Indiens, der Orinoco ist einer der Flüsse des Irdischen Paradio»*" usw."42 Umgekehrt lassen die Mythen der Azteken "CorlcN Im den Augen Moctezumas als Abgesandten oder als Verkörpci tiiig des Gottes und Kulturheroen Quctzalcöatl erscheinen, der seil» Rückkehr und die Übernahme seiner rechtmäßigen Herrschaft angekündigt hatte."43 Hier wird klar, daß Kultur, Mythos otlw Ideologie die Individuen zu Subjekten machen und sowohl ihn Wahrnehmung als auch ihr Handeln bestimmen. 3. Die Hesse-Rezeption in Deutschland und den USA Auch ein Vergleich zwischen der Rezeption von Hermann Holfl (1877-1962) Werk in Deutschland und den Vereinigten Staut* sollte dreidimensional im Sinne des vorigen Abschnitts sein: ■ sollte den nationalkulturellen, gruppcnspe/.ifischen und ideolnyl sehen Komponenten Rechnung tragen. Es versteht sich von sellwt daß im letzten Teil dieses Kapitels keine mit Lire la lectiiH vergleichbaren empirischen Untersuchungen durchgeführt werd* können. Es geht darum, die verschiedenen Schichten der Ob|i kl konstruktion (des ästhetischen Objekts) bloßzulegen; dabei soll* nicht nur die sozialen Zusammenhänge berücksichtigt wcnltM sondern auch die diskursiven Verfahren (Selektionen, Klassiliki tionen, narrative Abläufe), die unmittelbar dafür verantworlllih sind, daß Hesses Werk in den USA ganz anders wahrgenomm* und konstruiert wird als in Deutschland. Es wird hier von Hesses Werk in seiner Gesamtheit die Ro* sein, und die Interpretationen oder Objektkonstruktionen einzelne Texte sollen die verschiedenen Phasen der Hesse-Rezeption i11t* strieren. Diese greifen zwar ineinander, weil Themen wie Römern tik, Revolte und Außenseiter tum immer wieder zur Sprache koin men, sie unterscheiden sich jedoch erheblich voneinander dtlfl verschiedene semantische Selektionen und Schwerpunktbildung^ 42 O. Ette, "Funktionen von Mythen und Legenden in Texten des 16. und 17. JiilllhW derts über die Neue Welt", in: K. Kohut u.a. (Hrsg.), Der eroberte Kortri«* Historische Realität, Rechtfertigung und literarische Darstellung der Kolonisten Amerikas, Frankfurt, Vervuert, 1991, S. 165-166. 43 Ibid., S. 6. Dadurch kommt es zu Objektkonstruktionen, die sich zwar über-»i'hneiden, zugleich jedoch in wesentlichen Punkten voneinander iiiweichen. Die Abweichungen haben sowohl kulturellen als auch grup-(KMispezifischen Charakter. Obwohl im folgenden nicht über empirische Untersuchungen im strengen Sinne berichtet wird, soll iliKh gezeigt werden, wie ästhetische Objekte (Mukafovsky) als l )h\cklkonstruktionen auf kollektive Interessen zurückzuführen |lnd, die die Rezeptions- und Interpretationsprozesse lenken. Auf diese Prozesse wirken auch literarische Vermittler ein, die Ihiem Publikum eine fremde Literatur oder einen fremden Autor WHiinglich machen. Eine Vermittlerrolle in diesem Sinne fiel, wie llnhard R. Kaiser gezeigt hat, Madame de Stael (Baronne de Hliicl-Holstcin) zu, die in ihrem bekannten Buch De l'Allemagne 11K10) das Interesse des französischen literarischen Publikums für Deutschland weckte: "Sosehr Mme de Stael sich auch der besten (lewährsmänner, vorab A.W. Schlegels, versichert hatte, sosehr ist De l'Allemagne doch ein Werk, das nicht nur deutsche Literatur Hilf Ii Frankreich vermittelt, sondern aus französischer Perspektive •iiswählt."44 Dieses von Kaiser ganz zu Recht angeschnittene