V. Vergleichende Rezeptionsforschung Im vorigen Kapitel wurde bereits angedeutet, daß Einfluß- und Rezeptionsforschung nicht identifiziert werden sollten, weil hIi methodisch heterogen sind. Während sich der genetische Vert gleich als Einflußstudie primär mit der Einwirkung eines Autor» auf einen anderen befaßt, hat es die Rezeptionsstudie - wie sich zeigen wird - mit kollektiven Erscheinungen zu tun, etwa mit der Aufnahme eines Textes durch Gruppen von Lesern oder Literaturkritikern. Während im ersten Fall einzelne Werke oder TexH genetisch aufeinander bezogen werden, werden im zweiten Fnll zahlreiche Kritiker- oder Leserreaktionen auf einen Einzeltcxl oder ein ganzes Werk nach bestimmten Kriterien klassifiziert und ausgewertet. Im ersten Fall haben wir es also mit einer textanaly-tischen, texthermeneutischen oder textsoziologischen Studie iffl traditionellen Sinne zu tun, im zweiten Fall mit einer quantitativen Untersuchung im Sinne der empirischen Soziologie oder SozinN Psychologie. Freilich kann es Grenzfälle geben, in denen die Wirkung eine« Autors oder Autorenkollektivs in einem anderssprachigen Autorenkollektiv untersucht wird: etwa der französischen Surrealisten und der italienischen Futuristen in der Wiener Gruppe der 5(Vi und 60er Jahre (Artmann, Rühm, Wiener u.a.).1 In solchen Fällen könnte sowohl von Beeinflussung (also einem genetischen Vergleich) als auch von Rezeption die Rede sein. Sehr viel hän^l davon ab, welche Absicht ein Literaturwissenschaftler verfolgll Will er vor allem die avantgardistischen Verfahren untersuchen, die Mitglieder der Wiener Gruppe von Futuristen und Surrealisten übernommen haben, oder will er das quantitative Ausmaß der Wirkung oder Rezeption erforschen? Obwohl festgehalten werden kann, daß Einflußstudien c» primär mit dem Dialog von Autoren und literarischen Texten zu tun haben, während sich die Rezeptionsforschung mit kollektiven Kritiker- und Leserreaktionen befaßt, sollte man die Wechselbe- 1 Siehe: S. Schmid-Bortcnschlager, "Produktive Rezeption der Avantgarde in Östi reich", in: P.V. Zima, J. Strutz (Hrsg.), Europäische Avantgarde, Frankfurt-Bei Paris, Peter Lang, 1987, S. 133-137. 166 /h Innig zwischen Einfluß und Rezeption, genetischem Vergleich lind Rezeptionsstudie nicht aus den Augen verlieren. So haben iH'i.spielsweise Pio Barajas kritische Artikel über Nietzsche die »pimische Nietzsche-Rezeption mitgestaltet (s. Kap. IV), während die französische Nietzsche-Rezeption der Jahrhundertwende auf die ideologischen und philosophischen Auseinandersetzungen in Marcel Prousts A la recherche du temps perdu eingewirkt hat (Siiint-Loup ist "Nietzscheaner"). Ähnliches ließe sich von der Tiicstiner Psychoanalyse sagen, die Italo Svevo zunächst in ihren Hann schlug, später allerdings in Svevos Roman La coscienza di /rtio (1923) polemisch und ironisch relativiert wurde. Barajas Reaktionen auf Nietzsches Philosophie zeigen - ähnlich wie Miguel de Unamunos Kommentare zu Kierkegaards Werk - daß in jedem Land zu jedem Zeitpunkt Vermittler auf-liclcn, die als erste auf fremdsprachige Autoren aufmerksam machen, ihre Texte kritisch kommentieren oder interpretieren und dadurch einen Rezeptionsprozeß auslösen, den sie zugleich in eine In stimmte Bahn lenken, in der er lange Zeit verharren kann. Man denke an Madame de Staels einflußreiche Berichte über die deutliche Literatur und Kultur, die auf das französische Publikum nachhaltig gewirkt haben2, sowie an Sartres und Derridas Heidegger-Interpretationen, die mit den deutschen Deutungen (etwa Adornos) wenig zu tun hatten und in Frankreich eine neuartige Heidegger-Rezeption in Gang setzten. Schließlich sei an die Vermittler-Rolle Colin Wilsons und Timothy Learys erinnert, deren Aussagen und Schriften die gesamte Hesse-Rezeption in (iroßbritannien und vor allem den USA geprägt haben. Von heiden wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels ausführlich die Uede sein. Zum Abschluß soll die Bedeutung des Rezeptionsvergleichs hervorgehoben werden: In der traditionellen Komparatistik war es hisher üblich, die Rezeption eines Autors oder eines Textes (Goe-Ihes oder des Werber-Romans) in einem fremden Land zu untersuchen. Obwohl derlei Rezeptionsanalysen aufschlußreich und wertvoll sein können, sollte man nicht die Möglichkeit aus den 2 Madame de Stael, De l'Allemagne, Paris, Hachette, 1958 und Über Deutschland, Frankfurt, Insel, 1985. 167 in Augen verlieren, die Rezeptionen eines Autors oder Textes in verschiedenen Ländern miteinander zu vergleichen. Dies soll hier im letzten Abschnitt - wenn auch nur ansatzweise - versucht werden. 1. Kritik der Rezeptionsästhetik Die Rezeptionsästhetik von Hans Robert Jauß trat mit dem Anspruch auf, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft aus dem produktionsästhetischen "Paradigma", das von der Frage nach Text und Autor beherrscht wurde, in ein rezeptionsästhetisches überzuleiten, in dessen Mittelpunkt der Leser steht. In einem Aufsatz, der 1969 in den Linguistischen Berichten erschien, unterscheidet Jauß drei historische "Paradigmen": das klassizistische, das von der "Antike als Vorbild und Normensystem"3 beherrscht wird; das literaturhistorische, das von der Frage nach dem Ursprung und der nationalen Identität zusammengehalten wird; und schließlich das werkimmanente, das zusammen mit der Geschichte alle textexternen Faktoren ausblendet. Selbst wenn man Jauß' Versuch, die Komparatistik im zweiten, im historischen "Paradigma" zu verankern, plausibel findet, wird man die Heterogenitäl dieses "Paradigmas" nicht übersehen wollen: Die Tatsache, daß Vertreter des Positivismus und der Geistesgeschichte die Literatur aus historischer Sicht betrachten, macht sie noch nicht zu Verfechtern einer gemeinsamen theoretischen Position oder gar Methode. Im ersten Kapitel (Abschn. 