etwa das feudale Epos (Rolandslied, Nibelungenlied), das sowohl in europäischen als auch in außereuropäischen Gesellschaften anzutreffen ist, die vom Feudaladel als noblesse ďépée, als Kaste von Kriegern, beherrscht werden. Im Gegensatz zu diesem Epos, das nicht auf den Einzelnen, sondern auf die Gruppe als handelnde Instanz ausgerichtet ist4, macht der psychologische Roman das Individuum und seine Psyche zur Triebfeder des Handlungsablaufs und legt Zeugnis ab von den Peripetien des Individualismus in den verschiedenen bürgerlichen Gesellschaften Europas. Schließlich könnten die avantgardistischen Bewegungen - französischer Surrealismus, italienischer und russischer Futurismus - einander typologisch angenähert werden, weil sie vor und nach dem Ersten Weltkrieg ein Krisenbewußtscin ausdrückten, das sowohl die Gesellschaft als auch die Sprache erfaßte.5 Im folgenden werden zwei Vergleiche angestellt, die u.n, zeigen sollen, daß es im typologischen Bereich Vergleichsvan'iM-ten gibt, die von methodologischem Interesse sind: Während die Analogien, die Oscar Wildes The Importance of Being EarnäM mit Hugo von Hofmannsthals Der Schwierige verbinden, IM Zusammenhang mit dem Soziolekt der mondänen Konversation erklärt werden, soll die Verknüpfung von Kafkas Werk nill Hašeks satirischem Roman Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk zeigen, daß es auch sinnvoll ist, kontrastiv vorzugchfB Zwei Autoren können auf eine und dieselbe sozio-linguistisflM Problematik grundverschieden reagieren und sich dennoch lypuln gisch komplementär zueinander verhalten: Trotz aller UnterschjB de weisen ihre Texte ähnliche Strukturen und Struklurelenicill* auf. 2. Oscar Wilde und Hugo von Hofmannsthal: Drama und mondäne Konversation Die Dramen Oscar Wildes (1854—1900) und Hugo von Hofmanns-thals (1874—1929) könnten im Extremfall auch im Rahmen einer l'ünflußstudie verglichen werden, denn Hofmannsthal kannte I .eben und Werk des irisch-englischen Autors und kommentierte mehrmals sein Schicksal, vor allem in dem bekannten Artikel "Sebastian Melmoth" aus dem Jahre 1905. (Sebastian Melmoth war Wildes Pseudonym nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis von Reading, wo man ihn wegen seiner homosexuellen Beziehungen zu Lord Alfred Douglas eingesperrt hatte.)6 Obwohl llnlmannsthal als Ästhet und Leser von Walter Paters Werk in irincm Artikel Verständnis für Wildes ästhetisierende Revolte icigt, nimmt er einen ethischen Standpunkt ein und äußert sich llißci ordentlich kritisch: "Ein Ästhet ist naturgemäß durch und jurch voll Zucht. Oscar Wilde war aber voll Unzucht, voll tragi-K'hcr Unzucht."7 Angesichts dieses moralischen Urteils und der distanzierten lliliimg, die Hofmannsthal in seinem Artikel Wilde gegenüber einnimmt, fällt es schwer, an eine Beeinflussung im Bereich der •1» In eibweise zu glauben, zumal Hofmannsthals Texte und drama-llitlu- Dialoge den für Wilde charakteristischen "witty talk" ver-(hlisen lassen. Schon deshalb sind die Schlußbemerkungen von N|M'iie Webers kurzer Studie zu "Hofmannsthal und Oscar Wil-1 (11)71), die sich vorwiegend auf den hier zitierten Artikel ll'ilnunnsthals stützt und ansonsten eher Analogien postuliert, mit Hki |i'.is aufzunehmen: "Dennoch aber darf angenommen werden, \$*\\ seine Sympathie für Oscar Wilde weniger mit seiner Bewun-Hin)- lür England zu tun hat, als mit seinem tiefen Verständnis |p Wildes menschliche und künstlerische Problematik. Dieses 4 Siehe: E. Köhler, "'Conseil des barons' und •jugement des b.rons in. Mfm sehe Epik (Hrsg. H. Krauß), Darmstadt, Wiss. Buchgcsellschaü, 1978 S »' 5 SieheS.V. Zima, J. Strutz (Hrsg.), Europäische Avantgarde, trankfurt-Hcrn M Peter Lang Vlg., 1987. ' I- O. Wilde, -pe Ba.lad of Reading Gaol", in: ders., De Profundus and Other Marmondsworth, Penguin, 1954. " Hofmannsthal, "Sebastian Melmoth", in: ders., Gesammelte Werke, Prosa 11 inkfurt, Fischer, 1959, S. 118. 96 97 Verständnis und diese Erschütterung hat sich dann in Hofmanns-1 thals Werk abermals niedergeschlagen."8 Mit diesem Satz beschließt Weber seine kurze Betrachtung! und verrät uns nicht, wie sich Hofmannsthals "Verständnis" und I "Erschütterung" in seinen eigenen Texten artikulieren. Sein I Schweigen ist wohl kein Zufall, sondern legt die Vermutung nahe, 1 daß die genetische Betrachtungsweise im Falle von Wilde und I Hofmannsthal nicht sehr fruchtbar ist und durch eine typologische ersetzt (oder zumindest ergänzt) werden sollte. Diese Betrach- | tungsweise geht allerdings von anderen Relevanzkriterien aus und j konstruiert daher ein anderes Objekt (Kap. II) als die genetische.! Aus typologischer Sicht erscheint nicht die Frage relevant,! welche Texte Wildes Hofmannsthal kannte und wie er sie in! seinem eigenen Werk verarbeitet hat, sondern die Frage nach den I gesellschaftlichen und sprachlichen Bedingungen, unter denen The I Importance of Being Earnest (1895) und Der Schwierige (1921) entstanden sind. Vergleichbar sind diese Bedingungen deshalb, weil sich sowohl Wilde als auch Hofmannsthal zwischen zwei gesellschaftlichen Schichten bewegten: zwischen dem Großbürgertum und dem Adel. Die sprachliche Form, die diese durchaus heterogenen Schichten miteinander verband, war die mondäne Konversation, die im Mittelpunkt dieser Betrachtung steht. Die Bewegung zwischen den Schichten ist sowohl im Falle von Wilde als auch