieferten Literatur ein eigenes Kapitel widmen, bedarf keiner langatmigen Erklärung, zumal von diesen Dingen im Verlauf unserer Darstellung wiederholt und en passant die Rede sein wird.40 21