5) hat sich u.a. gezeigt, daß die am Modell der Naturwissenschaften ausgerichtete positivistische Forschung (etwa Scherers) der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik diametral entgegengesetzt ist. Es kommt hinzu, daß Jauß auch die außerordentlich heterogene marxistische Literaturwissenschaft ins zweite Paradigma einzuordnen versucht: "Die marxistische Literaturwissenschaft hat in der Tat das literarhistorische Modell des zweiten Paradigmas bis heute noch nicht durch eine ihrer Geschichtsauffassung gemäße Konzeption ersetzt."4 Hier wird deutlich, daß der Paradigma-Begriff, den Thomas S. Kuhn in seinem bekannten Buch auf die Entwicklung einiger Naturwissenschaften (Physik, Astronomie, Chemie) anwendet, in den Sozialwissenschaften und in der Literaturwissenschaft zu einem schillernden Pseudobegriff wird, der wenig erklärt, dafür aber eine ideologische Funktion erfüllt, auf die in der Vergangenheit hingewiesen wurde.5 In Jauß' Diskurs wird das Wort "Paradigma" insofern zu einem Ideologem, als es eine "auf Wirkung bezogene Ästhetik"6 legitimieren soll, die etwas später in der bekannten Streitschrift Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft als Alternative zu den verschiedenen Varianten der Produktions- und Darstellungsästhetik vorgeschlagen wird: "Eine Erneuerung der Literaturgeschichte erfordert, die Vorurteile des historischen Objektivismus abzubauen und die traditionelle Produktions- und Darstellungsästhetik in einer Rezeptions- und Wirkungsästhetik zu fundieren."1 In dieser Passage zeigt sich, daß Jauß' Diskurs (s. Kap. II) auf ein ideologisches Telos, nämlich die "Rezeptionsästhetik", ausgerichtet ist und daß seine Klassifikationen und Definitionen der diskursiven Teleologie dienen: Sein Versuch etwa, so heterogene Erscheinungen wie Positivismus, Geistesgeschichte und Marxismus dem "zweiten literaturwissenschaftlichen Paradigma" zu subsumieren, soll Ende der 60er Jahre verhindern, daß "der Marxismus" als historisch-wissenschaftlicher Aktant der Rezeptionsästhetik das neue Paradigma streitig macht. Auch "der Strukturalismus" soll als Anwärter auf das neue, das vierte Paradigma disqualifiziert werden: "Denn die neuen Schulen und Richtungen der Kritik, die unter dieses jetzt so modische Etikett gebracht werden oder sich selbst damit auszeichnen wollen, sind in ihrer H.R. Jauß, "Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft", in: Linguistische Berichte 3, 1969, S. 47. Ibid., S. 53. Siehe: Th.S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 57-64 und Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. 12. H.R. Jauß, "Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft", op.cit., S. 56. H.R. Jauß, Literaturwissenschaft als Provokation, Frankfurt, Suhrkamp, 1970 S 171. Methodik und Tendenz noch ganz uneinheitlich."8 Allerdings ist die Rezeptionsforschung, der so verschiedene Ansätze angehören wie Jauß' Hermeneutik des Lesens, Wolfgang Isers phänomenologische Wirkungsästhetik, Norman Hollands psychoanalytischer "reader response criticism" und die in Ostdeutschland entwickelten marxistischen Rezeptionstheorien, kaum homogener. Der an sich richtige Hinweis auf die Heterogenität des Strukturalismus erscheint somit als ideologisches Manöver, welches die rezeptionsästhetische Teleologie fördert. Der ideologische Charakter der Rezeptionsästhetik, der in anderen Zusammenhängen erforscht wurde9 und hier im Anschluß an das zweite Kapitel als diskursive Anordnung dargestellt wird, soll nicht Jauß' Ansatz diskreditieren, sondern zeigen, daß jede Theorie als Soziolekt und Diskurs nur ein mögliches (kontingen-tes) modellierendes System ist, das die Wirklichkeit in Übereinstimmung mit partikularen Interessen gestaltet. Dabei reagiert es auf andere Soziolekte und Diskurse - etwa den Marxismus, die Psychoanalyse oder den Strukturalismus - und stellt ihre wissenschaftliche Qualifikation in Frage. Insofern ist auch die Rezeptionsästhetik von H.R. Jauß nur dialogisch als ideologisch-theoretische Reaktion auf die Diskurse des Marxismus, der werkimmanenten Literaturwissenschaft und des Strukturalismus zu verstehen. Trotz dieser ideologiekritischen Erkenntnis wäre es ein Fehler, sie pauschal als Ideologie (im allgemeinen und restriktiven Sinn) zu verurteilen und ihre Wahrheitsmomente zu ignorieren - wie es Anfang der 70er Jahre einige übereifrige Marxisten getan haben.10 Denn Jauß und Iser haben durchaus recht, wenn sie im Anschluß an den tschechoslowakischen Strukturalismus für eine grundsätzliche Unterscheidung von Text und Interpretation plädieren und sich - wie seinerzeit der Prager Strukturalist Jan Mukaŕovský - dagegen wehren, daß der vieldeutige Text mit 8 H.R. Jauß, "Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft", op.cit., S. 54. 9 Siehe: P.V. Zima, "'Rezeption' und 'Produktion' als ideologische Begriffe", in: ders., Kritik der Literatursoziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1978. 10 Siehe: B.J. Warneken, "Zu Hans Robert Jauß' Programm einer Rezeptionsästhetik", in: P.U. Hohendahl (Hrsg.), Sozialgeschichte und Wirkungsästhetik, Frankfurt, Athenäum-Fischer, 1974, S. 290-296. seinen Interpretationen (oder wie Mukafovsky sagt: "ästhetischen ()bjekten") verwechselt wird. Mukafovsky unterscheidet sorgfältig /.wischen dem Kunstwerk als Artefakt oder Symbol und dem Kunstwerk als ästhetischem Objekt: "Vor allem ist zu betonen, daß das Kunstwerk keineswegs eine unveränderliche Größe darstellt: durch jede Verschiebung in der Zeit, im Raum und in der sozialen Umwelt verändert sich die aktuelle künstlerische Tradition, durch deren Prisma das Werk wahrgenommen wird, und unter dem Eindruck dieser Verschiebungen verändert sich auch das ästhetische Objekt, das im Bewußtsein der Mitglieder des jeweiligen Kollektivs dem materiellen Artefakt, der Schöpfung des Künstlers entspricht."11 Ein vieldeutiger literarischer Text wie Hermann Hesses Der Steppenwolf (s. Abschn. 3) ist interpretierbar und bringt in der amerikanischen Gesellschaft der 60er Jahre ganz andere ästhetische Objekte hervor als in der deutschen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit. Ein japanisches Haiku-Gedicht wird von der europäischen Leserschaft nicht mehr im Rahmen der japanischen I .iteraturtraditionen wahrgenommen, sondern unmittelbar in den Kontext der europäischen Erfahrungswelt projiziert, so daß auch in diesem Fall ein neues ästhetisches Objekt entsteht, das bei so manchem japanischen Leser Befremden auslösen mag. Im vierten Kapitel stellte sich heraus, daß Nietzsche im Spanien der "Genera-ciön del 98" anders gelesen wird als im Deutschen Reich der Jahrhundertwende. Jauß knüpft nun an Mukafovsky an, wenn er zeigt, wie die sich wandelnden ästhetischen und außerästhetischen Normen12 die literarischen Erwartungen des Publikums prägen und wie diese historisch variablen Erwartungen stets neue Interpretationen oder ästhetische Objekte hervorbringen. Im Gegensatz zur werkimmanenten Interpretation eines Wolfgang Kayser, die - ähnlich wie die meisten marxistischen Ästhetiken - nach der "richtigen Interpretation" Ausschau hielt13, geht Jauß von der These aus, daß 11 J. Mukafovsky, Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 74. 12 Siehe: J. Mukafovsky, "Die ästhetische Norm", in: ders., Kunst, Poetik, Semiotik, Frankfurt, Suhrkamp, 1989, S. 130-131. 13 Siehe: W. Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, Bern-München, 1949 (19. Aufl.), S. 22-24. 