im Falle von Hofmannsthal eine Bewegung nach oben im Sinne der soziologischen vertical mobility: Sowohl Wilde als auch Hofmannsthal gehören einem Bürgertum an, das sich in Großbritannien und in der österreichisch-ungarischen Monarchie am Adel und dessen Lebensgewohnheiten orientiert. Während Wilde, Sohn eines Arztes und einer Dichterin, später in der großbürgerlich-adeligen Salongesellschaft Londons verkehrt, wird Hugo von Hofmannsthal als Sohn des Bankdirektors Hugo August Peter Hofmann, Edler von Hofmannsthal, in das geadelte Wiener Großbürgertum hineingeboren. Beide Dichter betrachten, jeder auf seine Art, den Adel als ihre Bezugsgruppe (reference group, Robert K. Merton), als diel 8 E. Weber, "Hofmannsthal und Oscar Wilde", in: Bofmannsthal-Forschungen Nr. 1 (Basel, 1971), S. 106. Gruppe, an deren Lebenswandel sie sich orientieren und in die sie aufgenommen werden möchten.9 Wilde, der zu einem der meistbewunderten, meistbegehrten Dandies der Londoner mondänen Welt und der europäischen Jahrhundertwende wird (ähnlich wie sein Freund Sir Max Beerbohm und Robert de Montesquiou in Paris), wählt den Weg der Selbststilisierung. Als Dandy, Narziß und Causeur steht er immer wieder im Mittelpunkt einer Londoner Abendgesellschaft, die sich zumeist aus Adeligen, Großbürgern und Künstlern zusammensetzt: "Adelige Herkunft, gesellschaftliches Ansehen und Reichtum beeindruckten ihn; die erstarr-Icn unterhöhlten Lebensformen dieser Kreise und ihre Heuchelei durchschaute er und zog sie ins Lächerliche. Damit belustigte er wiederum jene, die er verspottete (...)."10 Soziologisch interessant ist diese Darstellung Peter Funkes, weil sie zeigt, daß die Beziehungen zwischen Eigengruppe (Bürgertum) und Bezugsgruppe (Adel) recht komplex sein können und Ambivalenz sowie Kritik in der Bezugsgruppe nicht ausschließen. Obwohl auch Hofmannsthal hin und wieder zu den Dandies der Jahrhundertwende gezählt wird11, ist es weniger sein schwach ausgeprägtes Dandytum, das seine Ausrichtung auf den Adel erklärt, als vielmehr sein Festhalten an österreichischen Traditionen, sowie seine Affinität zur Literatur, Kunst und Politik des Barocks, die klar in seinen Artikeln über Prinz Eugen von Savoyen zum Ausdruck kommt.12 Dennoch mag Arthur Schnitzicr recht haben, wenn er ihm Snobismus und eine feudal-absoluti-slische Nostalgie vorwirft: "Während Hofmannsthals geistige Voraussetzungen in der höfisch-feudalen Vergangenheit liegen -das hat Schnitzler wohl im Auge, wenn er wiederholt von dessen Snobismus spricht; konsequent lehnt er Hofmannsthals Nach-kriegslustspiel 'Der Schwierige' ab -, kann Schnitzler die alte P Siehe: R.K. Merton, A.S. Kitt, "Reference Groups", in: Sociological Theory, New York-Toronto, Macmillan, 1957, 1964. 10 P. Funke, Oscar Wilde in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek, Rowohlt, 1969, S. 128. 11 Siehe: R.R. Wuthenow, Muse, Maske, Meduse. Europäischer Ästhetizismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 192-197. 12 Siehe: H. von Hofmannsthal, "Prinz Eugen der Edle Ritter" (1915), in: ders., Gesammelte Werke, Prosa III, op.dt., S. 292-317. 98 99 Staatsform, in der der Absolutismus bis ins 20. Jahrhundert überdauert hat, ohne Wehmut verabschieden."13 Jedenfalls ist Hofmannsthals konservative Einstellung zu Adel und Herrscherhaus weniger ambivalent und weniger kritisch als die Wildes. Allerdings könnte sein Lustspiel Der Schwierige als eine Art Abschied von der großbürgerlich-adeligen Gesellschaftsform gelesen werden. In beiden Fällen wird jedoch deutlich, daß das Verhältnis dieser Autoren zum Adel durch die gesellschaftliche Gesamtlage bedingt war, in der (wie der Fall "von Hofmannsthal" erkennen läßt) das Großbürgertum als Geldklasse Adelstitel und adeligen Besitz käuflich erwerben konnte: unmittelbar oder durch Heirat, durch die "riches manages" - etwa zwischen den Familien Gra- j mont und Rothschild -, die im ausgehenden 19. Jahrhundert in England, Frankreich und Österreich gang und gäbe waren und dem Adel in Finanznöten halfen. Zur Umschichtung der wirtschaftlichen und finanziellen Machtverhältnisse im England der I Jahrhundertwende bemerkt ganz zu Recht Ria Omasreiter: "Zu Wildes Zeiten ist eine leichte Verschiebung festzustellen: Der Geldadel steht gleichwertig neben dem Grundbesitz (.-)."14 Die-, ser Geldadel ist zu einem Großteil großbürgerlicher Herkunft. Zusammen mit den Adeligen bilden die Großbürger Englands, Frankreichs, Deutschlands und Österreichs eine recht homogene 1 Klasse von Individuen, die es sich leisten können, von ihren Renten, Aktien oder Obligationen zu leben und dem Wirtschaft- j liehen Produktionsprozeß fernzubleiben. Der amerikanische Soziologe Thorstein Vehlen bezeichnet in einer berühmt gewordenen Studie diese Klasse (und vergleichbare historische Gruppierungen) als leisure class (Mußeklasse, classe de loisir), deren Angehörigen ihr akkumuliertes Kapital und ihre Macht durch aufwendigen, luxuriösen Konsum zur Schau stellen ("ostentatious consumption"), um sich von den produzierenden Gruppen abzuheben, die genötigt sind, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen.15 Sowohl Wilde als auch Hofmannsthal gehören dieser Mußeklasse an: der eine, weil er von ihr adoptiert, der andere, weil er in sie hineingeboren wurde. Innerhalb dieser gesellschaftlichen Gruppierung stehen sie auf seiten eines Bürgertums, das