Hermann Broch Hofmannsthal und seine Zeit (1947/48) Das Leben ein Symbol – die Entscheidung zum Stil Kein Zweifel, Hofmannsthal wusste von allem Anfang an, dass er sich letztlich an das Vakuum selber assimilierte. Aber er konnte nicht anders. Die Einheit von Person und Werk, die bei George zur Attitüde ausgeartet war, ging bei ihm viel tiefer, war bei ihm Einheit von Ich und Werk, und demzufolge musste seine Person zum Symbol beider werden, musste er sich und sein Leben selber als Symbol nehmen, als Symbol eines Schicksals. Sein Schicksal durfte er nicht antasten, er durfte es nur ins Letzt-Sinnvolle übersteigern – ein Über-das-Schicksal-Hinauswachsen war sein letzter Sinn -, und weil es letztvoller Sinn war, gelang es(...) Allzugenau war es ihm sichtbar, dass er allüberall auf verlorenem Posten stand: aussichtslos war der Weiterbestand der österreichischen Monarchie; die er geliebt hatte und nie zu lieben aufhörte; aussichtslos war die Hineigung zu einem Adel, der nur noch ein karikaturhaftes Scheindasein führte; aussichtslos war die Einordnung in den Stil eines Theaters, dessen Grösse nur mehr auf den Schultern einiger überlebender Schauspieler ruhte; aussichtslos war es, all das, diese schwindende Erbschaft aus der Fülle es maria-theresianischen 18. Jhr., nun im Wege einer barock-gefärbten grossen Oper zur Wiedergeburt bringen zu wollen. Seine Leben war Symbol, edles Symbol eines verschwindenden Österreichs, eines verschwindenden Adels, eines verschwindenden Theaters -, Symbol im Vakuum, doch nicht des Vakuums. Allein, ungeachtet des Vakuums, ungeachtet des Zusammenbruchs des alten Wertesystems, das Stück um Stück sich auflöste und vom Vakuum verschlungen wurde, ungeachtet des tragischen Experimentierens mit einem ganzen, freilich viel zu kurzem Leben, ungeachtet seiner Vakuum-Bekämpfung und Vakuum-Bedingtheit, beides in steter Assimilationsbemühung, es ist die Selbstbehauptung eines wahren Schicksals geblieben, Hofmannsthals Dasein, sein hoher Stil und seine hohe Kunst. Hugo von Hofmannsthal Das Märchen der 672. Nacht (1895) Ein junger Kaufmannssohn, der sehr schön war und weder Vater noch Mutter hatte, wurde bald nach seinem fünfundzwanzigsten Jahre der Geselligkeit und des gastlichen Lebens überdrüssig. Er versperrte die meisten Zimmer seines Hauses und entließ alle seine Diener und Dienerinnen, bis auf vier, deren Anhänglichkeit und ganzes Wesen ihm lieb war. Da ihm an seinen Freunden nichts gelegen war und auch die Schönheit keiner einzigen Frau ihn so gefangen nahm, daß er es sich als wünschenswert oder nur als erträglich vorgestellt hätte, sie immer um sich zu haben, lebte er sich immer mehr in ein ziemlich einsames Leben hinein, welches anscheinend seiner Gemütsart am meisten entsprach. Er war aber keineswegs menschenscheu, vielmehr ging er gerne in den Straßen oder öffentlichen Gärten spazieren und betrachtete die Gesichter der Menschen. Auch vernachlässigte er weder die Pflege seines Körpers und seiner schönen Hände noch den Schmuck seiner Wohnung. Ja, die Schönheit der Teppiche und Gewebe und Seiden, der geschnitzten und getäfelten Wände, der Leuchter und Becken aus Metall, der gläsernen und irdenen Gefäße wurde ihm so bedeutungsvoll, wie er es nie geahnt hatte. Allmählich wurde er sehend dafür, wie alle Formen und Farben der Welt in seinen Geräten lebten. Er erkannte in den Ornamenten, die sich verschlingen, ein verzaubertes Bild der verschlungenen Wunder der Welt. Er fand die Formen der Tiere und die Formen der Blumen und das Übergehen der Blumen in die Tiere; die Delphine, die Löwen und die Tulpen, die Perlen und den Akanthus; er fand den Streit zwischen der Last der Säule und dem Widerstand des festen Grundes und das Streben alles Wassers nach aufwärts und wiederum nach abwärts; er fand die Seligkeit der Bewegung und die Erhabenheit