170 171 Literatur nicht Ideen ausdrückt oder Wirklichkeit abbildet, sondern bestehende ästhetische und außerästhetische (etwa moralische) Normen verletzt und dadurch häufig den Erwartungshorizont der Leser durchbricht. Dieser Erwartungshorizont, den Jauß im Anschluß an den Wissenssoziologen Karl Mannheim14 und den Hermeneutiker Hans-Georg Gadamer15 definiert, setzt sich aus mindestens drei Komponenten zusammen: 1. aus den Erfahrungen des Lesers mil einem bestimmten Autor; 2. aus seinen Erfahrungen mit einer literarischen Gattung (mit Literatur und Kunst allgemein) und 3, aus nichtliterarischen (psychischen, sozialen) Faktoren. Es wird sich zeigen, daß Jauß die literarischen Komponenten des Erwartungshorizonts in den Vordergrund stellt und die außerliterarischen vernachlässigt. Indem Literatur und Kunst etablierte ästhetische Normen in Frage stellen (etwa durch die Erneuerung dramatischer und epischer Formen), nötigen sie Leser oder Zuschauer nicht nur zum neuen Sehen, sondern auch dazu, ihr Literatur- und Wirklichkeitsverständnis zu überprüfen und zu ändern. Läßt sich der Leser auf einen ernsthaften Dialog mit dem - anfangs unverständlichen oder fremden - Text ein, so wird er seine Normenskala revidieren, auf das neue ästhetische Angebot eingehen und seinen Erwartungshorizont in Übereinstimmung mit diesem Angebot erweitern. Jauß spricht in diesem Fall von einer Horizontverschmelzung, die zwischen Text und Leser stattfindet. Es leuchtet ein, daß sowohl der Begriff des "Erwartungshori- I zonts" als auch der der "Horizontverschmelzung" für die Kom-paratistik fruchtbar gemacht werden kann. Was Jauß über die Literatur des Mittelalters schreibt, gilt in abgewandelter Form auch für die Aneignung fremder Literaturen: "Sich diese Anders- 14 15 Als erster verwendet K. Mannheim den Begriff Erwartungshorizont: Siehe: K. Mannheim, Strukturen des Denkens, Frankfurt, Suhrkamp, 1980, S. 230. Siehe: H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1975 (4. Aufl.), S. 286-287. Wie später Jauß ging es Gadamer darum, mit Hilfe der Horizont-Metapher die historischen Fragen zu rekonstruieren, auf die ein Autor mit seinem Werk zu antworten suchte: "Entsprechend bedeutet die Ausarbeitung der hermeneutischen Situation die Gewinnung des rechten Fragehorizonts für die Fragen, die sich uns angesichts der Überlieferung stellen." (S. 286) licit einer abgeschiedenen Vergangenheit bewußt zu machen, n fordert das reflektierende Aufnehmen ihrer befremdenden Aspekte, methodisch ausführbar als Rekonstruktion des Erwar-lungshorizonts der Adressaten, für die der Text ursprünglich vfifaßt war."16 Der deutsche Leser des französischen Nouveau Koman wird diese neue Gattung nur dann adäquat verstehen, wenn er — wie sein französischer Zeitgenosse - Alain Robbc-Gril-lets offene und versteckte Polemik gegen den existentialistischen Koman Sartres und Camus' wahrnimmt und dadurch der literarischen Tradition sowie ihren Brüchen und Verwerfungen Rechnung liägt.17 Die Ironie von Cervantes' Roman El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha wird er nur dann nachvollziehen können, wenn er weiß, daß dieser Roman als Parodie des traditionellen Ritterromans zustande kam und von den meisten spani-ichen Lesern des ausgehenden 16. Jahrhunderts entsprechend rezipiert wurde. Obwohl an der Brauchbarkeit von Jauß' Schlüsselbegriff des "Krwartungshorizonts" für die Komparatistik nicht gezweifelt werden sollte, wäre es leichtsinnig, ihn kritiklos zu übernehmen, zumal er in der Vergangenheit, vor allem von ostdeutschen Marxisten wie Robert Weimann und Manfred Naumann, kritisch zerlegt wurde. Die marxistische Kritik am rezeptionsästhetischen Begriff hat in den 70er Jahren wichtige Erkenntnisse zutage gefördert und uns vor Augen geführt, wie Begrifflichkeit durch ideologisch-theoretischen Dialog bereinigt und gestärkt wird. Gestärkt wird nllerdings nicht eine ideologische Position, sondern der Begriff selbst, dessen verschiedene Aspekte erst in dem oft polemisch geführten theoretischen Gespräch in Erscheinung treten. So weisen beispielsweise die unter Leitung von Manfred Naumann arbeitenden Autoren des Sammelbandes Gesellschaft. Literatur. Lesen (1973) mit Recht daraufhin, daß der Erwartungs-horizont bei Jauß fast ausschließlich literarisch, literaturimmanent definiert wird und daß der Publikumsbegriff der Rezeptionsästhe- 172 16 H.R. Jauß, Alternat und Modernität der mittelalterlichen Literatur, München, Fink, 1977, S. 10. 17 Siehe: A. Robbe-Grillet, Pour un nouveau roman, Paris, Gallimard ("idees"), 1970, S. 70-78. 173 tik zu abstrakt, zu unverbindlich ist: "Um welches konkrete Publitt kum es sich nämlich handelt, das als eine derart energetische Kraft den Literaturprozeß trägt, wird von Jauß nicht näher bestimmt. Für ihn existiert nur ein Publikum schlechthin, das einzig in seiner Eigenschaft als Literaturrezipient gekennzeichnet wird. Nur in dieser Eigenschaft, die sich in einem ausschließlich litcnt-risch, nicht soziologisch vorgegebenen 'Erwartungshorizonl' niederschlägt, fungiert es als die die Geschichtlichkeit der Litoi ratur konstituierende Vermittlungsinstanz."18 In dieser Kritik werden einige wunde Punkte der Jaußschen Rezeptionsästhetik sichtbar: Es ist richtig, daß Jauß den "Erwartungshorizont" vorwiegend literaturimmanent betrachtet und ihn sowohl in seinen frühen als auch in seinen späteren Studien vor allem im Bereich der schriftstellerischen Produktion untersucht, Rezeption bedeutet ihm häufig die Aufnahme eines Autors durch einen anderen, nicht durch ein differenziertes Publikum: Goethe erscheint als Leser der Nouvelle Heloise und Paul Valery als Leser von Goethes Faust. Wie sehr die Rezeptionsproblematik aul die Lektüre einzelner Autoren eingeengt wird, zeigt Jauß' Arbeil über "Rousseaus 'Nouvelle Heloise' und Goethes 'Werther' im Horizontwandel zwischen französischer Aufklärung und deutschem Idealismus", in der die "produktive Rezeption" durch den einzelnen Dichter in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt wird: "Sodann soll das latente Muster der Nouvelle Heloise im Text des Werther aufgedeckt und danach gefragt werden, wie Goethe dieses Muster in produktiver Rezeption aufgenommen und erneuert hat (...)."19 Von Mukafovskys und Felix Vodickas ursprünglichem Vorhaben, die Konstitution ästhetischer Objekte im Kollektivbewußtsein von Literaturkritikern20 und anderen gesellschaftlichen Gruppen zu untersuchen, ist hier nicht viel übriggeblieben. Jauß verwirklicht auch nicht sein eigenes, zugleich sozialgeschichtliches und 18 M. Naumann (Hrsg.), Gesellschaft. Literatur. Lesen, Berlin-Weimar, Aufbau Vlg., 1975 (2. AuH.), S. 136. 19 H.R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt, Suhr-kamp, 1982, S. 614. 