henneneutische Problem wird auch in der Hesse-Rezeption begegnen. Sie setzt in Deutschland um 1904 mit dem Erscheinen von I l'fter Camenzind ein, einem kultirrkritischen und rebellischen I Human, der den Leser mahnt, sich vom oberflächlichen Kultur-I litiben abzuwenden und wieder auf den "Herzschlag der Erde" zu I hliicn. Dieser rousseauistisch-romantische Aufruf verhallt nicht angehört: "Das Buch, dem der Autor nicht nur seine an klassi-I K'hen Vorbildern geschulte Sprachmusik verliehen hat, sondern [ «lieh Ironie und Selbstdislanz, traf auf die Szenerie der Jugendbewegung, die sich seit der Jahrhundertwende gegen das als fluliirfrcmd empfundene Wilhelminische Deutschland wandte. Von /eilgenossen wie Oskar Loerke, Bertolt Brecht und Walter Rabenau begrüßt, wird es mit dreißig Auflagen innerhalb zweier liihie zum 'Bestseller' in der Zeit des 'Wandervogels', ohne daß Ü O.R. Kaiser, Einßhrung in die Vergleichende Literaturwissenschaft. Forschungsstand - Kritik - Aufgaben, Darmstadt, Wiss. Buchgeselischaft, 1980, S. 59. 188 189 sein Autor jedoch gewillt gewesen wäre, auch nur den kleinslni Schritt in Richtung einer kollektiven Verbrüderung mit eben diesen Jugendorganisationen zu tun."45 Obwohl von einer Verbrüderung nicht die Rede sein konnte, zeichnete sich dennoch eine Affinität zwischen der Sehnsucht (lof jungen Vorkriegsgeneration nach einem "Führeridol"46 oder einet heilen Welt und Hesses Frühwerk ab, von dem Gotthilf Hafner in einem Nachwort zu den Erzählungen sagt: "Die fünfzehn Erzähl lungen spiegeln, noch als allgemeinen Besitz, eine heile Welt mit unbestrittenen Maßstäben für Leid und Glück, für gut und WV se."47 Komplementär zu dieser heilen Welt, die sowohl in Hessm Erstlingsroman als auch in Erzählungen wie "Die Marmorsäge", "Der Lateinschüler" oder "Schön ist die Jugend" in Erscheinung tritt, verhält sich die jugendliche Welt der Revolte, die in Hessel zweitem Roman Unterm Rad (1906) problematisiert wird. I!* nimmt nicht wunder, daß auch dieser Roman vorwiegend von dof suchenden und revoltierenden Jugend - insbesondere von Schulet n und Studenten — rezipiert wird, und zwar im Rahmen bestimmtO| Identifikationsmuster, die von antiautoritärem Verhalten geprüft sind und mit Hilfe des Systems IIB von Lire la lecture zumindest annähernd erfaßt werden könnten. Charakteristisch für diesen Rezeptionsmodus ist die Leserreaktion eines Gymnasiasten aiM Tokio, der sich - wie unzählige deutsche Schüler - mit dem Helden von Unterm Rad identifiziert und dessen Kommentar erkennen läßt, daß es jenseits aller kulturellen Unterschiede Problem! gibt, die Jugendlichen gemeinsam sind: "Ich war wie Hans Gio« benrath in einem verwirrten Seelenzustand. Ich hatte dasjenige Werk aus vielen gesucht, das meinem Seelenzustand entsprechen würde. Es war nicht zu beschreiben, wie groß meine Freude wiir, als ich Ihre junge Gestalt in jenem Roman fand."48 Das ästhetische Objekt von Hesses Frühwerk kann jedoch 45 F. Baumer, "Deutschland", in: M. Pfeifer (Hrsg.), Hermann Hesses weltweil* Wirkung. Internationale Rezeptionsgeschichte, Frankfurt, Suhrkamp, 1977, S. 1H, 46 Ibid., S. 20. 47 G. Hafner, "Nachwort", in: H. Hesse, Erzählungen. Diesseits, Kleine Welt, Stull-gart-Zürich-Salzburg, Europäischer Buchklub, 1959, S. 454. 