Association of Comparative Literature in Chapel Hill hielt, offenbar die gesammelte Opposition auf den Plan gerufen."1 Er formulierte die Einwände gegen den Faktualismus in Theorie und Praxis, sein Versagen bei der Aufgabe, einen Gegenstand und eine spezifische Methode klar zu umreißen. Der Vortrag rief endlose Polemiken und leider auch endlose Mißverständnisse hervor.92 Besonders betrüblich ist der Versuch, aus dem angeblichen Unterschied zwischen einer amerikanischen und einer französischen Auffassung von vergleichender Literaturwissenschaft eine Polemik heraushören zu wollen. Ich habe natürlich nicht gegen eine Nation oder auch nur gegen eine lokale Schule von Literaturwissenschaftlern polemisiert. Ich habe nur eine Methode angegriffen, und zwar nicht um meinetwillen oder für die Vereinigten Staaten, und auch nicht mit neuen und persönlichen Argumenten; ich habe nur festgestellt, was sich aus einem genauen Einblick in die Ganzheit der Literaturwissenschaft ergibt, nämlich daß die Unterscheidung zwischen vergleichender und allgemeiner Literaturwissenschaft künstlich ist und daß durch die Methode der kausalen Erklärung nicht viel erreicht werden kann — außer einem unendlichen Rückschreiten. Das wofür ich und viele andere Forscher eintreten, ist eine Abkehr von den mechanistischen, faktualistischen Vorurteilen, die noch aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen, zugunsten einer echten Kritik. Kritik bedeutet ein Sichbemühen um Werte und Qualitäten, um ein Verstehen von Texten, das ihre Geschichtlichkeit einschließt und daher für ein solches Verstehen auch eine Geschichte der Kritik erfordert, schließlich bedeutet sie eine übernationale Perspektive, die ein fernes Ideal universaler Literaturgeschichte und Wissenschaftslehre ins Auge faßt. Die vergleichende Literaturwissenschaft will sicherlich nationale Vorurteile und Provinzialismen überwinden, aber sie will deswegen keineswegs die Existenz und Lebendigkeit der verschiedenen nationalen Traditionen ignorieren oder unterschätzen. Wir müssen uns vor einer falschen und unnötigen Wahl oder Entscheidung hüten: Wir brauchen die nationale wie auch die allgemeine Literatur, wir brauchen sowohl die Literaturgeschichte als auch die Kritik, und wir brauchen die weite Perspektive, die nur die vergleichende Literaturwissenschaft uns geben kann. Vergleichende Literaturwissenschaft heute Auf dem zweiten Kongreß der Internationalen Vereinigung für Vergleichende Literaturwissenschaft, der im September 1958 in Chapel Hill stattfand, hielt ich einen Vortrag über »Die Krise der verglei-dienden Literaturwissenschaft«, der zum Anlaß vieler oft ablehnender Erörterungen wurde. Er war natürlich darauf angelegt, solche Stellungnahmen zu provozieren. Wir müssen uns die damaligen Umstände vergegenwärtigen. Die Internationale Vereinigung für Vergleichende Literaturwissenschaft war im Jahre 1954 gegründet worden. Sie hielt ihren ersten Kongreß Ende September in Venedig ab, allerdings ohne amerikanische Mitwirkung, weil einmal die späte Jahreszeit Amerikaner an der Teilnahme hinderte und auch das Thema des Kongresses, »Venedig in der Literatur« (obwohl nicht ohne amerikanische Bezüge, wenn wir an Howells, Henry James und sogar I Iemingway denken), für Amerikaner nicht gerade sehr anziehend war. So bot also der Kongreß von Chapel Hill amerikanischen Kompara-tisten die erste offizielle Gelegenheit, ihre europäischen Kollegen zu treffen. Durch die Großzügigkeit der Ford Foundation und die Initiative von Werner Friederich machten sich nicht weniger als 43 Gelehrte aus Kuropa auf den Weg nach North Carolina. Ich spreche keine Geheimnisse aus, wenn ich heute sage, daß mehrere von uns Lehrern der vergleichenden Literaturwissenschaft an amerikanischen Universitäten zuerst etwas unglücklich waren über die geplante Zusammensetzung des Kongresses. Zum großen Teil bestanden die Besucher aus solchen, die schon bei der Organisierung der Internationalen Vereinigung und ihrer personellen Besetzung eine Rolle gespielt hatten; die ursprünglich zur Vertretung der Vereinigten Staaten Eingeladenen waren die wenigen amerikanischen Mitglieder der Internationalen Vereinigung oder solche, die irgendein Amt in der Abteilung »Vergleichende Literaturwissenschaft« der Modern Language Association innehatten. Es war also sicher sehr klug und weitsichtig, daß der Organisator des Kongresses, Werner Friederich, den ursprünglichen Plan änderte und es ermöglichte, daß das Treffen ein Forum nicht nur für Spezialisten wurde, die ausdrücklich der Sache der vergleichenden Literaturwissenschaft verpflichtet waren, sondern auch für eine Vielzahl von Literarhistorikern, die ein gemeinsames Ziel hatten — nämlich das Studium der 30 31 Literatur über die Grenzen einer Nationalliteratur hinaus. Es war also durchaus das Gegebene, daß einmal jemand die Voraussetzungen der Methodologie in Frage stellte, die zu der ursprünglichen Einengung des Gesichtskreises und der Beteiligten