20 Siehe: F. Vodička, Die Struktur der literarischen Entwicklung, München, Fink, 1976, S. 94-98. Ii /eptionsästhetisches Projekt, das er in "Der Leser als Instanz i liier neuen Geschichte der Literatur" (1975) ankündigt: "Die I lesehichte der Literatur stellt sich hinfort als Prozeß dar, an dem ■In l-cser als tätiges, obschon kollektives Subjekt dem individuell |iiiKluzierenden Autor gegenübersteht und als vermittelnde Instanz In der Geschichte der Literatur nicht mehr übersehen werden kiiiin."21 Anscheinend ist es doch möglich, ihn zu übersehen, denn Jauß selbst hat sich mit dem "kollektiven Leser", d.h. mit dem Verhalten von Lesergruppen, nie ernsthaft befaßt, und Jörn Sliickrath hat zweifellos recht, wenn er kritisch anmerkt, "daß ImiU' Interesse am Leser vor allem auch das Interesse am Leser hIs Autor ist."22 Man könnte noch einen Schritt weitergehen und sich fragen, nl) Jauß' Rezeptionsästhetik, die ein neues literaturwissenschaftli-ihcs Paradigma begründen sollte, nicht vorab als hermeneutische I influßforschung konzipiert und entwickelt wurde. Sofern man bereit ist, von Barojas, Camus' und Lawrences "Nietzsche-Rezep-Uon" zu sprechen, kann man auch die im vorigen Kapitel durchgeführten Analysen für Rezeptionsstudien halten... Tatsächlich /.cigt sich, daß in der Komparatistik Einflußstudien oder genetische Vergleiche mit Rezeptionsuntersuchungen verwechselt werden. An solchen Verwechslungen ist Jauß nicht unbeteiligt. So unterscheidet zwar Maria Moog-Grünewald in ihrem Aufsatz über "liinfluß- und Rezeptionsforschung" die "passive Rezeption durch die breite Lesermasse", die "reproduzierende Rezeption durch Kritik, Kommentar, Essay" und die "produktive Rezeption durch Literaten und Dichter"23, richtet aber das Augenmerk (wie Jauß) auf die produktive Rezeption, die weitgehend mit dem Einfluß übereinstimmt. Der letzte Teil ihres Aufsatzes "Frischs Don Juan - 'Rezeption' und 'Innovation'" setzt sich mit Max Frischs Um-deutung von Tirso de Molinas, Moliéres und Mozarts Bearbeitun- 21 H.R. Jauß, "Der Leser als Instanz einer neuen Geschichte der Literatur", in: Poetica 3/4, 1975, S. 336. 22 J. Stückrath, Historische Rezeptionsforschung. Ein kritischer Versuch zu ihrer Geschichte und Theorie, Stuttgart, Metzler, 1979, S. 119. 23 M. Moog-Grünewald, "Einfluß- und Rezeptionsforschung", in: M. Schmeling (Hrsg.), Vergleichende Literaturwissenschaft. Theorie und Praxis, Wiesbaden, Athenaion, 1981, S. 58. 174 175 gen des Don-Juan-Stoffes auseinander: "Frisch gibt eine neue Antwort, und diese verdankt ihre Originalität und Wirkung den vorgängigen literarischen wie 'vulgären' Rezeptionen der drei wichtigsten Stoffbearbeitungen durch Molina, Moliere und Mozart/Da Ponte."24 Doch Einfluß- und Rezeptionsforschung sind zweierlei, und das Versprechen der Jaußschen Rezeptionsästhetik, den "Leser als kollektives Subjekt" zu erforschen, bleibt uneinge-löst. 2. Rezeptionssoziologie komparatistisch Es kann nicht von Komparatisten eingelöst werden, die ihre Disziplin von den Sozialwissenschaften abgekoppelt haben und danach streben, die Leserforschung aus der Literaturwissenschaft zu verbannen: "Die Kenntnis der 'Rezeptionserlebnisse' rein passiver Leser in möglichst stattlicher Zahl zeitigt eh nur für die Psychologie, die Soziologie und vor allem für die kommerzielle Buchmarktforschung gewinnbringende Ergebnisse, kaum für diu Literaturwissenschaft."25 Unberücksichtigt bleibt hier die Tatsache, daß es in der Soziologie, der Psychologie und der Psychoanalyse auch kritische Theorien gibt, die nicht mit dem Kommerz verquickt sind, sondern nach der Korrelation von literarischer Sinnzuordnung und ideologischer Motivation fragen. Dabei gehen sie über den literarischen Bereich hinaus und untersuchen den ideologischen Erwartungshorizont der Leser, den auch der Wissenssoziologe Mannheim meinte, als er den Schlüsselbegriff der Rezeptionsästhetik prägte.26 In der Vergangenheit hat deutsche und französische Leserfor« 24 Ibid., S. 69. 25 Ibid., S. 54-55. 26 Siehe: K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt, Schulte-Bulmke Vlg., 1978 (6. Aufl.), S. 55, wo der Autor den totalen Ideologiebegriff mit Metaphern wl« "Sicht", "Aspekt", "Betrachtungsweise" etc. umschreibt: "(...) Bei dem totalen Ideologiebegriff ist man der Ansicht, daß dieser oder jener Lagerung diese odot jene Sicht, Betrachtungsweise, Aspekt entspricht." Der Begriff des "Erwartung!, horizonts" ist also durchaus mit dem "totalen Ideologiebegriff' der Wissenssoziologie verwandt. schung gezeigt, daß die Soziologie der Lesergruppe sowohl für die Allgemeine als auch für die Vergleichende Literaturwissenschaft wesentlich ist: Besondere Aufmerksamkeit schenkt diese Soziologie der Entwicklung der Literaturkritik und der sozialen Position des Kritikers, von dem der Prager Strukturalist Felix Vodička sagt: "Der Kritiker hat in der Gesellschaft derjenigen, die am literarischen Leben teilnehmen und sich auf das Werk hin orientieren, seine festgelegte Funktion. Seine Pflicht ist es, sich über ein Werk als ein ästhetisches Objekt auszusprechen, die Konkretisation des Werks, d.h. seine Gestalt vom Standpunkt des ästhetischen und literarischen Empfindens seiner Zeit festzuhalten und sich über dessen Wert im System der gültigen literarischen Werte zu äußern (...y27 In Vodičkas Darstellung ist allerdings noch recht undifferenziert von "Gesellschaft", "literarischem Leben" und der "Zeit" des Kritikers die Rede, so daß die Frage aufkommt, ob das deutsche oder französische Literaturpublikum zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt so homogen ist, daß es aufgrund eines einheitlichen Erwartungshorizonts ästhetische Objekte einheitlich konstituiert. Daß dies nicht der Fall ist, zeigt die französische Studie von Joseph Jurt La Réception de la littérature par la critique journali-stique. Lectures de Bernanos (1926-1936) (Paris, 1980), in der deutlich wird, daß die Berufsgruppe der Literaturkritiker als Gruppe von Spezialisten einerseits homogen ist, weil sie in einem besonderen Bereich wirkt, den Pierre Bourdieu als "champ littéraire" ("literarisches Feld")28 bezeichnet, andererseits jedoch ideologisch heterogen ist und daher kein einheitliches ästhetisches Objekt hervorbringen kann. Innerhalb dieser Berufsgruppe unterscheidet Jurt ideologische Gruppierungen, deren Spektrum von der extremen Rechten bis zur extremen Linken reicht. Jurt geht von der These aus, daß das Werk des katholischen Schriftstellers Georges Bernanos (1888-1948) eine radikale Kritik im der spätkapitalistischen Marktgesellschaft enthält, die die 17 F. Vodička, Die Struktur der literarischen Entwicklung, op.cit., S. 64. .'K Siehe: P. Bourdieu, "Les Champs ou l'histoire faite choses", in: A. Accardo, P. Corcuff, La Sociologie de Bourdieu. Textes choisis et commentés, Bordeaux, Le Mascaret, 1986 (2. Aufl.), S. 102-104. Diese Textauswahl vermittelt eine gute Übersicht über Bourdieus Begriffe "champ" und "habitus". 