48 F. Baumer, "Deutschland", op.cit., S. 21. I nicht auf jugendliche Sehnsucht und Revolte eingeengt werden. I Ih'tin dieses Werk sprach verschiedene Lesergruppen an, die mit I ilrr revoltierenden Jugend recht wenig zu tun hatten und vor allem I die Dorf- und Landschaftsidyllen goutierten, die sowohl in Peter I (timenzind als auch in Erzählungen wie "Heumond" oder "Die j Miumorsäge" in den Vordergrund treten. Auch mit diesen Grup-I peit konnte sich der Schriftsteller nicht vorbehaltlos identifizieren; I tliivon zeugt sein Kommentar zu Narziß und Goldmund (1930), in K dein sich Hesse als Romantiker der Moderne von der kleinbürger-I liehen Romantik distanziert: "Beim Goldmund kann der gute I deutsche Leser Pfeife rauchen und ans Mittelalter denken, und das I leben so schön und wehmütig finden, und braucht nicht an sich I und sein Leben, seine Geschäfte, seine Kriege, seine 'Kultur' und I deigl. zu denken. So hat er wieder einmal ein Buch nach seinem I Heizen gefunden. Nun, es ist ja einerlei, es kommt ja doch bloß I míľ die paar wenigen an..."49 Nur diese "paar wenigen" konnten etwas mit Hesses Roman I Ihr Steppenwolf (1927) anfangen, der - wie Jauß sagen würde -I den Erwartungshorizont der meisten am Frühwerk "geschulten" I csergruppen durchbrach: "Wenige waren bereit, hinter Harry I InIlors Selbstmordvisionen und seinem Brechreiz, den er 'in-inIlten der zerstörten und von Aktiengesellschaften ausgesogenen í Knie' empfindet, das Exemplarische dieses Outsiders als eines ! Ilhcrindividuellen Organs epochaler Krankheitssysmptome zu ! akzeptieren, in denen sich die Katastrophe des nächsten Krieges bereits ankündigt."50 Viele hingegen identifizierten sich mit den konservativen und rechtsradikalen Kritikern, die Hesse seit 1914, »In er in einem berühmt gewordenen Artikel ("O Freunde, nicht I diese Töne!", NZZ, 3.11.14) gegen Chauvinismus und Krieg Hill begehrte, einen "Verräter" und "vaterlandslosen Gesellen" kchimpften. Daß Der Steppenwolf nicht nur als Gesellschaftskritik oder Manifest des Pazifismus, sondern auch als ein Experiment der literarischen Moderne zu lesen ist, fiel u.a. Thomas Mann auf: 19 II. Hesse, in: V. Michels (Hrsg.), Materialien zu Hermann Hesses "Der Steppenwolf", Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S. 263. Ml F. Baumer, "Deutschland", op.cit., S. 26. 190 191 "Und ist es nötig zu sagen, daß Der Steppenwolf ein Romanweik ist, das an experimenteller Gewagtheit dem Ulysses, den Faum Monnayeurs nicht nachsteht?"51 Das ästhetische Objekt "ModOM ne", das im Rahmen einer neuen Klassifikation zustande koními (Hesse-Gide-Joyce), konkurriert hier mit dem ästhetischen Objekl "Hesse als Romantiker oder Neuromantiker". Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß die neuromantische Revolte dem Steppenwol\ fremd ist, zumal die Romantik einige Charakteristika der Modena (Mehrdeutigkeit, Ironie, Traumexperiment) vorwegnimmt. Das zeigt die amerikanische Rezeption des alemannischoll Autors, die - zumindest in ihrer Anfangsphase - das Frühwnk nicht beachtet und sich auf Texte wie Siddharta (1922), Dir Steppenwolf (1927) und (später) Das Glasperlenspiel (194Í konzentriert. Es versteht sich von selbst, daß die Selektion die« Texte, die auch von den zur Verfügung stehenden Übersetzungen abhängt (s. Kap. VI), zu einer besonderen Objektkonstruktion führt, die nicht ohne Vorbehalte als ästhetisches Objekt im Sind von