den Niedergang adeliger Macht erlebt und sich zugleich im Dandytum oder im Snobismus an der ruhmvollen Vergangenheit der untergehenden Klasse orientiert. Diese Lage stellt Baudelaire anschaulich in seiner bekannten Skizze des Dandys dar: "Der Dandysmus erscheint mit Vorliebe in Übergangszeiten, wenn die Demokratie noch nicht allmächtig Ist, wenn die Aristokratie erst zum Teil wankt und herabsinkt."16 Iis sind Zeiten, in denen Adel und Bürgertum als "reference group" und "group of origin" eine politisch-wirtschaftliche Symbiose eingehen, die den Müßiggang und die "ostentatious con-siimption" ermöglicht, von denen bei Vehlen die Rede ist. Ein kulturelles Produkt der durch das akkumulierte Kapital linanzierten Muße ist die mondäne Konversation, die in der londoner, Pariser und Wiener Salongesellschaft eine wichtige Funktion erfüllt und als Soziolekt der Mußeklasse aufzufassen ist. Denn es leuchtet ein, daß nur Müßiggänger, die es nicht nötig haben, sich unablässig über praktische Fragen und Zielsetzungen tu verständigen, in der Lage sind, einen Sprachgebrauch zu pflegen, der nicht auf das "Was", sondern ausschließlich auf das "Wie" ausgerichtet ist: auf das Bonmot, das prestigeträchtige klassische Zitat, den brillanten Zwischenruf und die unerwartete fepartie. Dieser Sprachgebrauch wird jedoch nicht nur von der Kapital-iikkumulation ermöglicht, sondern ist in jeder Hinsicht durch das (Jeld als Tauschwert vermittelt. Der Vermittlungsprozeß ist zu-nächst als ein Vorgang darstellbar, in dem symbolisches oder linguistisches Kapital - im Sinne von Pierre Bourdieu - getauscht wird. Der Causeur ist bestrebt, seinen mondänen Wert (d.h. die 13 H. Scheible, Schnitzler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek, Rowohlt, 1976, S. 113. 14 R. Omasreiter, Oscar Wilde. Epigone, Ästhet und wit, Heidelberg, Carl Winter Universitätsverlag, 1978, S. 33. I > Siehe: T. Veblen, 77ie Theory of the Leisure Class, New York, Macmillan, 1899, 1912. I(> Ch. Baudelaire, "Le Dandy", in: ders., (EuvrescompletesII, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pleiade), 1976, S. 711. 100 101 mondäne Nachfrage) durch gewandte Formulierungen, übcrra-1 sehende Redewendungen und ein Bonmot oder geflügeltes Wort im richtigen Augenblick zu erhöhen. Es kommt nicht darauf an, I philosophische und wissenschaftliche Wahrheiten zu verkünden, < moralische oder politische Positionen zu verteidigen, sondern philosophisches, wissenschaftliches und politisches Vokabular taktisch optimal einzusetzen, um die Nachfrage zu steigern und begehrenswert zu erscheinen. So sagt beispielsweise Abel Her-1 mant von der Beziehung zwischen einer philosophisch geschulten Dame und einem Causeur: "Sie besaß das Vokabular des Philoso-1 phen und war deshalb für den Causeur interessant (...)."17 Diese Bemerkung bestätigt Pierre Bourdieus These, daß kultu-1 relles bzw. linguistisches Kapital einerseits als Besitzform ("sie besaß", "eile possedait") durch das Geldkapital ermöglicht wird, >' andererseits jederzeit als "Bildung" ins Geldkapital rückverwan-I delt werden kann. Dies ist der Grund, weshalb Bourdieu iml Zusammenhang mit diesen beiden Kapitalformen von deren Konvertibilität ("convertibilite parfaite") spricht.18 Diese Konvertibilität des symbolisch-linguistischen Kapitals tritt in der Konver-I sation besonders kraß in Erscheinung, weil Bildung in diesem Soziolekt keinen moralischen, politischen oder kognitiven Wert hat, sondern ausschließlich Tauschwert. Im Zusammenhang mit Hofmannsthals Der Schwierige weist I Lothar Wittmann unmißverständlich auf die Analogie von Geldverkehr und mondäner Konversation hin. Dabei stützt er sich auf einige Bemerkungen des Barons Neuhoff: "Der scharfsinnige Neuhoff spricht von der Umgangs- und Konversationssprache als von dem 'Papiergeld des täglichen Verkehrs' (...) und verwendet damit einen Begriff aus dem Bereich des Geschäfts. Der 'Geschäftston' des 'täglichen Verkehrs' hat die Struktur des 'Papier-gelds'".19 Später fügt er verallgemeinernd hinzu: "So bleibt als Ergebnis: das menschliche Versagen der 'Konversation' ist nicht nur Folge ihres falschen Gebrauchs, ist nicht nur eine akute Krise, sondern ein chronisches Urübel sozialer Sprachlichkeit, bereits in ihren Wesensgrundlagen vorgebildet."20 In seiner luziden Dar-slellung bleibt Wittmann allerdings auf halbem Wege stehen, da er nicht der Frage nachgeht, was das 'Wesen' der Konversation iiusmacht. Es ist die Vermittlung durch den Tauschwert, die sich nicht nur auf der hier dargestellten ersten Ebene als Tausch von Bildungsgütern, als echange de bon mots, manifestiert, sondern auch iiuf einer zweiten Ebene, auf der die Konversation als wertindifferenter Sprachgebrauch erscheint, in dem jede Ambivalenz (als /usammenführung unvereinbarer Werte) und jedes Paradox möglich sind. Wie indifferent der mondäne Soziolekt ist, verdeutlicht line Passage aus Wildes Roman The Picture of Dorian Gray (1891), in der eine Herzogin zu Wort kommt: "We have had such I pleasant chat about music. We have quite the same ideas. No; I Ihink our ideas are quite different. But he has been most pleasant."21 "Quite the same" und "quite different" werden gleichgültig, weil es in der Konversation, ähnlich wie in Mallarmes "uni-vcrscl reportage", um einen Worttausch geht, den man ebensogut durch den stillen Tausch von Münzen ersetzen