176 177 Kritikergruppe ideologisch spaltet und polarisiert. Seine Studie zeigt u.a., daß dieses Werk von der extremen Rechten, die eine archaische Weltordnung verteidigt, mit Zustimmung aufgenommen wurde, daß es jedoch bei Vertretern des konservativen (Groß-)Bürgertums, die für die Marktgesellschaft eintreten, auf eindeutige Ablehnung stieß. Neben der extremen und der bürgerlichen Rechten unterscheidet Jurt folgende Gruppierungen, die im Umfeld verschiedener Zeitungen und Zeitschriften entstehen: "katholische Presse, Zentrum ('les moderes'), literarisches Zentrum (liberal-humanistische literarische Zeitschriften), Linksradikale, sozialistische Linke, kommunistische Linke."29 Es nimmt nicht wunder, kommentiert Jurt die Ergebnisse seiner Untersuchung, daß gerade die offizielle katholische Presse die Auffassungen des rebellischen katholischen Autors mit Skepsis oder Ablehnung beurteilt. Obwohl sie numerisch sehr stark ist (25 % der Rezensionen), weil sich ihre Kritiker von den "katholischen" Themen des Autors angezogen fühlen, sind ihre Kommentare kaum freundlicher als die der bürgerlichen Rechten: Denn die Vertreter des offiziellen Katholizismus haben sich in die bestehende Ordnung integrieren lassen und müssen daher Bernanos' Plädoyer für freiwillige Armut ablehnen: "(...) Die Vertreter der sozialen, kirchlichen und kulturellen Hierarchie ~ erscheinen in seiner Romanwelt in einem kritischen Licht, wäh renddem die Menschen, die innerhalb der sozialen Hierarchien einen marginalen Platz einnehmen, zu eigentlichen Wertträge werden."30 In diesem Zusammenhang überrascht es kaum, daß Bernanos Werk vor allem von den Rezensenten des liberal-humanistische Zentrums mit Wohlwollen aufgenommen wurde und daß auch di i i i 29 J. Jurt, "Für eine Rezeptionssoziologie", in: Romanisüsche Zeilschrift für Literatur geschichte 1/2, 1979, S. 222. - Jurt hat vor allem in einer späteren Arbeit die Reaktionen der Literaturkritik von der Logik des "literarischen Feldes" her erklärt; J. Jurt, "Tra lettura e scrittura: la critica letteraria come istanza del campo intcllcl tuale", in: C. Bordoni (Hrsg.), Produzione letteraria e cultura di massa, Carrarn, Apuana Editrice, 1988, S. 37-62. Zum Ansatz von Bourdieu siehe auch: J. Jurt, "Die Theorie des literarischen Feldes. Zu den literatursoziologischen Arbeiten Bourdieus und seiner Schule", in: Romanistische Zeitschrift für Literalurgeschichti Nr. 4, 1981, S. 454-479. 30 Ibid., S. 225-226. Kritiker der radikalen, der sozialistischen und der kommunistischen Presse Verständnis für seine ästhetisch-soziale Problematik zeigten. Allerdings muß hinzugefügt werden, daß die drei Gruppen der Linken mit 8,6 % der Rezensionen nur schwach vertreten sind. Jurt führt diese schwache Resonanz in der linken Presse auf ilie politische Tatsache zurück, daß die Kritiker der Linken sich naturgemäß weniger für die Probleme des Katholizismus (der Religion) interessieren. Jurts Rezeptionsstudie bestätigt die kritischen Argumente des ersten Abschnitts: Es ist nicht möglich, dem Publikum einer Gesellschaft einen homogenen Erwartungshorizont zuzurechnen, weil dieses Publikum fragmentiert ist und sowohl in ideologische Gruppen als auch in Berufsgruppen zerfällt: Literaturkritiker rezipieren einen Roman anders als Laien.31 Zu dieser berufsmäßigen Differenzierung gesellt sich die ideologische: Auch die (iruppe der Kritiker (oder Literaturwissenschaftler) hat keinen einheitlichen Erwartungshorizont, sondern ist ideologisch heterogen. Dazu bemerkt Jurt: "Nach ihm (Jauß, P.V.Z) ist der Erwartungs-horizont fast ausschließlich durch literarische Erfahrungen und literarisches Vorwissen (Gattungskonventionen, Stilvorstellungen) bestimmt. Diese Hypothese wurde durch unsere Untersuchung nicht bestätigt (...)."32 Bestätigt wurde hingegen die ideologische Steuerung des ästhetischen Urteils: "Die ästhetischen Kriterien sind im übrigen selten frei von ideologischen Konnotationen; sie dienen oft auch dazu, ein ideologisch motiviertes Vor-Urteil zu untermauern."33 Von großer Bedeutung für eine komparatistische Rezeptions-lorschung ist die vergleichende soziologische Studie Lire la 11 Zur Differenzierung der Öffentlichkeit und des Publikums siehe: N. Luhmann,"Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst", in: H.U. Gumbrecht, KL. Pfeiffer u.a. (Hrsg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S. 639, wo von der "Ausdifferenzierung der Differenz von Profis und Publikum" die Rede ist. 12 J. Jurt, La Reception de la litterature par la critique journalistique. Lectures de Bernanos (1926-1936), Paris, Jean-Michel Place, 1980, S. 314. - Jurt zeigt u.a. auch, daß keineswegs von einem einheitlichen konservativen Erwartungshorizont ausgegangen werden kann, der durch die Innovationen der Texte transzendiert wird. Die Innovation wird von einem Teil der Kritiker durchaus erwartet. ii Ibid. 178 179 lecture (1982), die in Paris an der Ecole des Hautes Etudes an Sciences Sociales zustande kam und die Rezeption eines franzö,il< sehen und eines ungarischen Romans in Frankreich und in Ungimi zum Gegenstand hat. Die beiden Autoren der Studie, Jacqun» Leenhardt und Pierre Jözsa, nahmen sich vor, die französischf^ und die ungarische Rezeption von Georges Perecs Roman Ltt Choses (1965) und Endre Fejes' Rozsdatemetö (1962), (dt, Schrottplatz, 1966) miteinander zu vergleichen. Da sie nur dlf französische Rezeption der beiden Romane nach Berufsgruppen und ideologischen Gruppen gegliedert haben, soll hier vor allem der französische Rezeptionszusammenhang berücksichtigt werden, Anders als Jurt, der Rezensionen und andere Kommentare aul den Jahren 1926-1936 heranziehen konnte, waren Leenhardt und Jözsa auf Leserbefragung angewiesen, da sie es nicht mit Kritikern, sondern mit Laien zu tun hatten. Aber auch ihre Analysen lassen erhebliche Differenzen innerhalb der französischen und der ungarischen Rezeption der Romane erkennen. Die Interpretationen der beiden Texte weichen sowohl aus nationalkulturellen als auch aus beruflichen und ideologischen Gründen voneinander ab: "(».) Unsere Untersuchung hat gezeigt, in welchem Maße verschieden die Lektüren der Romane Perecs und Fejes' in Frankreich und Ungarn waren."34 Perecs und Fejes' Romane eignen sich deshalb für die von Leenhardt und Jözsa durchgeführte Untersuchung, weil sie soziale und politische Probleme der französischen und ungarischen Gesellschaft der 60er Jahre behandeln und die Leser mit ihrem eigenen Alltag konfrontieren. Während Les Choses die Problematik der Konsumgesellschaft schildert und zeigt, wie die beiden jungen Protagonisten Jeröme und Sylvie vergeblich versuchen, 34 J. Leenhardt, "Das 'Lesen-Können' oder: Über die sozio-historischen Modalitäten des Lesens", in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik ("Lesen historisch"), 57/58, 1985, S. 241-242. - Siehe auch: J. Leenhardt, "Reception de ll] littérature et sociologie de la lecture", in: R. Estivals (Hrsg.), Le livre en France. La recherche et l'enseignement, Paris, Retz/SBS, 1984 und: J. Leenhardt, "Lei effets esthétiques de l'ceuvre littéraire: un probléme sociologique", in: M. Poulain (Hrsg.), Pour une sociologie de la lecture. Lectures