geführt hatten, und daß dies durch meine Person geschah, hatte ich doch schon seit Jahren, lange vor der Gründung der Internationalen Vereinigung, diese Methodologie in verschiedenen Artikeln kritisiert. Einer meiner Kritiker bemerkte ganz richtig, meine Einwände gegen die anerkannte Methodologie der vergleichenden Literaturwissenschaft — eine künstliche Abgrenzung des Gegenstandes, eine mechanistische Auffassung von Quellen und Einflüssen, Motivierung durch kulturellen Nationalismus — hätten ihren Ursprung im Europa der zwanziger Jahre. Als Student der Universität Prag während jenes Jahrzehnts reagierte ich scharf gegen den positivistischen Faktualismus einiger meiner Lehrer und eine vorherrschende Gelehrtentradition. In meinem Vortrag »Die Krise der vergleichenden Literaturwissenschaft« beziehe ich mich schon im ersten Absatz auf Croce in Italien und auf Dilthey und seine Schüler in Deutschland. Nach Amerika kam ich zum ersten Mal im Jahre 1927, an die Princeton Graduate School, wo sich dieselbe Unzufriedenheit in der neuhumanistischen Bewegung regte. Ich besuchte mehrmals Paul Elmer More, der mir Bücher der Cambridger Platonisten lieh (ich erinnere mich noch gut an Nathaniel Calderwells Candle of the Lord); und ich las die Werke seines Freundes und Mitstreiters Irving Babbitt. Babbitts Literature and the American College stammt aus dem Jahre 1908 und ist noch immer einer der heftigsten Ausbrüche gegen die Gelehrsamkeit des 19. Jahrhunderts, die Babbitt damals mit der verderblichen deutschen Pedanterie identifizierte. Er sagte voraus, daß die »vergleichende Literaturwissenschaft sich als einer der geringfügigsten Gegenstände erweisen wird, wenn man sie nicht in strenger Unterordnung unter humanistische Normen betreibt«.1 Daß Harry Levin zum Irving Babbitt Professor der Vergleichenden Literaturwissenschaft ernannt wurde, ist nicht nur ein Tribut an Irving Babbitt, sondern auch eine Garantie für die Kontinuität der humanistischen Wertmaßstäbe in Harvard, obwohl Levin das Wort »humanistisch« vielleicht anders interpretieren würde als Babbitt. Die richtige Bedeutung von »Humanismus« war die eigentliche Streitfrage in Chapel Hill, und sie ist es noch in der vergleichenden Literaturwissenschaft von heute. Nach meiner Rückkehr nach Prag im Jahre 1930 war ich eine Zeitlang Mitglied des Prager Linguistikkreises und kam so mit den Lehren der russischen Formalisten in Berührung. Roman Jakobson, heute Professor an der Harvard Universität, damals in Prag, war ein witziger und beißender Kritiker der alles umfassenden und konfusen Methodologie akademischer Literaturgeschichte, ihres Wunsches, mit der Totalität der Kulturgeschichte vermengt und verschmolzen zu werden, und ihres Mangels an Konzentration auf einen eigenen Gegenstand — das literarische Kunstwerk. Als ich 1935 nach England kam, nahm ich Verbindungen zu F. R. Leavis und der Scrutiny-Grappe auf, die, von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehend, ihrer Unzufriedenheit mit der akademischen Literaturwissenschaft lautstark Ausdruck verliehen. Als ich 1939 nach Amerika emigrierte, um als Professor in der englischen Abteilung der Universität von Iowa zu wirken, traf ich dort Norman Foerster, einen unerschütterlichen Anhänger des Neuhumanismus, als Direktor der School of Letters, und Austin Warren als Kollegen. Austin Warren hatte bei Irving Babbitt studiert und Paul Elmer More in Princeton gekannt, war aber seitdem zu einer Auffassung gelangt, die der T. S. Eliots und der New Critics sehr ähnelte. Der Konflikt zwischen Literaturgeschichte und Kritik wurde in Iowa sehr heftig und sogar bitter ausgetragen. Ich erinnere mich noch lebhaft, wie Austin Warren und ich ein hochgeachtetes Mitglied der Abteilung, einen Literarhistoriker, trafen und ihm nahebringen wollten, daß er sich in einer Schrift über Milton und den englischen Essay im 17. Jahrhundert auch auf das Gebiet der Kritik begeben habe. Fr wurde ganz rot im Gesicht und sagte uns, dies sei die schlimmste Beleidigung, die er jemals von irgendwem erfahren habe. Ich wurde aus Überzeugung und in der damaligen Konstellation von Zeit und Ort als Kritiker eingestuft. Unter Norman Foerster als Herausgeber war ich Mitarbeiter an dem Band Literary Scholarship, der im Jahre 1941 von der University of North Carolina Press veröffentlicht wurde. Mein Beitrag war das Kapitel über »Literaturgeschichte«, in vieler I Iinsicht eine Umarbeitung einer viel älteren Arbeit »Die Theorie der Literaturgeschichte«, die ich 1935 für die Travaux du Cercle Lin-yjiistique de Prague geschrieben hatte. Warren und ich waren mit dem Band nicht recht zufrieden. Wir hatten das Gefühl, daß wir unter falschen Fahnen segelten. Wir konnten uns dem neuhumanistischen Glauben des Herausgebers nicht anschließen, obwohl wir mit vielen seiner l'.inwände gegen verbreitete akademische Praktiken übereinstimmten und gern die von ihm geplanten humanistischen Kurse lehrten. 