könnte. Dieser Wertindifferenz entsprechen der Zynismus und die iimoralische Attitüde der Dandies, die Wilde auftreten läßt. Lord Wottons Weltbild in The Picture of Dorian Gray ist das des wertfrei denkenden Wissenschaftlers: "There is no such thing as it good influence, Mr. Gray. All influence is immoral - immoral Itom a scientific point of view."22 Mit Recht spricht Hiltrud (iiiiig in diesem Zusammenhang von den "amoralischen Bonmots der Konversation".23 Komplementär zur Wertfreiheit als Ver-liiuschbarkeit der Werte verhält sich der Zynismus eines Lord I larlington in Lady Windermere's Fan (1893): "What is a cynic?" fragt er und antwortet: "A man who knows the price of every- 17 A. Hermant, "Du monde et de la conversation", in: ders., Souvenirs du Vicomte (It Courpiere - par un temoin, Paris, Flammarion, s.d., S. 137. 18 P. Bourdieu, Le Sens pratique, Paris, Minuit, 1980, S. 202: "Capital economiquo et capital symbolique sont (...) inextricablement meles (...)." 19 L. Wittmann, Sprachthematik und dramatische Form im Werke Hofmannsthah, Stuttgart, Kohlhammer, 1966, S. 147. .'ii Ibid. 'I 0. Wilde, The Picture of Dorian Gray, Harmondsworth, Penguin, 1949, S. 55. Ibid., S. 24. 13 II. Gniig, Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart, Metzler, 1988, S. 295. 102 103 Z lc- thing and the value of nothing."24 Im Gegensatz zwischen "pri ce" und "value" kollidieren Tauschwert und Gebrauchswert (Kul turwert) im Soziolekt der "leisure class". Die Konversation als kollektiver Sprachgebrauch ist nicht nui ein Kommunikationsmittel, mit dessen Hilfe Müßiggänger ihi Ansichten artikulieren, sondern auch eine diskursive Struktur, di< die Subjektivität des mondänen Redners konstituiert. Wie sehr die Angehörigen der mondänen Gesellschaft als Dandies, Causeurs oder Snobs in der Konversation leben, in ihr aufgehen und von i zu Subjekten gemacht werden, zeigt Richard Ellmanns Wilde Biographie, in der die Bekanntschaft zwischen Wilde und Whist' ler als eine Beziehung in der Konversation erkannt wird. Die von Ellmann zitierten Telegramme, die Wilde und Whistler einander um 1883 zuschickten, lassen die für die mondäne Gesellschaft charakteristische Kombination von "witty talk" und Narzißmus erkennen: Wilde: "When you and I are together we never talk about anything except ourselves." Whistler: "No, no, Oscar, you forget. When you and I are together, we never talk about anything except me." Wilde: "It is true, Jimmy, we were talking about you, but I was thinking of myself."25 "The narcissists outdid each other", kommentiert Ellmann diesen telegraphischen Schlagab tausch.26 Er deutet zugleich an, daß der Narzißmus als kollektives Phänomen von einer Kommunikationsstruktur begünstigt wird, die die Gesetze des Angebots und der Nachfrage beherrschen: Sowohl der Dandy als auch der Causeur bemühen sich, auf die Nachfrage - auf die demande im Sinne von Lacan - einzuwirken, um sich das Begehren der anderen zu sichern. "Der Dandy ist ein Narziß, er will sich in bewundernden Augen spiegeln", kommentiert Philippe Jullian diesen Sachverhalt.27 Weit davon entfernt, ein bloßes Stilmittel zu sein, ist die mondäne Konversation ein modus vivendi im linguistischen, soziologischen und psychologischen Sinn. Indem sie auf der 24 O. Wilde, Lady Windermere's Fan, in: ders., Plays, Harmondsworth, Penguin, 1954, S. 55. 25 R. Ellmann, Oscar Wilde, New York, Alfred A. Knopf, 1988, S. 271. 26 Ibid. 27 P. Jullian, Robert de Montesquieu. Un Prince 1900-1930, Paris, Perrin, 1965, S. 64. 104 Ebene der externen Intertextualität (s. Kap. II.4) in die Dramen Wildes und Hofmannsthals eingeht, bildet sie den vitalen Nexus /wischen Text, Psyche und Gesellschaft. Über sie dringen die Nozialen und psychischen Probleme einer gesellschaftlichen Gruppe (der leisure dass) in das Drama ein und schlagen sich dort in per Textstruktur nieder. Die beiden wesentlichen Probleme, die sowohl in Wildes The Importance of Being Earnest als auch in Hofmannsthals Der Schwierige in Erscheinung treten, sind: der Niedergang der Subjektivität, der sich teilweise im Zusammenhang mit der Passivität der Müßiggänger, der rentiers erklärt, und die Wertindifferenz des mondänen Soziolekts, die das für Wildes Dramen charakteristische l'iiradoxon zeitigt. Sie ist zugleich für die Ichschwäche der Akteu-ii' und den Zerfall der Subjektivität verantwortlich, da sie den für moralische und politische Ideologien lebenswichtigen wertenden (Jegensatz (etwa Gut/Böse) sophistisch aufhebt. Das Zusammenwirken dieser beiden Faktoren - sprachliche Indifferenz und Schwächung des Subjekts - erklärt den Zerfall der dramatischen Handlung. Auf ihn hat bereits Peter Szondi in seiner llieorie des modernen Dramas (1956) hingewiesen: "Die Ver-nbsolutierung des Dialogs zur Konversation rächt sich nicht nur qualitativ, sondern auch dramaturgisch. Indem die Konversation /.wischen den Menschen schwebt, statt sie zu verbinden, wird sie unverbindlich. (...) Sie hat keinen subjektiven Ursprung und kein objektives Ziel: sie führt nicht weiter, geht in keine Tat über."28 Diese Kurzcharakteristik des "Konversationsstücks" ist in jeder I linsicht auf Wildes The Importance of Being Earnest anwendbar: ein Drama, in dem Handlung durch Konversation verdrängt, bisweilen ersetzt wird. Schon von seinem Roman The Picture of Dorian Gray behauptet Wilde, er sei "all conversation and no !h P. Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frankfurt, Suhrkamp, 1959, S. 88. Siehe auch P. Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siede (Studienausgabe der Vorlesungen Bd. 4), Frankfurt, Suhrkamp, 1975, S. 177 und S. 364-365. Szondis Definition des "Konversationsstücks" ist leider zu formalistisch: Er wendet diesen Begriff sowohl auf Hofmannsthals Der Schwierige als auch auf Becketts En atten-dant Godot an und scheint dabei die grundverschiedenen gesellschaftlichen und sprachlichen Situationen zu übersehen, aus denen diese Dramen hervorgegangen sind. 105 action (...)• My people sit in chairs and chatter."29 An andere Stelle bemerkt er, er habe den ersten Akt von A Woman of Importance mit Absicht aller Handlungsmuster entledigt, um di Kritiker zu brüskieren, die den schwachen Handlungsablauf vo: Lady Windermere's Fan bemängelt hatten.30 Hier tritt nicht n Wildes penchant für mondäne Provokation in den Vordergrund, sondern auch seine Neigung, die dramatische Handlung der Konversation unterzuordnen: dem Soziolekt seiner Gruppe, dem er als Causeur und Dandy seine Salonexistenz verdankte. Eindeutiger als in den anderen Dramen, in denen Handlung und "witty talk" miteinander konkurrieren, setzt sich in Wilde« letzter Komödie, in The Importance of Being Earnest, die Konversation durch. Ihr verdankt "Bunbury" sein (im Drama) fiktive« Dasein, das ausschließlich dazu dient, Algernon Moncrieffs Rci« sen und andere Eskapaden in den Augen seiner Verwandten zu legitimieren. Algernon erläutert seinem Freund Jack, was es mil Bunbury auf sich hat, sobald er erfährt, daß Jack die Existenz eines jüngeren Bruders Ernest erfunden hat: ALGERNON: You have invented a very useful young brother called Ernest, iii order that you may be able to come up to town as often as you like. I hiivi invented an invaluable permanent invalid called Bunbury, in order that I may iii able to go down into the country whenever I choose. Bunbury is perfectly invaluable. If it wasn't for Bunbury's extraordinary bad health for instance, I wouldn't be able to dine at Willi's tonight, for I have been really engaged Aunt Augusta for more than a week." Es ist wohl kein Zufall, daß der Titel der deutschen Ül setzung dieser Komödie Bunbury (1907) lautet; denn diese zw! fach fiktive Gestalt steht im Mittelpunkt des Dramas: erstens, wöfl sie ein Produkt der Konversation ist und das Verb "to Bunbury", das Algernon erfindet, für die Unwirklichkeit des Ganzen symptomatisch ist; zweitens, weil "Bunbury" ironisch suggeriert, dull 29 O. Wilde, in: R. Shewan, Oscar Wilde. Art and Egotism, London, Macmillan, 197", S. 154. 30 Siehe: O. Wilde, in: R. Shewan, op.cit., S. 154: "I wrote the first Act of A Wiimm of No Importance in answer to the critics who said that Lady Windermere's I'm lacked action. In the act in question there was no action at all. It was a perfect m i 31 O. Wilde, The Importance of Being Earnest, in: ders., Plays, op.cit., S. 259. mich Ernest eine Fiktion ist oder sein könnte. Denn Algernon und lack, die beide behaupten, Ernest zu heißen, um die Mädchen (iwendolen und Cecily, die der ernste (earnest) Name Ernest lusziniert, für sich zu gewinnen, sind schließlich gezwungen, die Masken fallen zu lassen und ihre eigentlichen Namen bekanntzugeben. Dadurch kommt es am Ende des zweiten Aktes zur Verwechslung mit einem fiktiven Ernest, dem von Jack Worthing nlundenen jüngeren Bruder: GWENDOLEN: An admirable idea! Mr. Worthing, there is just one question I would like to be permitted to put to you. Where is your brother Ernest? We arc both engaged to be married to your brother Ernest, so it is a matter of some importance to us to know where your brother Ernest is at present.32 Jack Worthing muß zugeben, daß er den jüngeren Bruder niimens Ernest erfunden hat, und Gwendolen stellt trocken fest, ilnll sie und Cecily anscheinend überhaupt nicht verlobt sind, da I Ernest nicht gibt. Dieses Jonglieren mit fiktiven Gestalten heißt Itunburying" ("to Bunbury"), und Jack bedeutet Algernon, daß rr endgültig genug hat von diesem schimärenhaften Spiel mit der I «istenz. Algernon, der Erfinder von Bunbury, ist vorerst anderer Meinung: JACK: This ghastly state of things is what you call Bunburying I suppose? ALGERNON: Yes, and a perfectly wonderful Bunbury it is. The most wonderful Bunbury I have had in my life. JACK: Well, you have no right whatsoever to Bunbury here. ALGERNON: That is absurd. One has a right to Bunbury anywhere one chooses. Every serious Bunburyist knows that. JACK: Serious Bunburyist? Good heavens!33 Erst im letzten Akt, wo im denouement bekannt wird, daß Jiiek, der als Findelkind aufgewachsen war, in Wirklichkeit doch Ibid., S. 295. Ibid., S. 296. 