Mukařovský zu bezeichnen ist. Denn das Hesse-Bild, das dein britischen und nordamerikanischen Publikum von den Vermittlern Colin Wilson und Timothy Leary geboten wurde, sollte ehfl Gegenstand der Kultursoziologie oder Sozialpsychologie als dtf Ästhetik sein. Mit Mukařovský und Vodička könnte man sagen, daß iffl Verlauf der britischen und amerikanischen Rezeption die ästhcll« sehe Funktion von Hesses Romanen und Novellen in den Hinter« grund tritt, während ihre psychischen und sozialen Funktionen aktualisiert werden. Diese Einschätzung der nordamerikanischen Objektkonstruktion wird weitgehend von Theodore Ziolkowskl bestätigt: "Die Kritiker, die Hesse solange ignoriert hatten, blick« ten sich erschrocken um und entdeckten, daß der ehemalig» Heilige eines kleinen Kults zu einem neuen Rattenfänger gewor« den war, der eine ganze Generation von Jugendlichen verfiiliil hatte. Jetzt wendeten sich die Kritiker in den populären Zeitschrift ten diesem neuen Phänomen zu: Hesse wurde 'entdeckt' - zwiir 51 Th. Mann, "Hermann Hesse. Einleitung zu einer amerikanischen Demian-Ausgaho", in: V. Michels (Hrsg.) Über Hermarm Hesse Bd.l: 1904-1962, Frankfurt, Suhrkampi 1976, S. 156. tili hl als literarisches, sondern als soziologisches Phänomen."52 An dieser Stelle wird deutlich, daß Mukafovskys Begriff des "KMhelischen Objekts" insofern korrekturbedürftig ist, als nicht ji ile kollektive Sinnzuordnung ästhetischer oder literarischer Natur 1*1.1 )aher bietet sich als Alternative der Begriff "Objektkonstruk-llim" an, der auch nicht-ästhetische Sinngebungen erfaßt und ■iiiltin die diskursiven Konstruktionsverfahren (Klassifikation, ......itive Struktur etc.) berücksichtigt. Daß Hesses Werk von ■ichiedenen amerikanischen Gruppen neu konstruiert wurde, Im Miiiigt indirekt Egon Schwarz in seiner Analyse der amerikani-«t hen Rezeption: "Hätte es keinen Hesse gegeben, so hätten ihn ille amerikanischen Rebellen erfinden müssen."53 Rezeption ist ■Ofern eine "Erfindung" im Sinne des Radikalen Konstruktivis-iiiii-.,'' als die Texte eines fremden Autors in Übereinstimmung Hill neuen Bedürfnissen und Interessen (re-) konstruiert werden. Hlnige dieser Interessen werden in der umfangreichen Rezeptions-wiiilysc von Carlee Marrer-Tising erwähnt: Antiautoritäre Gesin- ......g (Revolte gegen die ältere Generation), Kritik an Schule und Universität, Suche nach dem Ich und dem Sinnzusammenhang, Aiiiiniilitarismus und Pazifismus.55 Zu dem von Ziolkowski erwähnten soziologischen Phänomen winde Hesse zunächst durch seinen britischen Vermittler Colin Wilson, der in seiner berühmt gewordenen Studie The Outsider 11 ').S()) Hesse dem englischsprachigen Publikum als romantischen Außenseiter vorstellt. Es überrascht kaum, daß er dabei den Stepptnwolf in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt: "Für itii'.cie Untersuchung des Outsiders ist der Steppenwolf (1927) T, Ziolkowski, "Hermann Hesse in den USA", in: A. Hsia (Hrsg.)J1ermann Hesse heule, Bonn, Bouvier, 1980, S. 11. (I Ii Schwarz, "Hermann Hesse, die amerikanische Jugendbewegung und Probleme der literarischen Wertung", in: V. Michels (Hrsg.), Über Hermarm Hesse Bd.2, 1963-1977, Frankfurt, Suhrkamp, 1977, S. 90. II "Erfindung" im Sinne der radikalen Konstruktivisten, die von dem Gedanken misgchen, daß wir nicht die Dinge "an sich" wahrnehmen, sondern nur unsere Konstrukte von ihnen. Siehe: P. Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeil. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus, München, Piper, 1985 (3.Aufl.). ti C. Marrer-Tising, The Reception of Hermann Hesse by the Youth in the United Stilles. A Thematic Analysis, Bern-Frankfurt, Peter Lang, 1982, S. 381-383. 192 193 Hesses bedeutendster Beitrag."56 Wilsons Vermittlerrolle wird von John J. White pointiert zusammengefaßt: "Es ist ein paradoxer Aspekt der Wirkungsgeschichte, daß Wilsons einseitiges Bild vom Hesseschen Helden als 'romantischem Outsider', vorgetragen in einem enthusiastischen Kapitel, direkt und indirekt mehr zur Verarbeitung von Hesses Ruf in Großbritannien beigetragen hat als alles andere, was vor 1956 geschrieben wurde."57 Stärker als der im Jahre 1946 verliehene Nobelpreis, der Hesse in den USA vorwiegend in literarischen Kreisen bekannt machte, wirkte Wilsons Buch auf die amerikanische Rezeption ein, die bei den Beatniks der späten 50er und 60er Jahre gruppenspezifischen Charakter annahm: "Starke Anregungen kamen von Colin Wilson, dessen anglo-amerikanischer Bestseller The Outsider Hesse eine literarische Sonderstellung einräumte, was eine nachhaltige Leser« neugier unter den Beatniks auslöste."58 Wie sehr den Randgruppen der Beatniks eine Katalysatorfunktion im RezeptionsprozcU zufiel, fällt auch Carlee Marrer-Tising auf: "Kurzum, Hessel amerikanische Popularitätswelle begann, als die Beatnik-Hippic-Bewegung anfing, ihn als einen Autor des Untergrunds (underground writer) zu lesen(...)."59 Die ideologische Affinität zwischen den Vorstellungen der Beatnik- und Hippie-Gruppen und einigen ins Englische übersetzten Texten wie Siddharta (übers, 1951) oder Der Steppenwolf (übers. 1929, 1963) erklärt sich iffl Zusammenhang mit den folgenden Ideologemen: anarchistische Gesinnung, Außenseitertum, antimaterialistische Einstellung und Neigung zu fernöstlicher Mystik. Vom Lesemodus der Beatniku sagt Rudolf Koester zu Recht, er "beruhte großenteils auf Identifikation".60 Dieser Lesemodus wird in der Hippie-Kultur der späten 60of Jahre fortgesetzt, wobei das Außenseitertum durch psychedelisch« rri 56 C. Wilson, "Der romantische Outsider", in: V. Michels (Hrsg), Über Hermim Hesse Bd.l., 1904-1962, Frankfurt, Suhrkamp, 1976, S. 287. 57 J.J. White, "Großbritannien", in: M. Pfeifer (Hrsg.), Hermami Hesses weltWfM 58 R. Koester, "USA", in: Wirkung Bd.l, op.cit., S. 192. i: Hermann Hesses weltweite Wirkung Bd.l, op.cit., S. IW 59 C. Marrer-Tising, The Reception of Hermann Hesse by the Youth in the UnM States, op.cit., S. 62. 60 R. Koester, "USA", op.cit., S. 158. I Experimente mit der "Innerlichkeit" (dem Unbewußten) ergänzt wird. Für diese Ergänzung ist primär der zweite englischsprachige Vermittler Hermann Hesses verantwortlich: Timothy Leary, "ein sliiatlich geprüfter Drop-out, der High Priest der amerikanischen psychedelischen Bewegung, wegen LSD-Besitz und Marihuana-Schmuggel zu dreißig Jahre Gefängnis verurteilt, Psychologe und »htrünniger Harvard-Dozent (...)