1 lomer, die Bibel, griechische Tragödien, Shakespeare und Milton wurden Studenten im ersten und zweiten Studienjahr gelehrt, und zwar als Pflichtvorlesungen lange vor der heutigen Welle der Überblicksvorlesungen über die Weltliteratur. Ich selber hielt eine Vorlesung über den europäischen Roman, der mit Stendhal und Balzac anfing und über Dostojewski und Tolstoi bei Proust und TL Mann endete. Aber ich erinnere mich nicht, das je als »vergleichende Literaturwissenschaft« bezeichnet zu haben. Schließlich arbeiteten Warren und ich zusammen an der Theorie der Literatur, einem Buch, das in den Jahren 1944—46 entstand, aber aus verschiedenen Gründen erst im Januar 1949 veröffentlicht wurde. Das letzte Kapitel, das zuerst als »The Study of Literature in the Graduate 32 33 School: Diagnosis and Prescription« in der Sewanee Review im Oktober 1947 erschien, gibt die Situation am Ende des Krieges wieder und regt bestimmte Reformen für das Literaturstudium an unsern Universitäten an, darunter die Errichtung von Abteilungen für Vergleichende Literaturgeschichte, welche, wie wir sagten, »Abteilungen für Allgemeine und Internationale Literatur, oder einfach Literatur werden sollten«. Wir hofften, daß die Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft das »Zentrum für die Reform werden möge, die jedoch in erster Linie in den Abteilungen für Englisch und die anderen modernen Sprachen durchgeführt werden sollte. Diese Reform fordert, kurz gesagt, einen Doktorgrad in Literaturwissenschaft statt in englischer, französischer oder deutscher Philologie«.2 Wir waren nicht allein mit solchen Ideen. Die »Neuen Kritiker« übten eine enorme Wirkung auf den College-Lehrbetrieb der Literaturwissenschaft aus, besonders mit dem Lehrbuch Understanding Poetry (1938) von Cleanth Brooks und Robert Penn Warren, das sich seit den frühen vierziger Jahren durchzusetzen begann. In Chicago hatte Ronald S. Crane schon mindestens seit 1935 das Studium der Kritik und ihrer Geschichte propagiert und eingeführt. Im Jahre 1939 trat das English Institute, das sich ausdrücklich mit der Prüfung der Methoden des Literaturstudiums befaßte, zum ersten Mal in New York zusammen. Obgleich es auch mit Problemen der Bibliographie und der Editionstechnik beschäftigt war, wurde das English Institute schon bald ein Forum für die Diskussion kritischer und ästhetischer Fragen. Trotz seines Namens und seiner ursprünglichen Beschränkung auf englische Gelehrte widmete das Institut mehrere Sitzungen der französischen und deutschen »Kritik«. Bereits 1940 veröffentlichten die Southern Review und die Kenyon Review ein Symposion über »Literatur und die Professoren«, zu dem einige der bekanntesten Neuen Kritiker, J. C. Ransom, Allen Täte und Cleanth Brooks wie auch Harry Levin schneidende Kritiken und mannigfaltige Vorschläge für eine Reform des akademischen Literaturstudiums beitrugen. Ein Wechsel lag in der Luft und fand tatsächlich statt, nicht über Nacht und auch nicht an allen Institutionen gleichmäßig, aber allmählich fast überall. Heutigen Studenten ist es anscheinend gänzlich unmöglich, sich die Situation der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts in den meisten Englischen Abteilungen vorzustellen. Kritik war tabu, zeitgenössische und sogar amerikanische Literatur wurde überhaupt nicht gelehrt, fremde Literaturen wurden weithin außer acht gelassen, Texte wurden nur als philologische Dokumente studiert — kurz, der Positivismus des 19. Jahrhunderts herrschte unangefochten und unumschränkt. Ich habe hier einen Rückblick auf diese Entwicklungen und meinen Anteil daran gegeben, nicht weil ich in autobiographischen Erinnerungen schwelgen möchte, sondern weil meine eigenen Erfahrungen die Geschichte der Literaturwissenschaft in diesen Jahrzehnten widerspie- geln, die »ganze Revolte gegen den Positivismus«, die ich im Februar 1946 in meiner ersten öffentlichen Vorlesung in Yale beschrieb — Croce und die deutsche »Geistesgeschichte«, die russischen Formalisten, den amerikanischen Neuhumanismus und T. S. Eliot, F. R. Leavis, und die Neuen Kritiker. Als Werner Friederich im ersten Yearbook of Comparative and General Literature (1952) Jean-Marie Carres kurze Einleitung zu M.-F. Guyards kleinem Handbuch La Litterature Com-paree (1951) wieder abdruckte, empfand ich dies daher als eine Herausforderung alles dessen, was in den Vereinigten Staaten bisher erreicht worden war. Carre, der erste Präsident der International Comparative Literature Association, wiederholt hier im engsten Sinne die alte Vorstellung von Literaturwissenschaft und von vergleichender Literaturwissenschaft im besonderen: vergleichende Literaturwissenschaft ist ein Zweig der Literaturgeschichte und befaßt sich mit den »tatsächlichen Berührungspunkten« (rapports de fait) der Werke untereinander, mit den Inspirationen und sogar Biographien der zu den verschiedenen Literaturen gehörigen Schriftsteller. Carre' schließt, zumindest in seiner Vorrede, ausdrücklich die »allgemeine Literatur« von