106 107 Ernest heißt, "stirbt" Bunbury: "In fact Bunbury is dead", sagt Algernon.34 Wenig später fallen die Masken, Gwendolen heiratet! Ernest (Jack), und Cecily heiratet Algernon. Zugleich stellt sich heraus, daß Ernest-Jack doch einen jüngeren Bruder hat: nämlich Algernon. Beide sind Söhne des längst verstorbenen Generals Ernest John Moncrieff... Dieses Spiel mit Masken und Fiktionen ist charakteristisch fütj die Welt der Konversation, die eine Scheinwelt ist, in der weder auf Wahrheit noch auf Handlung ankommt, sondern nur auf das Wortspiel, aus dem die fiktiven Gestalten "Bunbury" und "Ernest" (der "jüngere Bruder") sowie Neologismen wie "to Bun bury" hervorgehen. Es ist eine Welt, in der sich Subjektivitä allmählich auflöst, weil es nicht primär darauf ankommt, sich -wie etwa in der Komödie des 17. oder 18. Jahrhunderts - au; affektiver und moralischer Ebene durchzusetzen, sondern als brillanter Causcur am "witty talk", an der Konversation teilzunehmen. Diese Konversation ist, wie in der Wirklichkeit, so auch im Drama, ein von Paradoxien und Ambivalenzen durchsetzter Diskurs, der die Entstehung der Subjektivität im Keim erstickt: Ni das Komische wird ernst genommen (wie Algernons Paradoxo "serious Bunburyist" zeigt), nur das Triviale ist wichtig, nur d" Schein ist wahr. Der Wahrheit, die sich zufällig Bahn bricht, mu verziehen werden: JACK: Gwendolen, it is a terrible thing for a man to find out suddenly that i his life he has been speaking nothing but the truth: Can you forgive me?35 Weitere Paradoxa zeigen, daß sich Subjektivität in den Disku sen der Konversation nicht artikulieren kann, weil diese durch ihr! Ambivalenzen unablässig die Grundlage des Diskurses zerselzli den semantischen Gegensatz zwischen wahr und falsch, Schtm und Sein, gut und böse etc. "It is awfully hard work doing n»i thing", sagt Algernon und macht die Arbeitsmoral der Puritan lächerlich.36 "The simplicity of your character makes you exqu in ill sitly incomprehensible to me", sagt Gwendolen zu Jack-Ernest und deutet an, daß womöglich gerade das Einfache völlig opak ist. Die zentrale Ambivalenz der Komödie wird gleich zu Beginn des ersten Aktes von Algernon ausgedrückt, der die soziale Hierarchie auf den Kopf stellt und die moralischen Leitbilder vergeblich in den unteren Bevölkerungsschichten sucht: ALGERNON: (...) Really, if the lower orders don't set us a good example, what on earth is the use of them? They seem, as a class, to have absolutely no sense of moral responsibility.37 Algernons Konversation ist, wie jede mondäne Konversation, "karncvalistisch" im Sinne von Bachtin (s. Kap. II), weil sie durch ihre Paradoxien eine Umwertung aller Werte bewirkt und dadurch bestehende Werthierarchien aushöhlt. Ihre Wertindifferenz macht Nie jedoch als Kritik unverbindlich und für das gesellschaftliche Handeln untauglich. Dies ist auch der Grund, weshalb in Wildes Di amen der "witty talk" zumindest tendenziell die dramatische I limdlung ersetzt. Rr ersetzt das Handeln auch in der Salongesellschaft, in der ßlc Angehörigen der Mußeklasse vorwiegend verbal in Erscheinung treten. Ihre Worte führen nicht zu Taten, sondern werden /mu Selbstzweck - wie in Wildes Komödie. In diesem Zusam-im nhang versteht man, weshalb der Dandy Wilde das gesproche-iii' Wort für wesentlich hält. "Er nimmt Sprechunterricht, um die Wh kung seiner Stimme, die sein Erzählertalent begünstigt, zu niilimieren."38 In The Importance of Being Earnest, wo keine der als Ernest lultrctenden Personen wirklich "earnest" ist, hat Wilde auf beson-»Iiis. brillante Art den Soziolekt der "leisure class" in Szene ge-iel/.t: Er hat es verstanden, die Konversation in ihrer reinsten Ii um darzustellen, ohne sie durch forcierte Handlung (wie in / ,kIv Windermere's Fan) oder moralische Kommentare zu trüben: In dieser Komödie bilden Dandytum und sprachlicher Ästhetizis-IIIus line unverbrüchliche Einheit. 34 Ibid., S. 303. 35 Ibid., S. 313. 36 Ibid., S. 217. Ibid., S. 254. I'. lavardin, L. Boüexiere, Le Dandysme, Lyon, La Manufacture, 1988, S. 157. 108 109 Ähnliches läßt sich von Hofmannsthals Lustspiel Der Schwierige nicht sagen. Denn in diesem Drama kommt nicht so sehr dio Quintessenz mondäner Kommunikation zum Ausdruck als vielmehr deren Kritik durch die Hauptgestalt, durch den Grafen Hans Karl Bühl. Insofern hat Peter Szondi recht, wenn er im Zusammenhang mit diesem Schauspiel bemerkt: "Es entgeht der Leere und der zitierten Thematik nicht nur, weil die adelige Gesellschaft Wiens, die es schildert, wesentlich in der Konversation lebt. Sondern die Konversation erfährt eine Vertiefung und Verwandlung durch die Titelgcstalt Graf Bühl, den einzigen Modernen ii der Charaktergalerie großer Lustspieldichtung. Ihm wird dio Konversation thematisch, und aus deren Problematik tritt di< Fragwürdigkeit des miteinander Sprechens, ja der Sprache selbsl hervor."39 An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, etwas weiter auszuholen, und diese Besonderheit des Schwierigen (das Reflexiv- oder Thematischwerden der Konversation) im Hinblick auf Hofmannsthals sozio-linguistische Situation zu deuten. Denn nicht nur dio Konversation stellt wie bei Wilde Subjektivität und Handlung in Frage, sondern auch die Umgangssprache der Jahrhundertwende, die durch ideologische Konflikte und durch Kommerzialisierung in Reklame und journalistischer Prosa allmählich ihre Substanz verliert. Zur Entwertung des Wortes durch den käuflichen Jargon der Presse bemerken Alan Janik und Stephen Toulmin in Wittgensteins Wien im Zusammenhang mit dem Philosophen und Journalisten Fritz Mauthner: "Nach 30 Jahren publizistischer Wirksamkeit zog er sich allerdings angeekelt vom lügenhaften 'Worthan-del' des Journalismus in die Einsamkeit nach Freiburg und später, 1909, nach Meersburg zurück."40 Anders als im liberal-demokratischen Großbritannien ruft in der Donaumonarchie der Jahrhundertwende die Entwertung der Sprache durch den Kommerz sprachkritische Reaktionen sozialistischer und konservativer Ideologen auf den Plan. Zu ihnen gehören nicht nur die Polemiken Mauthners und Karl Kraus', sondern auch Hofmannsthals berühmter Chandos-Brief, in dem es u.a. 39 P. Szondi, Theorie des modernen Dramas, op.cit., S. 89. 