der Ruhe, das Tanzen und das Totsein; er fand die Farben der Blumen und Blätter, die Farben der Felle wilder Tiere und der Gesichter der Völker, die Farbe der Edelsteine, die Farbe des stürmischen und des ruhig leuchtenden Meeres; ja, er fand den Mond und die Sterne, die mystische Kugel, die mystischen Ringe und an ihnen festgewachsen die Flügel der Seraphim. Er war für lange Zeit trunken von dieser großen, tiefsinnigen Schönheit, die ihm gehörte, und alle seine Tage bewegten sich schöner und minder leer unter diesen Geräten, die nichts Totes und Niedriges mehr waren, sondern ein großes Erbe, das göttliche Werk aller Geschlechter. Doch er fühlte ebenso die Nichtigkeit aller dieser Dinge wie ihre Schönheit; nie verließ ihn auf lange der Gedanke an den Tod und oft befiel er ihn unter lachenden und lärmenden Menschen, oft in der Nacht, oft beim Essen. Aber da keine Krankheit in ihm war, so war der Gedanke nicht grauenhaft, eher hatte er etwas Feierliches und Prunkendes und kam gerade am stärksten, wenn er sich am Denken schöner Gedanken oder an der Schönheit seiner Jugend und Einsamkeit berauschte. Denn oft schöpfte der Kaufmannssohn einen großen Stolz aus dem Spiegel, aus den Versen der Dichter, aus seinem Reichtum und seiner Klugheit, und die finsteren Sprichwörter drückten nicht auf seine Seele. Er sagte: »Wo du sterben sollst, dahin tragen dich deine Füße«, und sah sich schön, wie ein auf der Jagd verirrter König, in einem unbekannten Wald unter seltsamen Bäumen einem fremden wunderbaren Geschick entgegengehen. Er sagte: »Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod« und sah jenen langsam heraufkommen über die von geflügelten Löwen getragene Brücke des Palastes, des fertigen Hauses, angefüllt mit der wundervollen Beute des Lebens. Er wähnte, völlig einsam zu leben, aber seine vier Diener umkreisten ihn wie Hunde und obwohl er wenig zu ihnen redete, fühlte er doch irgendwie, daß sie unausgesetzt daran dachten, ihm gut zu dienen. Auch fing er an, hie und da über sie nachzudenken. xxx In dem Augenblicke wandte das Pferd den Kopf und sah ihn an mit tückisch zurückgelegten Ohren und rollenden Augen, die noch boshafter und wilder aussahen, weil eine Blesse gerade in der Höhe der Augen quer über den häßlichen Kopf lief. Bei dem häßlichen Anblicke fiel ihm blitzartig ein längst vergessenes Menschengesicht ein. Wenn er sich noch so sehr bemüht hätte, wäre er nicht imstande gewesen, sich die Züge dieses Menschen je wieder hervorzurufen; jetzt aber waren sie da. Die Erinnerung aber, die mit dem Gesicht kam, war nicht so deutlich. Er wußte nur, daß es aus der Zeit von seinem zwölften Jahre war, aus einer Zeit, mit deren Erinnerung der Geruch von süßen, warmen, geschälten Mandeln irgendwie verknüpft war. Und er wußte, daß es das verzerrte Gesicht eines häßlichen armen Menschen war, den er ein einzigesmal im Laden seines Vaters gesehen hatte. Und daß das Gesicht von Angst verzerrt war, weil die Leute ihn bedrohten, weil er ein großes Goldstück hatte, und nicht sagen wollte, wo er es erlangt hatte. Während das Gesicht schon wieder zerging, suchte sein Finger noch immer in den Falten seiner Kleider, und als ein plötzlicher, undeutlicher Gedanke ihn hemmte, zog er die Hand unschlüssig heraus und warf dabei den in Seidenpapier eingewickelten Schmuck mit dem Beryll dem Pferd unter die Füße. Er bückte sich, das Pferd schlug ihm den Huf mit aller Kraft nach seitwärts in die Lenden und er fiel auf den Rücken. Er stöhnte laut, seine Kniee zogen sich in die Höhe und mit den Fersen schlug er immerfort auf den Boden. Ein paar von den Soldaten standen auf und hoben ihn an den Schultern und unter den Kniekehlen. Er spürte den Geruch ihrer Kleider, denselben dumpfen, trostlosen, der früher aus dem Zimmer auf die Straße gekommen war, und wollte sich besinnen, wo er den