."61 Leary radikalisiert die refe-icntielle (also nicht-fiktionale und nicht-ästhetische) Lesart von Nesses Texten: "Die Kritiker erzählen uns, Hesse sei ein mei-Nlcrhafter Romancier. Nun, vielleicht. Doch der Roman ist ein »oziales Modell, und das Soziale in Hesse ist exoterisch. Auf einer anderen Ebene ist Hesse der Meisterführer zum psychedeli-Ichen Erlebnis und seiner Aufwertung. Vor deiner LSD-Sitzung noll lest du Siddharta und Steppenwolf lesen. Der letzte Teil des Suppenwolf ist ein unschätzbares Lehrbuch."62 Diese Passage leigt, wie ein ästhetisches Objekt ("Hesse als Romancier") durch M'k-ktive Rekonstruktion, durch "Ebenenwechsel", um Leary zu piiniphrasieren, zu einem referentiellen Text, zu einer Gebrauchsanweisung für den Drogengenuß werden kann. Insofern hat Ziol-kowski recht, wenn er in seinem bekannten Aufsatz "Saint Hesse «inong the Hippies" bemerkt, daß in der Hippie-Subkultur "jegliche Diskussion über Hesses rein literarische Verdienste irrele-vmil ist."63 Nicht irrelevant hingegen ist Hesses politisches und pazifisti-\i hes Engagement, das sich zum Outsidertum, zur orientalischen Mystik und zum Experiment mit dem Unbewußten gesellt und • ii weise so verschiedene Gruppen wie Teenager, Beatniks, Hippie, und radikale Kritiker des Vietnam-Krieges zusammenführt. I Hirt die Allianz dieser Gruppen schreibt Fred Haines, der in den Nln Jahren den Steppenwolf verfilmte: "Wenn sich anfangs 1 Klniks und Teenager gegenseitig ignorierten, so führte der »I Ans: Hermann Hesse 1877-1977. Stationen seines Lebens, des Werkes und seiner Wirkung, Marbach-Neckar, Gedenkausstellung zum 100.Geburtstag im Schiller-N;ilional-Museum, Deutsche Schiller-Gesellschaft, 1977, S. 384. •» I Leary, "Meisterführer zum psychedelischen Erlebnis", in: V. Michels (Hrsg.), Materialien zu Hermann Hesses "Der Steppenwolf", Frankfurt, Suhrkamp, 197£ 1 I /iolkowski, in: Hermann Hesse 1877-1977, op.cit., S. 387. 194 195 Vietnam-Krieg sie später zusammen, während er gleichzeitig (II Kluft beider Gruppen zu der älteren Generation unübcrbrücklmi vergrößerte."64 Diese Darstellung wird weitgehend von MarrÄ Tising bestätigt, wenn sie im Zusammenhang mit der amerikiinh sehen Nachkriegsgeneration von einem "greater sense of rebclliiiii against the older generation" spricht.65 Die pazifistisch-anarclil» stische Ideologie, zu der sich Hesse in seinen Politischen Betritt h> tungen direkt und im Steppenwolf indirekt bekennt66, hat in den USA den Brückenschlag von den Bcatniks und Hippies zur Prfl densbewegung der späteren 60er Jahre ermöglicht. Allerdhi|(i geriet diese politische Rezeption niemals in Gegensatz zur nimmt« tischen, anarchistischen oder psychedelischen. Dadurch unterscheidet sie sich von den linksradikalen und marxistischen Reaktionen der 60er Jahre in Westdeutschlmidi "Den jungen westdeutschen Linksradikalen - ohnehin vorcinglt nommen gegen einen Favoriten der älteren Generation - crschM Hesse als ein unpolitischer, weltfremder InnerlichkeitsromanOM (...)."67 Damit knüpft die deutsche 68er Generation an die link» Kritik der Zwischenkriegeszeit an, die sich auf besonders prägniMi te Art in einem Kommentar von Kurt Tucholsky artikuliert: "fm ist kein Zufall, daß diese Innenkünstler fast immer reaktionär sind oder aber - und das ist der schlimmere Fall - von Reaktionär« benutzt, ausgenutzt und mißbraucht werden können."68 Dlfl Kritik kündigt wiederum die Rezeptionsproblematik in der eherw ligen DDR an, deren diskursive Aspekte hier zum Abschlul skizziert werden sollen. Für sie sind die Kommentare von Hesse-Forschern wie FrlH Böttger und Hans-Joachim Bernhard typisch, in denen es primM darum geht, Hesse trotz seines radikalen Individualismus urf Idealismus für das "Erbe" der neuen sozialistischen Kultur ■ 64 F. Haines, "Hermann Hesse und die amerikanische Subkultur", in: V. Mlcfefl (Hrsg.), Materialien zu Hermann Hesses "Der Steppenwolf", op.cit., S. 393. 