unserem Gebiete aus und verurteilt alle Vergleiche, die nicht durch konkrete historische Kontakte gerechtfertigt sind, als rein rhetorische Übungen. Ich kritisierte scharf die Vorrede und das Büchlein von Guyard im nächsten Yearbook (1953), obschon ich die bescheidenen Ansprüche eines Handbuchs für Studenten und seine Abhängigkeit von einer ähnlichen früheren Schrift von Paul Van Tieghem (1931) anerkannte. Dennoch erschien es mir als ein gefährliches Symptom des Überlebens einer veralteten Methodologie und ihrer einschränkenden Gesetze. Der Vortrag auf dem Kongreß von Chapel Hill 1958 wiederholte nur meine Einwände in Gegenwart der europäischen Besucher. Er wurde, meines Erachtens bedauerlicherweise, als Manifest einer .unerikanischen Schule vergleichender Literaturwissenschaft und als Angriff auf die französische Schule verstanden, obwohl er ganz deutlich nicht gegen eine Nation, sondern gegen eine Methode gerichtet war. Ich war und bin mir bewußt, daß auch in Frankreich schon seit vielen Jahren ähnliche Kritik an der akademischen Literaturwissenschaft geäußert worden war. Man braucht nur an die Angriffe gegen Lanson und la critique universitäre vor dem ersten Weltkrieg zu denken. Ich weiß, daß in Frankreich viele Kritiker und Historiker kühne neue Wege gehen, die dem von Carre vertretenen positivistischen Faktua-lismus entgegengesetzt sind. Ich weiß auch, daß viele amerikanische (relehrte nicht mit meinem Standpunkt übereinstimmen, und ich habe mir auch niemals die Rolle eines Sprechers für die amerikanische Wis-lenschaft angemaßt. Als gebürtigem Europäer gefällt es mir keineswegs, mich in die seltsame Position gedrängt zu sehen, als sei ich anti-I ranzösisch oder gar vage anti-europäisch. 1 larry Levin sagte mir, Mirabeau sei der Verfasser des Aphorismus, 34 35 ein Publikum von Ausländern stelle eine »lebendige Nachwelt« dar. Ich kann nach all den Mißverständnissen und Entstellungen, denen dieser polemische Vortrag im Ausland ausgesetzt war, nur melancholische Gedanken über die Nachwelt äußern. Er wurde anscheinend als ein Manifest amerikanischer Feindseligkeit gegen die Gelehrsamkeit ausgelegt. Als ich nämlich auf dem Utrechter Kongreß 1961 einen gelehrten historischen Vortrag über das Wort »Kritik« gehalten hatte, beglückwünschte man mich dazu, doch weniger unwissend und weniger ein Verteidiger der Unwissenheit zu sein, als es in Chapel Hill erschienen war. In einem versöhnlichen Bericht über die »Vorgänge« von Chapel Hill unter dem Titel »Nouvelle Jeunesse de la philologie ä Chapel Hill« gab Marcel Bataillon zwar die Berechtigung einiger Kritik an den bestehenden Theorien zu, mißverstand aber meine Stellung, als sei sie jeder Literaturgeschichte feindlich gesinnt, und bedauerte die Tatsache, daß Renato Poggioli, Claudio Guillén und ich selber, obwohl alle geborene Europäer, kein Interesse mehr an den Beziehungen unter den rivalisierenden europäischen Nationen hätten, die der alte Kosmopolitismus nach dem Kriege wiederzubeleben suchte. Bataillon bedauerte den Verlust eines solchen »Kosmopolitismus, der von einer pseudo-marxistischen Geschichtsphilosophie eines bourgeoisen Idealismus verdächtigt oder von einem triumphierenden Strukturalismus der historischen Eitelkeit überführt wurde.«4 Es war mein Fehler, daß ich in der Rede von Chapel Hill mich nicht genügend gegen solche Mißverständnisse gewappnet hatte und daß ich der Auffassung war, es möchte bekannt sein, daß ich die Literaturgeschichte z. B. im letzten Kapitel der Theorie der Literatur gegen die antihistorischen Tendenzen der Neuen Kritiker verteidigt hatte und daß ich seit Jahren ein ausgewogenes Zusammenspiel zwischen dem Studium nationaler Literaturen, ihrer gemeinsamen Tendenzen, der Ganzheit der westlichen Tradition — die für mich immer auch die slawische Welt einschließt — und dem höchsten Ideal eines vergleichenden Studiums aller Literaturen, einschließlich der des Fernen Ostens, befürwortete. Weit seltsamere Mißverständnisse ergaben sich in Rußland, wo unter Stalin »Vergleichende Literaturwissenschaft« einfach ein verbotenes Fach war. Mit dem »Tauwetter« wurde dessen Notwendigkeit wieder anerkannt, und eine Tagung in Moskau im Januar 1960 rehabilitierte die Disziplin auch offiziell.5 Die Russen brüsten sich damit, alle Fragen auf der Basis des Marxismus gelöst zu haben, und die Sprecher dieser Konferenz behandelten uns alle als arme irrende Schafe, die das Licht der Wahrheit noch nicht entdeckt hatten. Friederich, der als Organisator von Chapel Hill in ihren Augen die Rolle eines »Führers« angenommen hatte, wurde mit Beleidigungen überschüttet, da er angeblich den Kongreß zu einem »politischen Unternehmen« gemacht habe6, anscheinend weil Gleb Struve einen gut informierten Bericht über die Lage in der Sowjetunion gab. Mein Vortrag wurde zitiert, wenn er als Waffe in den Polemiken gegen alle westliche Wisenschaft brauchbar schien, aber ich wurde wegen zweier Sünden streng ins Gebet genommen: Formalismus