vor langer, sehr langer Zeit schon eingeatmet hatte: dabei vergingen ihm die Sinne. Sie trugen ihn fort über eine niedrige Treppe, durch einen langen, halbfinsteren Gang in eines ihrer Zimmer und legten ihn auf ein niedriges eisernes Bett. Dann durchsuchten sie seine Kleider, nahmen ihm das Kettchen und die sieben Goldstücke und endlich gingen sie, aus Mitleid mit seinem unaufhörlichen Stöhnen, einen ihrer Wundärzte zu holen. Nach einer Zeit schlug er die Augen auf und wurde sich seiner quälenden Schmerzen bewußt. Noch mehr aber erschreckte und ängstigte ihn, allein zu sein in diesem trostlosen Raum. Mühsam drehte er die Augen in den schmerzenden Höhlen gegen die Wand und gewahrte auf einem Brette drei Laibe von solchem Brot, wie die es über den Hof getragen hatten. Sonst war nichts in dem Zimmer, als harte, niedrige Betten und der Geruch von trockenem Schilf, womit die Betten gefüllt waren, und jener andere trostlose, dumpfe Geruch. Eine Weile beschäftigten ihn nur seine Schmerzen und die erstickende Todesangst, mit der verglichen die Schmerzen eine Erleichterung waren. Dann konnte er die Todesangst für einen Augenblick vergessen und daran denken, wie alles gekommen war. Da empfand er eine andere Angst, eine stechende, minder erdrückende, eine Angst, die er nicht zum ersten Male fühlte; jetzt aber fühlte er sie wie etwas Überwundenes. Und er ballte die Fäuste und verfluchte seine Diener, die ihn in den Tod getrieben hatten; der eine in die Stadt, die Alte in den Juwelierladen, das Mädchen in das Hinterzimmer und das Kind durch sein tückisches Ebenbild in das Glashaus, von wo er sich dann über grauenhafte Stiegen und Brücken bis unter den Huf des Pferdes taumeln sah. Dann fiel er zurück in große, dumpfe Angst. Dann wimmerte er wie ein Kind, nicht vor Schmerz, sondern vor Leid, und die Zähne schlugen ihm zusammen. Mit einer großen Bitterkeit starrte er in sein Leben zurück und verleugnete alles, was ihm lieb gewesen war. Er haßte seinen vorzeitigen Tod so sehr, daß er sein Leben haßte, weil es ihn dahin geführt hatte. Diese innere Wildheit verbrauchte seine letzte Kraft. Ihn schwindelte, und für eine Weile schlief er wieder einen taumeligen schlechten Schlaf. Dann erwachte er und wollte schreien, weil er noch immer allein war, aber die Stimme versagte ihm. Zuletzt erbrach er Galle, dann Blut, und starb mit verzerrten Zügen, die Lippen so verrissen, daß Zähne und Zahnfleisch entblößt waren und ihm einen fremden, bösen Ausdruck gaben. Ein Brief (Brief des Lord Chandos an Francis Bacon) (1901) Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, »Seele« oder »Körper« nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urtheil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. Es begegnete mir, daß ich meiner vierjährigen Tochter Catarina Pompilia eine kindische Lüge, deren sie sich schuldig gemacht hatte, verweisen und sie auf die Notwendigkeit, immer wahr zu sein, hinführen wollte, und dabei die mir im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander überflossen, daß ich, den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd, so wie wenn mir unwohl geworden wäre und auch tatsächlich bleich im Gesicht und mit einem heftigen Druck auf der Stirn, das Kind allein ließ, die Tür hinter mir zuschlug und mich erst zu Pferde, auf der einsamen Hutweide einen guten Galopp nehmend, wieder einigermaßen herstellte. Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost. Es wurden mir auch im familiären und hausbackenen Gespräch alle die Urtheile, die leichthin und mit schlafwandelnder Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so bedenklich, daß ich aufhören mußte, an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen. Mit einem unerklärlichen Zorn, den ich nur mit Mühe notdürftig verbarg, erfüllte es mich, dergleichen zu hören wie: diese Sache ist für den oder jenen gut oder schlecht ausgegangen; Sheriff N. ist ein böser, Prediger T. ein guter Mensch; Pächter M. ist zu bedauern, seine Söhne sind Verschwender; ein anderer ist zu beneiden, weil seine Töchter haushälterisch sind; eine Familie kommt in die Höhe, eine andere ist am Hinabsinken. Dies alles erschien mir so unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich. Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Brachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt. Ich machte einen Versuch, mich aus diesem Zustand in die geistige Welt der Alten hinüberzuretten. Platon vermied ich, denn mir graute vor der Gefährlichkeit seines bildlichen Fluges. Am meisten gedachte ich mich an Seneca und Cicero zu halten. An dieser Harmonie begrenzter und geordneter Begriffe hoffte ich zu gesunden. Aber ich konnte nicht zu ihnen hinüber. Diese Begriffe, ich verstand sie wohl: ich sah ihr wundervolles Verhältnisspiel vor mir aufsteigen wie herrliche Wasserkünste, die mit goldenen Bällen spielen. Ich konnte sie umschweben und sehen wie sie zueinander spielten; aber sie hatten es nur miteinander zu tun und das Tiefste, das persönliche meines Denkens blieb von ihrem Reigen ausgeschlossen. Es überkam mich unter ihnen das Gefühl furchtbarer Einsamkeit; mir war zumuth wie einem, der in einem Garten mit lauter augenlosen Statuen eingesperrt wäre; ich flüchtete wieder ins Freie. Elektra (1903) Elektra Allein! Weh, ganz allein. Der Vater fort, hinabgescheucht in seine kalten Klüfte... Gegen den Boden Agamemnon! Agamemnon! Wo bist du, Vater? hast du nicht die Kraft, dein Angesicht herauf zu mir zu schleppen? Leise Es ist die Stunde, unsre Stunde ists, die Stunde, wo sie dich geschlachtet haben, dein Weib und der mit ihr in einem Bette, in deinem königlichen Bette schläft. Sie schlugen dich im Bade tot, dein Blut rann über deine Augen, und das Bad dampfte von deinem Blut. Dann nahm er dich, der Feige, bei den Schultern, zerrte dich hinaus aus dem Gemach, den Kopf voraus, die Beine schleifend hinterher: dein Auge, das starre, offne, sah herein ins Haus. So kommst du wieder, setzest Fuß vor Fuß und stehst auf einmal da, die beiden Augen weit offen, und ein königlicher Reif von Purpur ist um deine Stirn, der speist sich aus des Hauptes offner Wunde. Agamemnon! Vater! Ich will dich sehn, laß mich heute nicht allein! Nur so wie gestern, wie ein Schatten dort im Mauerwinkel zeig dich deinem Kind! Vater! Agamemnon! dein Tag wird kommen! Von den Sternen stürzt alle Zeit herab, so wird das Blut aus hundert Kehlen stürzen auf dein Grab! So wie aus umgeworfnen Krügen wird's aus den gebundnen Mördern fließen, und in einem Schwall, in einem geschwollnen Bach wird ihres Lebens Leben aus ihnen stürzen Mit feierlichem Pathos und wir schlachten dir die Rosse, die im Hause sind, wir treiben sie vor dem Grab zusammen, und sie ahnen den Tod und wiehern in die Todesluft und sterben. Und wir schlachten dir die Hunde, die dir die Füße leckten, die mit dir gejagt, denen du die Bissen hinwarfst, darum muß ihr Blut hinab, um dir zu Dienst zu sein, und wir, wir, dein Blut, dein Sohn Orest und deine Töchter, wir drei, wenn alles dies vollbracht und Purpurgezelte aufgerichtet sind, vom Dunst des Blutes, den die Sonne nach sich zieht, dann tanzen wir, dein Blut, rings um dein Grab: In begeistertem Pathos und über Leichen hin werd' ich das Knie hochheben Schritt für Schritt, und die mich werden so tanzen sehn, ja, die meinen Schatten von weitem nur so werden tanzen sehn, die werden sagen: einem großen König wird hier ein großes Prunkfest angestellt von seinem Fleisch und Blut, und glücklich ist, wer Kinder hat, die um sein hohes Grab so königliche Siegestänze tanzen! Agamemnon! Agamemnon! Der Rosenkavalier (1910) Octavian Spür' nur dich, spür' nur dich allein und daß wir