et lecteurs dans la France contemporaine, Paris, Ed. du Cercle de la Librairie, 1988, S. 70, wo Leenhardt auf die nationalkulturellen Komponenten der Rezeptionsprozesse in Ungarn und Frankreich eingeht. Ilm- Freiheit zu wahren und der Integration in die von Produktion und Konsum beherrschte Ordnung zu entgehen, steht in Fejes' Kliman die heruntergekommene Arbeiterfamilie Häbetler im Mittelpunkt, deren Abkapselung von der Umwelt der ungarischen Niuhkriegsgesellschaft zu inneren Schwierigkeiten führt, die den vom jungen Jänos Häbetler (Jani) verübten Mord zur Folge haben. Die Autoren von Lire la lecture unterscheiden zunächst drei I esemodalitäten, die sich auf die Einstellung der Leser zur litera-i Indien Wertung beziehen: die deskriptiv-phänomenale Lesart, die »Uli auf die faktischen Zusammenhänge konzentriert und auf Wertung verzichtet; die emotionale und identifikatorische Lesart, die von affektiv oder sozial motivierten Werturteilen geprägt ist (Identifikation mit den Protagonisten, Ablehnung der Protagoni-Nlen) und schließlich die intellektive Lesart, die vorwiegend her-meneutischen Charakter hat: Dem Leser kommt es nicht primär darauf an, die Protagonisten zu beurteilen, sondern sie zu ver-Nlchcn und ihr Verhalten zu erklären.35 Diesen drei Lesarten entsprechen insgesamt vier axiologische Systeme, in denen die verschiedenen kollektiven Rezeptionswei-Kt-n untergebracht werden können: System I wird von den Autoren Nclbst als "possibilisme raisonnable" definiert, d.h. als zweck-uilionale (M. Weber) Einstellung, die nicht nach Werten, sondern nach dem Verhältnis von Mittel und Zweck fragt und auch als "pragmatisch" bezeichnet werden könnte. System II gründet auf klar umrissenen metaphysischen und ethischen Wertungen und wird von den Autoren in eine A- und eine B-Variante eingeteilt: Während die erste Variante des Systems durch implizite Wertungen gekennzeichnet wird, die sich auf Kulturwerte wie Freiheit, Gewissen oder Gemeinschaftssinn beziehen, werden in der zweiten Variante eindeutige Werturteile artikuliert, und das Verhalten der Protagonisten wird nach moralischen oder politischen Gesichtspunkten beurteilt. System III schließlich entspricht weitgehend der "intellektiven" Lesemodalität, da es die Werturteile der Systeme 35 Siehe: J. Leenhardt, P. Jözsa, Lire la lecture, Paris. Le Sycomore, 1982, S. 38. -Siehe auch J. Jurts La Reception de la litterature par la critique journalistique, op.cit., S. 312-313, wo die "critique comprehensive" (zu vergleichen mit der "intellektiven Lesart" von Lire la lecture) von einer "critique judicative" unterschieden wird, die präskriptiven (ästhetischen, moralischen) Charakter hat. 181 IIA und IIB durch hermeneutische oder "soziologische" Erklärungen ersetzt. In ihrer Rezeptionsanalyse von Perecs Les Choses haben Leenhardt und Jözsa 121 französische und 145 ungarische Leserinnen und Leser befragt und dabei vor allem die EinstelluiM der Leserschaft zu den Protagonisten des Romans angepeilt: "Wer ist sympathischer, Jeröme oder Sylvie?" - "Waren Jeröme und Sylvie im Leben erfolgreich?" etc. Diese und ähnliche Fragen richten sie an sechs französische Berufsgruppen, die zumeist aucli als ideologische Gruppen aufzufassen sind (eine entsprechende Einteilung des ungarischen Publikums war ihnen leider nichl möglich): 1. die Ingenieure (ingenieurs), 2. die Paraintellektuellen (paraintellectuels), 3. die Angestellten (employes), 4. die Fachleu« te oder technischen Berufe (techniciens), 5. die Arbeiter (ouvriers) und 6. die kleinen Handelsleute (petits commercants). Die Ingenieure beurteilen die Problematik von Les Chosea im Rahmen einer liberal-individualistischen Ideologie, die eine Krise durchmacht; ihre Lesart kann noch am ehesten im System IIA untergebracht werden. Obwohl sie sich darüber klar sind, daß es schwierig oder gar unmöglich ist, individualistische Werte wie Freiheit, Unabhängigkeit oder Autonomie zu verwirklichen, nch« men sie Perecs Protagonisten gegenüber eine ironische Haltung an. Sie werfen ihnen ihre Unentschlossenheit und Passivität vor und verteidigen - oft wider besseres Wissen und gegen die ihnen bekannten Zwänge des Systems - die Werte ihrer individualistischen Ideologie, deren problematischen Charakter sie nicht zugeben. Besonders aufschlußreich sind die Leserreaktionen der Paraintellektuellen, die in vieler Hinsicht Jeröme und Sylvie ähneln, die ihre Universitätsausbildung als Sozialpsychologen nicht abgeschlossen haben. Wie die Protagonisten streben auch die Angehörigen dieser Gruppe nach einer individualistisch definierten Freiheit oder Autonomie, die sie im Rahmen der bestehenden Ordnung nicht verwirklichen können. So ist es zu erklären, daß sie Verständnis für Jeröme und Sylvie zeigen und die Widersprüche, in die sich das junge Paar verstrickt, als tragisch deuten. Im Gegensatz zu den vergeblich revoltierenden Paraintellektuellen lesen die weitgehend intergrierten und abgesicherten Angestellten Perecs Roman kritisch im Sinne des Systems IIA: Sie distanzieren sich von den Protagonisten, denen sie "Unreife" und "infantile Vorstellungen" vorwerfen. Selbst plädieren sie für eine Überwindung solcher Vorstellungen im Erwachsenenalter und iik/.cptieren - wenn auch resignierend - die Eingliederung des Einzelnen in die bestehende soziale Ordnung. Anders als die Angehörigen dieser Gruppe reden die Fachleute (clwa der Werbefachmann) einem "vernünftigen Pragmatismus" (System I) das Wort, vergleichen Mittel und Zweck und werfen l'crec vor, er habe - recht unrealistisch - den materiellen Erfolg von Sylvie und Jeröme herbeigeführt, als er Jerome am Ende des Romans zum Direktor avancieren ließ. Einen solchen Erfolg hatte der Held in ihren Augen - aus rein sachlichen Gründen - nicht verdient. Für die soziologische Analyse besonders interessant sind die Reaktionen der kleinen Handelsleute und Arbeiter, die ideologisch l)/.w. politisch motiviert sind und dem System IIB zugeordnet werden können. Anders als die Fachleute oder Ingenieure, die im Rahmen einer individualistischen Problematik argumentieren, betrachten die Arbeiter den von Perec dargestellten Ereignisablauf uns der Sicht des Kollektivs. Sie werfen den beiden Protagonisten vor, daß sie in einem abstrakten Individualismus verharren, statt Nich mit einer politischen Bewegung zu identifizieren. Dieser Kollektivismus der Arbeiter wird durch ihren Glauben an nützliche Arbeit und an die Familie ergänzt. Beide Werte vermissen sie in der Welt von Jeröme und Sylvie. Diese Werte werden auch von den "petits commercants" (etwa ütdenbesitzern) verteidigt, jedoch mit individualistischen Vorzeichen versehen, d.h. im Rahmen eines individualistischen Sozio-Ickts umgedeutet. Dieser Individualismus erklärt zumindest teilweise, weshalb die Handelsleute einerseits Verständnis für die Wünsche und Träume des