und Kosmopolitismus. In all den Beiträgen wird angenommen, daß ich noch nie etwas von den historischen und sozialen Implikationen der Literatur gehört habe, daß ich einen abstrakten Formalismus aufrechterhalte und daß meine Einwände gegen nationalistische Literaturgeschichte die Abschaffung der nationalen Literaturen zugunsten einer farblosen Superliteratur bedeuten, die den Zielen des amerikanischen Imperialismus dienen würde. Ich bin an die Starrheit kommunistischer Ideologie gewöhnt, aber ich bin oft überrascht über ihren Mangel an richtiger Perspektive und an Verständnis der Persönlichkeiten und Institutionen in Amerika. Sie nehmen z. B. an, daß es in North Carolina ein Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft gibt und daß ich in Yale heimlich Schachzüge im kulturellen Kalten Krieg aushecke, indem ich Themen zuweise und die Arbeiten mit meinen Komplizen koordiniere. Man sieht geheime Pläne in den Lücken oder zufälligen Konstellationen der Vorträge auf dem Kongreß in Chapel Hill oder in der Zeitschrift Comparative Literatuře. Sogar die Tatsache, daß mein Aufsatz »Die Krise der Vergleichenden Literaturwissenschaft« von Sigurd Burckhardt ins Deutsche übersetzt und in der Zeitschrift Wirkendes Wort veröffentlicht wurde, findet N. S. Pavlova ominös. Es hätte gar keinen Zweck, ihnen klarmachen zu wollen, daß wir ganz anders arbeiten, daß Sigurd Burckhardt, den ich damals noch nicht persönlich kannte, zufällig von meinem Aufsatz angesprochen wurde und Lust dazu hatte, ihn zu übersetzen. 1960 waren die Russen in Moskau unter sich. Die drei Beiträge über vergleichende Literaturwissenschaft im Westen, von R. M. Samarin, I. G. Neupokoeva und N. S. Pavlova, waren unterschiedslose Verurteilungen alles dessen, was wir taten. Im Oktober 1962 fand in Budapest ein weiterer Kongreß über vergleichende Literaturwissenschaft in Osteuropa statt, an dem teilnahmen: W. P. Smit, der damalige Präsident der International Association of Comparative Literatuře, Etiemble, der Nachfolger von Carré an der Sorbonne, und drei weitere westliche Mitglieder der Vereinigung, Mortier, Rousset und Voisine. Frau Neupokoeva wiederholte dort ihren Angriff auf meinen Vortrag, klagte mich an, ich wolle die Literatur »entnationalisieren«, und warf mich und die amerikanische Vergleichende Literaturwissenschaft in einen Topf mit der reaktionären Geschichtsphilosophie Arnold Toynbees, anscheinend nur, weil E. R. Curtius Bewunderung für Toynbee ausgesprochen hatte (ich nie). Glücklicherweise wußten es einige der anderen Teilnehmer besser und versuchten, die Russen zu korrigieren: Etiemble z. B. distanzierte sich von der Auffassung Guyards und Car-rés und beteuerte, wir alle seien keine Anhänger Toynbees. Eine pol- 36 37 nische Gelehrte, Maria Janion, hatte verstanden, daß ich nie eine »Entnationalisierung« befürwortete oder alle Geschichte verwarf, und ein ostdeutscher Professor, Werner Krauss, der unsere Zeitschrift Compa-rative Literature wegen eigenwilliger und schlechter Beiträge scharf kritisierte, erkannte an, daß die amerikanische vergleichende Literaturwissenschaft der Aufgabe der Völkerversöhnung tief verbunden ist.8 Seitdem hat die Ungarische Akademie von sich aus einen Sammelband veröffentlicht, Litterature hongroise: Litterature europeenne,9 der auf dem Kongreß der International Association im Sommer 1964 in Fribourg vorgelegt wurde. Er enthält, zusammen mit vielen wertvollen, unpolemischen Aufsätzen, einen von Lajos Nyirö (»Problemes de litterature comparee et theorie de litterature«), der mir eine »Metaphysik der Zersetzung von Inhalt und Form«10 zuschreibt, was auch immer das sein mag, ferner die Ablehnung der Geschichte und Konfusion zwischen vergleichender Literaturwissenschaft und Theorie der Literatur. In allen meinen Schriften bin ich für die Einheit von Form und Inhalt eingetreten, habe ich die Literaturgeschichte verteidigt, habe ich genaue Unterscheidungen zwischen Theorie, Geschichte und Kritik gemacht. Ein Kapitel der Theorie der Literatur ist ausdrücklich der »vergleichenden, allgemeinen und nationalen Literatur und ihren Unterschieden« gewidmet. Es ist wirklich eine andere Welt, wo Worte das Gegenteil bedeuten wie bei uns. In den Niederlanden sah Cornelius de Deugd in einer Broschüre De Eenheid van het Comparatisme die Lage ganz richtig. Er weiß, daß meine Position nicht spezifisch amerikanisch ist, daß Carre Anhänger in den Vereinigten Staaten hat und daß amerikanische vergleichende Literaturwissenschaftler in keiner Weise »antihistorische Neue Kritiker sind, unabhängig von dem, was sie bei ihnen gelernt haben mögen. Sie sind Literarhistoriker, aber angerührt von den neuen Ideen ... verlangen sie einen ästhetischen und kritischen Zugang zur Literatur, d. h. zu dem literarischen Werk an sich.