40 A. Janik, S. Toulmin, Wittgensteins Wien, München, Piper, 1987, S. 165. heißt: "(...) Die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze."41 Vor diesem Hintergrund ist Hofmannsthals Der Schwierige zu lesen: Einerseits ist es ein Lustspiel, in dem - ähnlich wie bei Wilde - die dramatische Handlung der Konversation weicht und (lle Subjektivität in Frage gestellt wird; andererseits ist es jedoch eine Kritik des mondänen Soziolekts durch den Hauptakteur Hans Karl Bühl. Hier wird klar, daß ein typologischer Vergleich sich nicht im mechanischen Aufzeigen von Analogien und Ähnlichkeilen erschöpfen kann: Diese sollten zusammen mit den Abweichungen und Kontrasten im gesellschaftlichen Kontext erklärt werden. Schon in den ersten Szenen des ersten Aktes des Schwierigen mit die Beziehung zwischen depravierter Salonsprache, in der das "Geld" nicht genannt werden darf42, und Subjektivität zutage: ( icsccnce, die Schwester Hans Karl Bühls, versucht, ihren Bruder zu überreden, an einer Soiree bei den Altenwyls teilzunehmen. Oraf Bühl gibt sich unentschlossen und erbittet Bedenkzeit. Daran Ihin bemerkt seine Schwester ganz zu Recht: "Eine Soiree wird nicht attraktiver, wenn man über sie nachdenkt, mein Lieber."43 Diese Bemerkung ist deshalb wichtig und für das gesamte Stück charakteristisch, weil sie auf das Reflexivwerden des Konver-••aiionsdiskurses bei Bühl hinweist. Anders als bei Wilde, wo Ambivalenz und Paradox zu den treibenden Kräften des "witty talk" gehören, erscheint in Graf Hühls Diskurs die Konversation als ein "Knäuel von Mißverständnissen" (S. 337); ihre Ambivalenzen wirken vorwiegend destruk-liv: 11 H. von Hofmannsthal, "Ein Brief, in: ders., Gesammelte Werke, Prosa II, op.cit., S. 12. 42 Die Frage des "neuen Dieners" nach den Geldquellen Bühls wird als die indezente, indiskrete Frage schlechthin aufgefaßt und - nach den Regeln der Konversation -schlicht ignoriert. ■H H. von Hofmannsthal, Der Schwierige, in: ders. Gesammelte Werke, Dramen TV, Frankfurt, Fischer (Taschenbuch-Verlag), 1979, S. 336. 110 111 HANS KARL: (...) Mir kommt bei der Konversation auf die Länge alles Gescbj dumm und noch eher das Dumme gescheit vor - Schon der Umstand, daß in Hofmannsthals Lustspiel das Won "Konversation" immer wieder in euphorischen oder kritischen Zusammenhängen fällt, deutet auf Reflexion durch Autor und Akteure hin: So rühmt beispielsweise Graf Bühls Neffe Stani eine Dame, weil sie "Konversation hat": STANI: Das ist ja ihr großer Charme, daß sie Konversation hat. Weißt du, da» ' brauch ich absolut: eine Frau, die mich fixieren soll, die muß außer ihrer absoluten Hingebung auch eine Konversation haben. Was die Angehörigen der mondänen Gesellschaft, der Mu£ klasse, von ihrem Soziolekt erwarten, plaudert Edine, eine Freundin der Familie Altenwyl, aus: EDINE: Ich sag: wenn ich Konversation mach, will ich doch woanders hingc> führt werden. Ich will doch heraus aus der Banalität. Ich will doch wohintrans-portiert werden!46 ms- - Anders als bei Wilde, dessen Akteure in der Konversatio: aufgehen und durch sie definiert werden, wird die Konversation den Protagonisten Hofmannsthals zum Thema. Dem Grafen Bühl wird sie - wie sich gezeigt hat - zum Gegenstand der Kritik. Diese Kritik geht jedoch über die Konversation hinaus und richtet sich schließlich gegen den Causeur selbst: Bühl stellt sich als! Causeur in Frage: HANS KARL: lächelnd Ich bin kein großer Causeur, nicht war, Stani?" Diese rhetorische Frage ist weitaus mehr als ein Kokettieren mit sich selbst: Sie zeigt, daß die reflexive und kritische Haltung Bühls vor der eigenen Subjektivität nicht Halt macht. Der Schwierige denkt - in der dramatischen Tradition Hamlets stehend -I immer wieder über sich selbst nach: über sein Zögern, seine l Jnentschlossenheit, sein Verhältnis zur eigenen Sprache und zur Sprache der anderen. Dazu bemerkt Wilhelm Emrich: "Er repräsentiert seine Umwelt und stellt zugleich ihre schärfste Kritik dar, weil er sich selbst aufs schärfste kritisiert. Indem er sein eigenes Sprechen negiert, sich mit sich selbst nicht identifiziert, identifiziert er sich auch nicht mit der Allgemeinheit, die er repräsentiert."48 Hier zeigt sich, wie Reflexivität, Sprachkritik und Krise des Subjekts ineinandergreifen: Der von Ambivalenzen und Para-iloxien durchsetzte mondäne Soziolekt und die von Hofmannsthal kritisierten Wortleichen der Umgangssprache (die "modrigen Pilze") geben keine tragfähige Grundlage mehr ab für die fragwürdig gewordene Subjektivität. Wo das Subjekt zerfällt, wird auch sein Handeln problema-lisch. In Der Schwierige haben die wichtigsten Ereignisse bereits vor Beginn des ersten Aktes stattgefunden: Graf Bühls Kriegs-ci lahrungen, seine Freundschaft mit Hechingen und der Abbruch '.einer amoureusen Beziehungen zu Antoinette Hechingen aus Rücksicht auf seinen Freund liegen vor dem Beginn der dramatischen Handlung. Diese schrumpft - wenn man von Nebenhandlungen wie dem mißlungenen Flirt zwischen Neuhoff und Antoinette Hechingen absieht - auf Bühls Entscheidung, an der Soiree bei den Altenwyls teilzunehmen, und auf seine Verlobung mit I Iclene Altenwyl im dritten Akt zusammen. Dieses Ereignis geht niif die Initiative Helene Altenwyls zurück, der einzigen authenti-'.ehen Frauengestalt des Dramas. Indem sie im Verlauf eines (lesprächs (3. Akt, 8. Szene) zu verstehen gibt, daß sie die geheimen Sehnsüchte und Wünsche Hans Karl Bühls versteht ("Wie dli mich kennst!" - "Wie du alles weißt!" sagt Bühl), überwindet Hie seine Ambivalenz, seine mondäne Egozentrik und führt das Drama seinen letzten Szenen zu. Doch auch die Verlobung als zentrales Ereignis der Komödie kommt nicht aufgrund anderer Ereignisse oder Handlungen zu-Mande, sondern durch Konversation, die am Anfang der achten S/.cnc wieder genannt wird (S. 427). Insofern faßt Hans Karl die 44 Ibid., S. 340. 