jungen Paares zeigen, andererseits jedoch den fehlenden Realismus von Perecs Protagonisten tadeln. Aus ihrer zwiespältigen Einstellung spricht ihre marginale Posi-lion in einer Gesellschaft, deren Konzernwirtschaft dem Kleinhandel immer weniger Spielraum läßt. Insgesamt zeigt sich, daß nur die Paraintellektuellen - ähnlich wie die Protagonisten - ein Jenseits der bestehenden Gesell- 182 183 Schaftsordnung anpeilen. Alle anderen Lesergruppen lassen erkennen, daß sie die bestehende Ordnung akzeptieren und Entwürfe, die über sie hinausgehen, für "unrealistisch" halten. Ihre Einstellung zu einem ungarischen Roman wie Endre Fejes' Schrottplatz (Rozsdatemetö, 1962) wird einerseits von ihren ideologischen und beruflichen Vorstellungen geprägt, andererseits von den Konnotationen, die der Name "Ungarn" in der französischen Gesellschaft und Kultur evoziert. In diesem Kontext ist auch der Unterschied zwischen der ungarischen und der französischen Rezeption von Schrottplatz zu erklären: Während die ungarischen Leser Fejes' wenig schmeichelhafte Darstellung ihrer sozialen Welt ablehnen und ihn mehrheitlich für "unrealistisch" oder "pessimistisch" halten, sehen viele französische Leser ihre Vorstellungen (d.h. Vorurteile) von einem "Balkanstaat" bestätigt: "(...) Fejes' Roman erscheint ihnen als treues Spiegelbild einer 'balkanischen' Welt."36 Hier wird klar, daß bestimmte kulturell, ideologisch und kommerziell vermittelte Stereotypen die Lektüre lenken und die Konstruktion des ästhetischen Objekts beeinflussen. Allerdings wirken sich kulturelle Stereotypen bei der Lektüre des "eigenen", des "einheimischen" Romans nicht so stark aus, weil die Leser mit ihrer eigenen Gesellschaft eher vertraut und folglich nicht auf Kulturklischees angewiesen sind: Sie kennen den Referenten des historischen oder gesellschaftskritischen Romans. Dennoch kann nicht behauptet werden, daß die französischen Leser, die - anders als im Falle von Les Choses - die referentiellen Komponenten von Fejes' Roman ("ungarische Wirklichkeit") aus Unkenntnis verzerrt rezipieren oder nicht wahrnehmen, die Problematik der Erzählung völlig mißverstehen: Anders als die ungarischen Leser denken sie über die von Fejes dargestellte Familienproblematik nach. Von den ungarischen Leserreaktionen heißt es bei Leenhardt und Jözsa: "Da sie mit der ungarischen Gesellschaft weitgehend identisch ist, wird die Familie nicht - wie bei den französischen Lesern - auf soziologischer Ebene objektiviert. In den Argumentationen der Ungarn wird sie nicht reflektiert." ("Dans les argumentations des Hongrois, eile fonetionne 36 Ibid., S. 220. corame un impensé.")37 Als Gesamtergebnis halten die Autoren von Lire la lecture lest, daß der französische Durchschnittsleser eher dazu neigt, Problematik und Handlung der beiden Romane global zu objektivieren und zu reflektieren, d.h. im Rahmen der Systeme I oder III zu lesen, während die Mehrheit der ungarischen Leser sich auf einzelne Szenen konzentriert ("dramatisation systématique des scenes"), diese mit Pathos rezipiert und insgesamt eher im Rahmen der Systeme IIA und IIB reagiert. So ist es auch zu erklären, daß die französischen Leser im Gegensatz zu den ungarischen nicht den individuellen Helden (etwa Jánoš Hábetlers Sohn Jani) in den Mittelpunkt ihrer Kommentare stellen, sondern die sozialen Verhältnisse und Organisationen. Es geht hier nicht darum, alle Einzelheiten dieser umfangreichen und sehr fruchtbaren Untersuchung wiederzugeben, sondern zu zeigen, daß eine Rezeptionsästhetik, die ihren Objektbereich 8Uf die Beziehungen zwischen einzelnen Autoren und ihren Werken einengt, in Wirklichkeit keine Theorie des Lesers oder des Publikums ist, sondern bestenfalls eine Theorie des Einflusses. Denn die wesentliche Frage nach der Einwirkung sozialer Faktoren (Familie, Ideologie, Erziehungssystem) auf die Rezeption bleibt unbeantwortet. Wie diese Faktoren im einzelnen wirken, zeigt Leenhardts und lózsas gruppenspezifische Analyse der Rezeption von Fejes' Rozsdatemetö in Frankreich. Während die Gruppen der Ingenieure, der Paraintellektuellen, der Angestellten und der Fachleute den Roman auf verschiedene Aspekte einer individualistischen Ideologie beziehen, heben die Arbeiter - wie schon in ihrer Rezeption von Les Choses - die Bedeutung des Familienkollektivs hervor. Die Leserreaktionen der Ingenieure sind insofern für die französische Rezeption des ungarischen Romans charakteristisch, Iis sie von einer distanzierten Haltung zeugen, die den Systemen I und III entspricht. Dennoch können sie - wie die Autoren von Lire la lecture bemerken - nicht mit den Reaktionen des gesam-len französischen Publikums identifiziert werden, weil die Ingenieure als einzige Lesergruppe die Probleme und das Elend der 17 Ibid., S. 224. 184 185 38 Ibid., S. 259. 39 Ibid., S. 264. 40 Ibid., S. 269. Familie Häbetler mit den Problemen der Arbeiterklasse identifizlfl ren, die sie selbst nicht betreffen. Die Familie Häbetler ist in ihn«n Augen ein geschlossener und repressiver "clan", der ihrem cigOt nen Individualismus diametral entgegengesetzt ist. Wesentlich positiver wird die ungarische Familie von den Paraintellektuellen eingestuft, weil sie ihnen trotz ihrer individualistischen Aspirationen (die auch in ihrer Rezeption von Ltt Choses zum Ausdruck kamen) als eine Garantie für Geborgcnhcll und Glück erscheint. In einer ähnlichen Perspektive wird die Roll! der Familie von den Angestellten aufgewertet, die einerseits dtf Privatsphäre privilegieren, andererseits die individuelle Verantwof> tung für das Familienglück hervorheben und den Eltern Habel lof vorwerfen, daß sie sich nicht ausreichend um die Erziehung ihrer Kinder gekümmert haben. Insgesamt handelt es sich um ein» individualistische Lektüre, die vom Begriff der individuellen "Verantwortung" beherrscht wird. In Lire la lecture ist vom "caractere individualiste de la lecture des employes" die Rede.