«11 Aber eben dieses wird heute in den Vereinigten Staaten überall in Frage gestellt. Um ein schlagendes Beispiel zu bringen, so wird ein kürzlich erschienener Artikel von Ihab Hassan von der Wesleyan Uni-versity aus der wertvollen Reihe über zeitgenössische Kritik, die in den neuen Comparative Literature Studies veröffentlicht wird (herausgegeben von A. Owen Aldridge), betitelt »Jenseits einer Theorie der Literatur«. Dort werden ich und erstaunlicherweise auch Northrop Frye als zwei »Oldtimer« behandelt, Uberlebende eines früheren Zeitalters, die noch nicht die neue Offenbarung verstanden haben: »Das selbstzerstörerische Element der Literatur, ihr Bedürfnis nach Selbstannullierung«. »Vielleicht ist es«, so hält er uns vor, »eben nicht die Aufgabe der Literatur, die Welt zu erhellen, sondern die Erschaffung einer Welt zu ermöglichen, in der die Literatur überflüssig wird. Und vielleicht ist es die Aufgabe der Kritik ... zu der schwieri- gen Weisheit zu gelangen, daß die Literatur letzten Endes und zwar nur letzten Endes ganz unwichtig ist.«12 Ihab Hassan schließt mit dem Zitat von D. H. Lawrence: »Oh, schöner grüner Drache des neuen Tages, des unerwachten Tages, komm, komm her und befreie uns von dem Würgegriff des übelriechenden alten Logos! Komm in der Stille und sage nichts!« Es wäre ein Leichtes, Hassans Evangelium der Stille abzutun, das ihm immerhin noch erlaubt, Bücher und Artikel zu schreiben, ihn einen wilden Antirationalisten, einen Obskuranten zu nennen, der die Geistesverfassung unserer Zeit widerspiegelt — ihre apokalyptischen Prophetien, ihren Sinn für das Absurde, »ihre bereitwillige Aufhebung des ästhetischen Urteils im Interesse der rechten Aktion«.13 Aber ich glaube, sein Extremismus ist ein Symptom für etwas sehr Ernstes, das jede sinnvolle Literaturwissenschaft gefährdet. Es geht um nichts Geringeres als die Existenz von Kunst und Ästhetik überhaupt. Der ganze Komplex Ästhetik und Kunst wird heute in Frage gestellt. Der Unterschied zwischen dem Guten, Wahren, Schönen und Nützlichen, der den Griechen bekannt war, aber am deutlichsten von Kant herausgearbeitet wurde, der ganze Begriff der Kunst als eine der verschiedenen Tätigkeiten des Menschen, als Gegenstand unserer Disziplin, steht unter Anklage. Die Auflösung der Ästhetik begann im späten 19. Jahrhundert, als die deutsche Ästhetik der Einfühlung (im Englischen bekannt geworden durch Vernon Lee und Bernard Beren-son), die ästhetische Erfahrung auf physiologische Prozesse von innerer Mimikry, von Einfühlung in das Objekt reduzierte. Sie ist in Cro-ces Theorie der Intuition enthalten, wo die ästhetische Erfahrung mit jedem Akt der Wahrnehmung individueller Qualität identifiziert wird. Die Intuition von diesem Glas Wasser unterscheidet sich für Croce qualitativ nicht von jener, die in einem großen Kunstwerk zum Ausdruck kommt. John Deweys Art as Experience (1934) bestreitet jeden qualitativen Unterschied zwischen dem Ästhetischen und dem Intellektuellen zugunsten der Einheit der Erfahrung, die einfach nur erhöhte Vitalität ist. In den Schriften von I. A. Richards, die sich spezifisch mit literarischer Kritik befassen, ist der Unterschied zwischen ästhetischen und anderen Gefühlen abgeschafft und Kunst und Poesie werden zu Mitteln der »Schablonierung unserer Impulse«, zu Werkzeugen geistiger Therapie reduziert. In ähnlicher Weise lösen Kenneth Burke und Richard Blackmur den Begriff der Literatur in Aktion oder Gebärde auf. Vor kurzem erst kam der Angriff auf die Ästhetik von Seiten der analytischen Philosophen, die alle traditionellen Probleme von Schönheit und Ästhetik als »Un-Sinn« ablehnen. Dieser ganze Trend spricht aus Ihab Hassan, wenn er die Trennung der Kunst vom »Kontinuum gefühlten Lebens« beklagt als Quelle der Entfremdung des Geistes, des, wie er es nennt, »kartesianischen Wahnsinns des Westens«. Welchen Wert diese Kritiken an der großen Tradition der Ästhetik 38 39 auch haben mögen — und ich bin bereit, den Kritikern ihrer Dunkelheiten, Wortklaubereien und Tautologien vieles zuzugestehen —, die Hauptschlußfolgerung, die Abschaffung der Kunst als einer Kategorie, erscheint mir bedauerlich in ihren Konsequenzen sowohl für die Kunst selbst wie auch für die Wissenschaft von der Kunst und der Literatur. Wir sehen heute die Folgen auf Schritt und Tritt: der »moderne« Bildhauer breitet Schrotthaufen aus oder stapelt Kartons, Rauschenberg stellt als seine ersten Werke völlig weiße Leinwände aus, und ein begeisterter Kritiker, John Cage preist sie als »Landeplätze für Lichter und Schatten«. Der Komponist »konkreter« Musik produziert Geräusche von Maschinen und Straßen, und es gibt, wie ich höre, sogar eine Musik des Schweigens — drei Musiker erscheinen auf dem Podium, stehen dort und tun gar nichts. Der Dramatiker produziert die Geräusche einer Toilette in einer Knabenschule und breitet deren obszöne Kritzeleien aus. Ernst zu nehmen ist es eher, wenn Marc Saporta einen Schiebe-Roman (»shuffle novel«) No. 1 produziert, wo die Seiten lose und nicht numeriert sind und in jeder beliebigen Reihenfolge gelesen werden können. Alle Unterscheidungen zwischen Kunst und Wirklichkeit