beieinander sein! Geht all's sonst wie ein Traum dahin vor meinem Sinn! Sophie Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein, daß wir zwei beieinander sein, beieinand für alle Zeit und Ewigkeit! Sie sinkt an ihn hin, er küßt sie schnell. Ihr fällt, ohne daß sie es merkt, ihr Taschentuch aus der Hand. Dann laufen sie Hand in Hand hinaus. Die Bühne bleibt leer, dann geht nochmals die Mitteltür auf. Herein kommt der kleine Neger mit einer Kerze in der Hand. Sucht das Taschentuch, findet es, hebt es auf, trippelt hinaus. Vorhang Stefan Zweig Die Welt von Gestern (1942) Eros matutinus Aber diese weise Moral vergass völlig, dass wenn man dem Teufel die Tür versperrt, er sich meist durch den Rauchfang oder eine Hintertür Einlass erzwingt. Was unserem unbefangeneren Blick heutigen Tages an diesen Trachten auffällt, die verzweifelt jede Spur nackter Haut und ehrlichen Wuchses verdecken wollten, ist keineswegs ihre Sittlichkeit, sondern, im Gegenteil, wie bis zur Peinlichkeit provokatorisch jene Mode die Polarität der Geschlechter herausarbeitete. Während der junge Mann und die junge Frau unserer Zeit, beide hochgewachsen und schlank, beide bartlos und kurzen Haars, schon in ihrer äusseren Erscheinung sich kameradschaftlich einander anpassen, distanzierten sich in jener Epoche die Geschlechter, sosehr sie es nur vermochten. Die Männer trugen lange Bärte zur Schau oder zwirbelten zum mindesten einen mächtigen Schnurrbart als weithin erkennbares Attribut ihre Männlichkeit empor, während bei der Frau das Korsett das wesentlich weibliche Geschlechtsmerkmal des Busens ostentativ sichtbar machte. Überbetont was das sogenannte starke Geschlecht gegenüber dem schwachen Geschlecht auch in der Haltung, die man von ihm verlangte, der Mann forsch, ritterlich und agressiv, die Frau scheu, schüchtern und defensiv, Jäger und Beute statt gleich und gleich. Durch diese unnatürliche Auseinanderspannung im äusseren Habitus musste auch die innere Spannung zwischen den Polen, die Erotik, sich verstärken, und so erreichte dank ihrer unpsychologischen Methode des Verhüllens und Verschweigens die Gesellschaft von damals genau das Gegenteil. Denn da sie in ihrer unablässigen Angst und Prüderie dem Unsittlichen in allen Formen des Lebens, Literatur, Kunst, Kleidung, ständig nachspürte, um jede Anreizung zu verhüten, war sie eigentlich gezwungen, unablässig an das Unsittliche zu denken. Da sie ununterbrochen forschte, was unpassend sein könnte, befand sie sich in einem unablässigen Zustand des Aufpassens; immer schien der damaligen Welt der „Anstand“ in tödlicher Gefahr: bei jeder Geste, bei jedem Wort. Vielleicht wird man heute noch verstehen, dass es in jener Zeit als Verbrechen gegolten, wenn eine Frau bei Sport oder Spiel eine Hose angelegt hätte. Aber wie die hysterische Prüderie begreiflich machen, dass eine Dame das Wort „Hose“ damals überhaupt nicht über die Lippen bringen durfte? Karl Kraus Sittlichkeit und Kriminalität Sittlichkeit und Kriminalität (1901) Sittlichkeit und Kriminalität: Die grosse Gelegenheit, ihre Unverträglichkeit zu zeigen, ist der Ehebruchsprozess. Der Typus der Frau, die zwar zu schön ist, um treu, aber auch zu gesetzeskundig, um untreu zu sein, lebt nur in einer einfältigen Doktrin. Deutsche Philosophen, die in den idealsten Höhen der Sittlichkeit gedacht haben, sind für die Ausscheidung des Ehebruchs aus dem Strafrecht und dafür eingetreten, dass der Frau die Scheidung erleichtert werde. Denn die Heiligkeit der Ehe würde, sobald sie aufhörte „Rechtsgut“ zu sein, beträchtlich gemehrt werden. Sie wäre nicht mehr von jener unseligen Heuchelei beleidigt, und der Menschen fortleben, die längst erkannt haben, dass sie, als sie „in die Ehe traten“, keinen andern „Fehltritt“ mehr begegnen konnten – man müsste denn das Heraustreten aus allen Dingen, in die