* Dieser Individualismus wird von den Fachleuten (technicieim) insofern in Frage gestellt, als ihre Gruppe vom Gegensatz zwli sehen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Notwendigkell gespalten wird: Während die einen behaupten, daß die Häbcllei» für ihre Misere verantwortlich gemacht werden können, stellen die anderen sie als Opfer eines sozialen Determinismus dar und sprechen sie von jeglicher Schuld frei. Das Dilemma der "technl" ciens" fassen Leenhardt und Jozsa zusammen, wenn sie bemerkcni "Es ist klar, daß die Fachleute das Gewicht des Systems zu spüren bekommen, aber sie geben die Idee der Verantwortung niclil auf."39 Im Gegensatz zu den bürgerlichen Gruppen sind die Arbeiter weniger um die individuelle Freiheit oder Verantwortung als um Wohlergehen und Ehre des Familienkollcktivs besorgt: "Da (Iii Familie in ihren Augen eine wichtige Funktion erfüllt, wird dl| Familie Häbetler von den Arbeitern immer wieder verurteilt. Der junge Jani Häbetler erscheint ihnen als positiver Held, well • i durch Mord oder Totschlag die Ehre seiner Familie rettet. - Im I le^ensatz zu den Angehörigen dieser Gruppe, deren Reaktionen llndcutig wertenden Charakter haben und den Systemen IIA/B Hl|(eordnet werden können, begnügen sich die französischen "|ielils commergants" mit vagen und recht stereotypen Kommentaren, ilie erkennen lassen, daß sie sich von der Problematik des linprischen Romans kaum angesprochen fühlen: nicht so sehr, weil sie Franzosen sind, sondern weil der von Fejes geschilderte Kampf ums Überleben die moralischen Maßstäbe, die die kleinen ii inclelsleute anlegen möchten, auszuschließen scheint. Sowohl Jurts als auch Leenhardts und Józsas Untersuchungen i Inen, daß es unmöglich ist, einer Gesellschaft zu einem be-«limmten historischen Zeitpunkt einen einheitlichen Erwartungs-hniizont zuzurechnen; sie zeigen auch, daß Mukafovský und Vodička unzulässig verallgemeinern, wenn sie vom ästhetischen t lh|ekl einer Periode oder Epoche sprechen. Denn in jeder Phase •l' i historischen Entwicklung koexistieren verschiedene ästhetische Uhjekte oder Objektkonslruklionen (s. Kap. II), von denen eine |idc berufsspezifischen und ideologischen Charakter hat. Sie ist mllerdem kulturell überdeterminiert, wobei kulturelle Stereotypen d iwa die Ungarn-Bilder der Franzosen), mit denen sich ausführ-lleh ilie von Hugo Dyserinck entwickelte Imagologie ("Image-liM.ihung") befaßt41, eine entscheidende Rolle spielen. Die kulturellen Determinanten treten am klarsten in wenig illlltienzierten oder archaischen Gesellschaften zutage, in denen M \ ilu-n mit der Kultur weitgehend identisch sind und als seman-llneh-narrative Strukturen und Aktantenmodelle die Wahrnehmung Meilern. Diesen Vorgang stellt besonders anschaulich Ottmar Ette m i iiier Studie über die Funktion von Mythen in der Alten und ■I' i Neuen Welt dar. So deuten etwa Kolumbus und seine Beglei-||l die amerikanische Wirklichkeit im Rahmen der mythischen l'i.kiuse Europas: "Erfahrung wird nur auf der Grundlage des i n Ii senen ausgewertet. Dazu nicht Passendes wird ebenso ausge-liledcn wie Mehrdeutiges: die Fraueninsel ist der Ort der Ama-I uhm, die Seekühe sind Sirenen, die Eingeborenen sind Bewohner H Siehe: II. Dyserinck, Komparatistik. Eine Einführung, Bonn, Bouvier, 1977, Kap. i i: "Komparatistische Imagologie". 186 187 Indiens, der Orinoco ist einer der Flüsse des Irdischen Paradioifll usw."42 Umgekehrt lassen die Mythen der Azteken "Corte» || den Augen Moctezumas als Abgesandten oder als VerkörperflJ des Gottes und Kulturheroen Quetzalcoatl erscheinen, der selnf Rückkehr und die Übernahme seiner rechtmäßigen Herrschiill angekündigt hatte."43 Hier wird klar, daß Kultur, Mythos odlf Ideologie die Individuen zu Subjekten machen und sowohl 1hfl Wahrnehmung als auch ihr Handeln bestimmen. 3. Die Hesse-Rezeption in Deutschland und den USA Auch ein Vergleich zwischen der Rezeption von Hermann Hcsnw (1877-1962) Werk in Deutschland und den Vereinigten Staalon sollte dreidimensional im Sinne des vorigen Abschnitts sein: Ilf sollte den nationalkulturellen, gruppenspezifischen und ideologischen Komponenten Rechnung tragen. Es versteht sich von selbst, daß im letzten Teil dieses Kapitels keine mit Lire la lecturt vergleichbaren empirischen Untersuchungen durchgeführt werden können. Es geht darum, die verschiedenen Schichten der Objckl-konstruktion (des ästhetischen Objekts) bloßzulegen; dabei sollen nicht nur die sozialen Zusammenhänge berücksichtigt werden, sondern auch die diskursiven Verfahren (Selektionen, Klassifikationen, narrative Abläufe), die unmittelbar dafür verantwortlich sind, daß Hesses Werk in den USA ganz anders wahrgenommen und konstruiert wird als in Deutschland. Es wird hier von Hesses Werk in seiner Gesamtheit die Redo sein, und die Interpretationen oder Objektkonstruktionen einzelner Texte sollen die verschiedenen Phasen der Hesse-Rezeption illustrieren. Diese greifen zwar ineinander, weil Themen wie Romantik, Revolte und Außenseitertum immer wieder zur Sprache kommen, sie unterscheiden sich jedoch erheblich voneinander durch verschiedene semantische Selektionen und Schwerpunktbildungen, 42 O. Ette, "Funktionen von Mythen und Legenden in Texten des 16. und 17. Jahrhunderts über die Neue Welt", in: K. Kohut u.a. (Hrsg.), Der eroberte Kontinent. Historische Realität, Rechtfertigung und literarische Darstellung der Kolonisation Amerikas, Frankfurt, Vervuert, 1991, S. 165-166. 43 Ibid., S. 6. Dadurch kommt es zu Objektkonstruktionen, die sich zwar iihci-ii hneiden, zugleich jedoch in wesentlichen Punkten voncinanilci ■Weichen. Die Abweichungen haben sowohl kulturellen als auch grup l" n.pczifischen Charakter. Obwohl im folgenden nicht Qböl I iii|»irische Untersuchungen im strengen Sinne berichtet wird, soll lim Ii gezeigt werden, wie ästhetische Objekte (Mukarovsky) als i >\>icklkonstruktionen auf kollektive Interessen zurückzuführen Ifid, die die Rezeptions- und Interpretationsprozesse lenken. Auf diese Prozesse wirken auch literarische Vermittler ein, ihr Ihrem Publikum eine fremde Literatur oder einen fremden Aulni luganglich machen. Eine Vermittlerrolle in diesem Sinne fiel, wie ilcihard R. Kaiser gezeigt hat, Madame de Stael (Baronnr ilr Macl-Holstcin) zu, die in ihrem bekannten Buch De l'Allcniagiu (IKIO) das Interesse des französischen literarischen Publikum.'. Im I Vutschland weckte: "Sosehr Mme de Stael sich auch der besten i irwährsmänner, vorab A.W. Schlegels, versichert hatte, soschi InI Dt l'Allemagne doch ein Werk, das nicht nur deutsche I .ilciiiliii mich Frankreich vermittelt, sondern aus französischer Perspektive auswählt."44 Dieses von Kaiser ganz zu Recht angeschiuiu m liermeneutische Problem wird auch in der Hesse-Rezeption beury, Ben. Sie setzt in Deutschland um 1904 mit dem Erscheinen von Veter Camenzind ein, einem kulturkritischen und rehell im Inn Roman, der den Leser mahnt, sich vom oberflächlichen Ktilim treiben abzuwenden und wieder auf den "Herzschlag der l'.nle" zu hören. Dieser rousseauistisch-romantische Aufruf verhallt nn hl ungehört: "Das Buch, dem der Autor nicht nur seine nn iclllll sehen Vorbildern geschulte Sprachmusik verliehen hat, londl rn auch Ironie und Selbstdistanz, traf auf die Szenerie dei lugl l)d hewegung, die sich seit der Jahrhundertwende gegen dlfl llK naturfremd empfundene Wilhelminische Deutschland waiulli Vi in Zeitgenossen wie Oskar Loerke, Bertolt Brecht und Wnliei Uu Ihenau begrüßt, wird es mit dreißig Auflagen innerhalb i\\..... Jahre zum 'Bestseller' in der Zeit des 'Wandervogels', ohne ilnh GR. Kaiser, Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft Poflw/WHJ stand - Kritik - Aufgaben, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 19H0, H IW 188