sind gefallen. Alle Künste streben nach Selbstvernichtung. Einige dieser Handlungen oder Werke brauchen offensichtlich nicht ernst genommen zu werden. Es sind ausgeklügelte Foppereien, so alt wie DADA oder Marcel Duchamp, der 1917 für die Ausstellung der Unabhängigen in New York ein Krankenhaus-Uringefäß unter dem Titel »Fountain« einschickte. Ich hoffe, ich werde nicht des Mangels an Sympathie für die moderne Kunst, die Avantgarde oder das Experimentieren verdächtigt, wenn ich zu dem Schluß komme, daß die Kunst bei solchen Symptomen den Nullpunkt erreicht hat und sich anschickt, Selbstmord zu begehen. Es wird Zeit, daß wir uns erneut darum bemühen, zu einem Verständnis vom Wesen der Kunst zu kommen. Ein Kunstwerk ist ein Gegenstand oder ein Vorgang von irgendeiner Form und Einheit, die es vom Leben im Rohzustand absetzen. Aber diese Auffassung muß offensichtlich vor dem Mißverständnis geschützt werden, sie verteidige »Kunst um der Kunst willen«, den Elfenbeinturm oder die Behauptung, Kunst habe keine Bedeutung für das Leben. Alle großen Ästhetiker haben für die Kunst eine Rolle in der Gesellschaft gefordert und waren der Überzeugung, daß die Kunst am besten in einer intakten Gesellschaft gedeiht. Sie wußten, daß die Kunst den Menschen gesittet macht, daß der Mensch im vollen Sinne Mensch erst durch die Kunst wird. Es scheint mir an der Zeit, daß die Literaturwissenschaft wieder das Reich der Kunst anerkennt und es aufgibt, allen alles zu sein, daß sie zu ihrer alten Aufgabe zurückkehrt, Literatur zu verstehen, zu erklären und weiterzugeben. Andernfalls wird sie sich in ein Studium der gesamten Geschichte und des gesamten Lebens auflösen. Ich weiß, daß Studenten — und nicht nur junge Studenten — sich oftmals gegen 40 solche scheinbaren Begrenzungen sperren. Für sie ist Literatur einfach nur eine Gelegenheit oder Vorwand für die Lösung ihrer persönlichen Probleme und der allgemeinen Probleme unserer Zivilisation. Aber Literaturwissenschaft, als organisiertes Wissen, braucht eine solche Begrenzung. Jeder Wissenszweig muß einen Gegenstand haben. Nur durch das Herauslösen — was nicht vollständiges Isolieren bedeutet — des Gegenstandes kann es Fortschritt von Verständnis und Einsicht geben. Die Klagen über Einengung werden Lügen gestraft durch die mannigfachen Ausdehnungsmöglichkeiten auf dem von uns gewählten Gebiet, die in den letzten Jahrzehnten enorm angewachsen sind. Kürzlich im Times Literary Supplement und in der New York Times erschienene Kommentare, die eine Erschöpfung von Dissertationsthemen annehmen und sich über die Trivialitäten einer literarischen Forschung lustig machen, die feierlich W. B. Yeats' Vorliebe für Pastinaken verzeichnet, sind völlig verfehlt. Gerade die vergleichende Literaturwissenschaft bietet eine fast grenzenlose Zahl neuer Themen und neuer Probleme an. Wir besitzen heute — wenn wir nur bis zum letzten Krieg zurückblicken — eine unverhältnismäßig größere Anzahl ausgezeichneter Handbücher, Bibliographien, Wörterbücher und Übersichten der Literaturgeschichte, die es für jeden unentschuldbar machen, etwa Unkenntnis von Autoren, Namen und Problemen vorzugeben. Man denke an die Bibliographien, beginnend mit Baldensperger-Friederich und endend mit der jährlichen MLA-Bibliographie, welche 16 089 Einträge für 1963 aufführte. Man denke an die wachsende Zahl gut angelegter Wörterbücher über Begriffe und Autoren. Ich habe gerade in der beeindruckenden Encyclopedia of Poetry and Poetics von Alex Preminger geblättert, die von der Princeton University Press herausgegeben wurde. Wie ich höre, befindet sich eine englische Ausgabe des zweibändigen Lexikon der Weltliteratur, veröffentlicht bei Herder in Freiburg im Breisgau 1960—61, in Vorbereitung mit W. B. Fleischmann als Herausgeber. Die International Comparative Literature Association bereitet ein französisch-englisches Dictionary of Literary Terms vor, wofür sie einen komplizierten Apparat in Bordeaux und Utrecht einrichtete und wofür viele auf den Kongressen von Utrecht und Fribourg vorgetragene Aufsätze als vorläufige Übungen geschrieben wurden. Trotz vieler schwacher Artikel sind das ältere Dictionary of World Literature, das Columbia Dictionary of Modern Literature (1947), herausgegeben von dem verstorbenen Horatio Smith, und besonders das gewaltige Dizio-nario Letterario Bompiani (1946—57), das sich auf zwölf dicke Bände in Kleindruck beläuft, unerschöpfliche Fundgruben der Information. Außerdem gibt es weltweite Übersichten der Literaturgeschichte, einschließlich des älteren, aber ausgezeichneten Handbuch der Literaturwissenschaft, herausgegeben von Oskar Walzel, und die in der Pleiade erst kürzlich erschienenen drei Bände der Historie des litteratures. 