65 C. Marrer-Tising, The Reception of Hermann Hesse by the Youth in the Ulülm States, op.cit., S. 57. 66 Siehe: H. Hesse, "Krieg und Frieden. Sommer 1918", in: ders., Politische Betrifft tungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 30-33. 67 R. Koester, "USA", in: H. Pfeifer (Hrsg.), Hermann Hesses weltweile Wirkuml op.cit., S. 161. 68 K. Tucholsky, in: Hermann Hesse 1877-1977, op.cit., S. 358. feiten", d.h. ihn als bürgerlichen, kritisch-realistischen Humani-Wii zu vereinnahmen. Dies geschieht auf intertextueller Ebene (• kiip.II) in ständiger unterschwelliger Polemik gegen die west-dpulsclien und amerikanischen Diskurse, die Hesse für die Ro-nittnlik, die Moderne oder das psychische Experiment reklamieren. I Vi dominierende ostdeutsche Diskurs der frühen 70er Jahre Iii auch im Bereich der Hesse-Kritik - nicht nur dualistisch, mildern auch teleologisch strukturiert. Im Rahmen des bekannten Aklanlenmodells (Subjekt=Arbeiterklasse; Antisubjekt=Bürgertum; llh|rkt=Gesellschaft; Auftraggeber=Kommunismus; Gegenauf-iiHMcber=Kapitalismus) wird Hesses Ambivalenz als tragischer Zwiespalt eines bürgerlichen Humanisten gedeutet, der sich nicht (Nii'.cliließen konnte, zum Helfer (adjuvant, Greimas) des Subjekts tu werden: "Die ausschlaggebende Möglichkeit dazu liegt in der i fwlcspältigen Haltung des Dichters zu den geschichtsbildenden * Hillen der Epoche, zur revolutionären Arbeiterklasse, zum Kommunismus."69 Im Zweifelsfall gilt es, teleologisch nachzuhelfen, i-itnii aus dem Schwankenden doch noch ein brauchbarer Helfer d»x Proletariats werde: "Hesse hat sich den Blick für die Lebens-knill und Perspektive des Kommunismus (...) nicht trüben las-Üli."'" In dieser Perspektive erscheint Der Steppenwolf als ein Human des kritischen Humanismus: "Der Steppenwolf ist ein Ilm Ii der verzweifelten Abwehr aller Versuche einer 'Zurücknahme' tles humanistischen frühbürgerlichen Denkens."71 Das Wort 'jf.uiücknahme' ist nur im Rahmen eines diskursiven Schemas zu »mlehcn, dem die narrative Struktur "vom Feudalismus zum hiipilalismus, vom Kapitalismus zum Sozialismus (Kommunismus)" zugrunde liegt. I >aß diese ideologische Struktur nicht nur in der Hesse-Rezeption dominiert, sondern auch die ostdeutschen Deutungen anderer HiiHltrner Autoren, etwa des Kubaners Jose Marti, beherrscht, »riiinschaulicht die voluminöse Martf-Studie von Ottmar Ette, in du ein ostdeutscher Literaturwissenschaftler namens Hans-Otto in I /.ilicrt wird, "der immer wieder die Verbindungslinie Martf- II.-J. Bernhard, "Hesse-Pflege und Hesse-Kult", in: F. Böttger, Hermann Hesse, I Iben. Werk. Zeit, Berlin, Vlg. der Nation, 1974, S. 470. Ibid. Ibid., S. 459. Oktoberrevolution/Lenin-Castro beschwor": "War Marti für Dill auf der politischen Ebene unbezweifelbar ein direkter Vorläufer des kubanischen Sozialismus, so erschien der Modernist auf dof literarischen Ebene als eine Art Vorläufer des sozialistischen Realismus."72 Es geht hier nicht um die ideologische Struktur als solche, sondern um die Tatsache, daß sie