45 Ibid., S. 354. 46 Ibid., S. 378. 47 Ibid., S. 360. III W. Emrich, "Hofmannsthals Lustspiel 'Der Schwierige'", in: Hugo von Hofmannsthal (Hrsg. S. Bauer), Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1968, S. 437. 112 113 Essenz des mondänen Dramas zusammen, wenn er im zweiten I Akt sagt: "Durchs Reden kommt ja alles auf der Welt zusliin« de."49 Durchs Reden und nicht durchs Handeln, könnte man nun hinzufügen: denn die sprachliche Substanz von Hofmannsthiili und Wildes Drama ist die Konversation der "leisure dass", dlf den handlungsorientierten Dialog traditioneller Dramen ersctzl, Diese Tatsache und die sprachlich bedingte Krise der Suli jektivität, die die Schwierigkeit entstehen läßt, "das Individuum als Sinnzusammenhang im Sozialen zu konstituieren", von dar Friedbert Aspetsberger spricht50, verbinden typologisch Wildof und Hofmannsthals Dramen. Was sie trennt, ist Hofmannsthal» Sprachkritik und seine kritisch-reflexive Einstellung zum monclÄ. nen Soziolekt, die in Bühls Gestalt ihren prägnantesten Ausdruck findet. Sie war bereits in Hofmannsthals ethischer Kritik an Wil« des Ästhetizismus vorgezeichnet. 3. Hasek und Kafka: Ambivalenz, Kritik und Krise I Nur scheinbar sind die beiden Hauptthemen dieses Kapitels ein« ander fremd: denn die Beziehung zwischen der sprachlichen Ambivalenz und der Krise des individuellen Subjekts, die im Mittelpunkt dieses Abschnitts steht, ist - wie sich gezeigt hat i eines der Grundprobleme des mondänen Dramas, das in clef Gestalt des Grafen Bühl besonders konkret zum Ausdruck komnill "(...) O mein Gott, warum muß ein und derselbe Mensch NO charmant sein und zugleich so monströs eitel und selbstsüchtig und herzlos!"51 - fragt Antoinette Hechingen Hans Karl Bühl Ihre Einschätzung ist jedoch recht einseitig, denn im letzten Akl wird deutlich, daß der Graf nicht nur eitel, selbstsüchtig und herzlos, sondern seit langem in Helene Altenwyl verliebt ist... | Bühls antinomischcr Charakter ist für die gesamte gesellscha II liehe und sprachliche Situation der österreichisch-ungarischen 49 H. von Hofmannsthal, Der Schwierige, op.cit., S. 403. 50 F. Aspetsberger, "Hofmannsthal und D'Annunzio. Formen des späten Historismu*" in: ders., Der Historismus und die Folgen. Studien zur Literatur in unsere Jahrhundert, Frankfurt, Athenäum, 1987, S. 94. 51 H. von Hofmannsthal, Der Schwierige, op.cit., S. 394. Monarchie um die Jahrhundertwende kennzeichnend. In ihr vermischen sich Askese und Ausschweifung, Tragik und Komik, Heroismus und Dekadenz zu einem widersprüchlichen kulturellen Illingen, das, wie Robert Pynsent in Decadence and Innovation #elf.',t, die Stabilität des Ichs in Frage stellt.52 Sie wird auch in den Romanen Kafkas und Hašeks problematisch, in denen die Vnkniipfung der Gegensätze ohne Synthese immer wieder die llnhcit des sprechenden und handelnden Subjekts sprengt. Die texte der beiden Autoren ergänzen und erhellen einander in der Ambivalenz des Gesamtzusammenhangs: Denn während Kafka -Vtti allem in seinen Romanen Der Prozeß (1925) und Das Schloß Ii''.'.(>) - die tragischen Aspekte der altösterreichischen Welt hei vortreten läßt, deckt der Satiriker Jaroslav Hašek (1883-1923) In seinem Roman Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk U'^0-23), der von K. Vaněk vollendet (5. u. 6. Teil) und von Nieelil als Komödie (Schweyk im Zweiten Weltkrieg, 1944) weiter-§'m\\rieben wurde, ihre komischen und grotesken Seiten auf. Kafka und Hašek reagieren auf eine soziale und sprachliche Nllualion, deren tragikomische Konstellation erst im Vergleich Ihrer Schriften zum Ausdruck kommt. Es handelt sich um einen gleich typologischen und kontrastiven Vergleich (also um eine hwondere Variante der typologischen Analogie), wenn man von 'Ii i Annahme ausgeht, daß der deutschsprachige Autor Kafka und tlei tschechische Satiriker Hašek, der an die politische Satire Karel Havlíček Borovskýs (1821-1856) anknüpfte, einander nicht lasen. Hlte I leiden - Josef K. und Josef Schwejk - sind einander schein-Imi fremd und würden einander, falls es auf der Straße einer liktivcn Stadt zu einer unverhofften Begegnung käme, mit Gleich-Hiilligkeit betrachten. Dies behauptet zumindest Karel Kosflc, der «In erster im Jahre 1963 Kafkas Werk mit dem Hašeks verglich und in den einleitenden Bemerkungen eine Begegnung ihrer Siehe: R. Pynsent (Hrsg.), Decadence and Innovation. Austro-Hungarian Life and Art at the Turn of the Century, London, Weidenfeld and Nicolson, 1989, S. 143: "Das Ich ist unrettbar'. From Schnitzler and Hofmannsthal through to Kafka and Musil, this is indeed the central theme of Austrian literature (...)." 114 115