41 Ich habe einige dieser Bücher rezensiert und bin mir ihrer Fehler, Lücken und Mißverhältnisse bewußt. Zum Beispiel hat der zweite Band der Pléiade Literaturgeschichte, Littératures occidentales, einige ausgezeichnete Kapitel von Gaetan Picon über die Hauptrichtungen der westlichen Literatur, doch enthält sie auch erbärmlich schlechte und eigensinnige Übersichten über einzelne Literaturen. Die deutsche Literatur ist sehr dürr dargestellt, und die Besprechung der tschechischen Literatur stammt von einem Autor, Cyril Wilczkowski, der die Sprache nicht zu beherrschen scheint und viele Namen und alle Proportionen völlig falsch bringt. Er verbreitet unsinnige Behauptungen wie die, daß zwischen 1620 und dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts kein tschechisches Buch erschienen sei, daß Jaroslav Vrchlický Jude und daß Alois Jirásek während des Ersten Weltkrieges tschechischer Regierungspräsident gewesen sei.14 Aber was auch immer die Mängel solcher Kollektivunternehmen sein mögen, sie geben uns doch einen Überblick über eine Art Literaturkarte im internationalen Maßstab. Sie legen den Gedanken nahe, daß die kleineren Literaturen Europas und die große weite Welt des Orients zu Erforschung und Studium einladen. Etiemble mag in seiner Schrift Comparaison n'est pas raison: La Crise de la littérature comparée allzu ungeduldig einen Richtungswechsel der vergleichenden Literaturwissenschaft verlangen. Wenn es nach ihm ginge, sollten wir alle Chinesisch, Bengali oder Arabisch studieren. Er unterschätzt aber doch unsere Trägheit und die Hindemisse, die den meisten von uns einer vorgeschrittenen Meisterschaft orientalischer Sprachen entgegenstehen, und trotzdem hat er im Prinzip ganz recht, wenn er eine vergleichende Poetik, ein echt universales Studium der Weltliteratur fordert. Aber sicher wäre es falsch, von unserer Wissenschaft nur im Sinne dieser Zukunftsaussichten, der Vervielfachung neu zugänglicher Dokumente und unerforschter Wechselbeziehungen zu sprechen. Es gibt für viele von uns einen anderen Weg, den »Weg nach Innen«, zu einem volleren und tieferen Verständnis der großen Kunstwerke. Auch hier haben die letzten Jahrzehnte eine Anhäufung neuer Hilfsmittel gebracht. Methoden des Analysierens von Klang, Metrum, Diktion, Stil, der Technik des Romans, der Metapher und des Symbols sind außerordentlich verfeinert worden. Auch können wir alle von den Errungenschaften benachbarter Disziplinen lernen: von der Psychologie, Philosophie, der Kunstgeschichte, Soziologie und vielen anderen. Große Praktiker der literarischen Analyse wie Erich Auerbach und Leo Spitzer, Marcel Raymond, Emil Staiger und Cleanth Brooks bieten eine Auswahl von Methoden an, die uns erlaubt, das anzupacken, was meiner Meinung nach immer noch das wichtigste in der ganzen Literaturwissenschaft ist: das große Kunstwerk, das uns bewegt und zu uns gesprochen haben muß, bevor wir uns je beruflich mit der Literaturwissenschaft befaßten. 42 Ich komme zum Schluß: wir müssen die Waage halten zwischen Expansion und Konzentration, Nationalismus und Kosmopolitismus, dem Studium der Literatur als Kunst und dem Studium der Literatur in Geschichte und Gesellschaft. Die Auswahl wird bei jedem Individuum verschieden sein. Die Mannigfaltigkeit der Methoden und Ansichten in der westlichen Welt ist enorm und zweifellos verwirrend. Das Beispiel des Turms von Babel drängt sich nachdrücklich auf. Aber ich i;laube nicht, daß die schrecklichen Voraussagen der Erschöpfung oder die Ermahnungen zum Schweigen berechtigt sind. Noch kann ich mit der aus dem Osten kommenden Kritik — z. B. in Robert Weinmanns höchst unfairem Buch New Criticism und die Entwicklung bürgerlicher Literaturwissenschaft™ — übereinstimmen, daß die westliche Literaturwissenschaft sich im Zustand völliger Verwirrung und Dekadenz befinde. Aufgrund vierzigjähriger Erfahrung kann ich allenErnstes sagen, daß die Literaturwissenschaft in Amerika einen langen Weg zurückgelegt hat vom Faktualismus, der Altertümelei, dem romantischen Nationalismus und allgemeinen Provinzialismus der zwanziger Jahre zu einer viel größeren Bewußtheit von der Welt um uns und in uns. Wenn uns das Wort nicht so verdächtig wäre, könnten wir von einem Fortschritt sprechen nicht nur im Hinblick auf Menge und Weite, sondern auch auf die Qualität — auf Verfeinerung, Scharfsinn und Einsicht. Die vergleichende Literaturwissenschaft hat eine entscheidende Rolle als Kristallisationspunkt für die Reform gespielt. Wir müssen ihre Bedeutung von einem organisatorischen Standpunkt her erkennen und die Funktion und den Wert unserer verschiedenen gemeinsamen Unternehmungen betonen — der Vereinigungen, Zeitschriften, Rundschreiben und Konferenzen wie dieser. Aber andererseits dürfen wir den bloßen Apparat auch nicht überbewerten und zuviel von Departments, Programmen und all den anderen Einrichtungen erwarten. Auf die Dauer zählen die Männer und Frauen am meisten, die in der Stille an ihren Schreibtischen mit ihren Texten und Aufsätzen ringen. Das Ge-fühl von einer Art Forschungsgemeinschaft ist ein großer Ansporn. Solch eine Konferenz kann uns — wie auch diese hoffentlich — »morgen zu frischen Wäldern und neuen Weiden« senden.17 43 Ii