ästhetische Objekte hervor« bringt, die aus Hesse trotz seines Individualismus, seines Idealil« mus und seiner Nähe zu Nietzsche, die Bernhard selbst or« wähnt73, einen Helfer der Arbeiterklasse und einen Vorläufer dof sozialistisch-realistischen Literatur machen. Daß Hesse sich mil derlei Deutungen nicht anfreunden konnte, liegt auf der Hand.'4 Nicht auf seine kritischen Reaktionen kommt es an, sondern auf die hier gewonnene Erkenntnis, daß verschiedene berufliche und ideologische Diskurse literarische Texte unterschiedlich (rekonstruieren und daß die sich überschneidenden und divergierenden Objektkonstruktionen von gruppenspezifischen, ideologischen Interessen und kulturellen Idiosynkrasien zeugen. 72 73 74 O. Etle, Jose Marti (Teil I). Apostel - Dichter - Revolutionär. Eine Geschieht» seiner Rezeption, Tübingen, Niemeyer, 1991, S. 291. Siehe: H.-J. Bernhard, "Hesse-Pflege und Hesse-Kult", op.cit., S. 464. Siehe: H. Hesse, in: M. Pfeifer, "Deutsche Demokratische Republik", in: M. Pfeif« (Hrsg.), Hermann Hesses weltweite Wirkung Bd.l, op.cit., S. 47. VI. Die literarische Übersetzung Neil Jahren bemühen sich Vertreter der Übersetzungswissenschaft, Ihl Fach als eigenständigen Forschungsbereich gegen Linguistik, Nemiotik und Literaturwissenschaft abzugrenzen.1 Schon deshalb irncheint es wenig sinnvoll, diese Disziplin in ihrer Gesamtheit der ohnehin heterogenen und um ihre Identität ringenden Komínu alistik einzuverleiben. Nicht die Übersetzungswissenschaft als l'in/c ist Bestandteil der Komparatistik, sondern ausschließlich die literarische Übersetzung, die es nicht nur mit sprachlichen, sondern auch mit ästhetischen Normen zu tun hat. Diese Normen wiuulcln sich von Epoche zu Epoche, von Gesellschaft zu Gesell-mliaft und von Gruppe zu Gruppe, so daß die Übersetzungstätig-Itcit, die von Rezeption und Interpretation nicht zu trennen ist, immer neue ästhetische Objekte oder Objektkonstruktionen (s. Knp.V) hervorbringt. Seit langem sind sich Theoretiker der literarischen Übersetzung einig, daß Übersetzer in erster Linie Rezipienten - Leserinnen oder Leser - sind, deren gesellschaftliche, psychische und liierarische Erfahrungen in den Übersetzungsprozeß eingehen: Der Übersetzer ist in erster Linie Leser", schreibt Jiří Levý und Inicht im Anschluß an Roman Ingarden und Felix Vodička von der "Konkretisierung (des Werks, P.V.Z.) seitens des Übersetzers."2 Der Übersetzer wendet also die sprachlichen und ästheti-nelien Normen seiner Gesellschaftsgruppe auf den fremden Text etwa auf Hesses Der Steppenwolf - an und verwandelt ihn dadurch in einen neuen Text oder ein "ästhetisches Objekt" im Sinne von Mukařovský und Vodička. Somit erscheint er als ein i ieistesverwandter des Literaturkritikers, von dem Vodička sagt, Ihm falle die Aufgabe zu, die Textgestalt "vom Standpunkt des ästhetischen und literarischen Empfindens seiner Zeit festzuhal- I Siehe z.B. W. Wilss, Übersetzungswissenschaft. Probleme und Methoden, Stuttgart, Klett, 1977, Kap.VI; R. Stolze, "Zur Bedeutung von Hermeneutik und Textlinguistik beim Übersetzen", in: M. Snell-Hornby (Hrsg.), Übersetzungswissenschaft - eine Neuorientierung. Zur Integrierung von Theorie und Praxis, Tübingen, Francke, 1986, S. 133-135. J. I^evy, Die literarische Übersetzung. Theorie einer Kunstgattung, Frankfurt-Bonn, Athenäum, 1969, S. 37. 198 199