einer auf der Lebensstrasse treten kann, als Fehltritt bezeichnen... Aber dies ist vom Standpunkt vergangener und hoffentlich kommender Zeiten gesprochen, nicht aus dem Herzen der Gegenwart. Sie ist beruhigt, ihre Ideale in gesetzlicher Hut zu wissen, und braucht sie darum nicht zu befolgen. Sie sehnt sich nicht nach Reformen. Eine Gesittung, die der zwischen Arbeitstier und Lustobjekt gestellten Frau gleissnerisch den Vorrang des Grusses lässt, die Geldheirat erstrebenswert und die Geldbegattung verächtlich findet, die Frau zur Dirne macht und die Dirne beschimpft, die Geliebte geringer wertet als die Ungeliebte, muss sich wahrlich eines Strafgesetzes nicht schämen, das dem Verkehr der Geschlechter ein „unerlaubtes Verständnis“ nennt. Die Sitte ist geschützt. Und die Sittlichkeit könnte arg überhandnehmen, wenn es nicht Verbote gegen die Unsittlichkeit gäbe. Literatur und Lüge Aus der Branche – Herr v. Hofmannsthal (1911) Herr v. Hofmannsthal der vom Rausch bei goldenen Bechern, in denen kein Wein ist, längst ernüchtert dahinlebt, macht sich nichts mehr daraus, dass man ihm daraufgekommen ist, wie er hinter dem Rücken der Unsterblichkeit mit dem Tag und dem Theater gepackelt hat. Nur die Schwäche ist ihm geblieben, feierlich zu begründen, was klug ersonnen war. Wenn man ein ganzes Goetheleben – Italienreise, Verpflegung mit inbegriffen – in relativ kurzer Zeit durchgemacht hat, so ist es nicht unbegreiflich, dass etwas im Ton zurückbleibt, was der Verteidigung nüchterner Theaterpläne zugutekommt. Man denkt dann nicht geradezu ans Repertoire und an Herrn Reinhardt, sondern spricht vom „Repertorium der deutschen Bühne“, das auch andere, etwa Tieck und Immermann, „in einem weltbürgerlichen Sinne ausbauten“. Sie seien sich bewusst gewesen, für das Theater und nicht für die Literaturgeschichte zu arbeiten. Der sich aber auf jene beruft, arbeitet selbst bei dieser Gelegenheit für die Literaturgeschichte. Er glaubt ihr näher zu sein, wenn er so gestikuliert wie die, die zu ihr gehören. (...) Die grosse Menge hatte doch schon bei der Geburt des Herrn v. Hofmannsthal gehofft, dass er einmal in den Schlafrock des alten Goethe hineinwachsen werde. Jetzt sollte er einmal ernstlich dazu schauen. Die Allüren sind da, die Beschäftigung mit dem Theater gleichfalls, gelegentliche Feuilletons zum Lobe schmieriger Kompilatoren können als Gelegenheitsdichtungen aufgefasst werden – kurz, es ist alles da: nur der dritte Teil des Faust bleibt unvollendet. Warnung vor der Unsterblichkeit (1913) Es ist dem Genius eigentümlich, dass man ihn spürt, ohne von ihm zu wissen. Das Wissen tritt hinzu und kann nie die Dimension des Wirkens ausfüllen. Bei den Werken des sterblichen Geistes ist es umgekehrt: man weiss immer mehr von ihm als man spürt. Und es wäre technisch denkbar, den Herren Schnitzler und Hofmannsthal die Unsterblichkeit zu sichern, indem man auch die kommenden Zeitungsgeschlechter verpflichtet, täglich eine Notiz über den „Professor Bernhardi“ oder über „Jedermann“ zu drucken und zu lesen. Es ist aber sehr wichtig, auf solche Unsterbliche acht zu haben, um sie beizeiten vor Enttäuschungen zu bewahren und auf jenes Gebiet lukrativer Erfolge zu verweisen, wo sich anspruchlosere Verdiener vor der Welt gütlich tun, gehalten von einer Zeitgenossenschaft mit beschränkter Haftung. Mit den metaphysischen Verbindungen spiesst es sich, und wenn Herr Wassermann den Versuch macht, noch den Librettisten Hofmannsthal für die Ewigkeit zu retten, so sehe er zu, dass man den Künstler Wassermann nicht für den Tag reklamiere. Und nichts scheint mir übler angebracht als die Einrede jener Relativkritiker, die mir sagen, Schnitzler sei doch immerhin. Dieses Immerhin ist eben jener gefährliche Schein, der die Enthüllungen um wohlgezählte zwanzig Jahre verzögert. Warum sollen wir Zeit verlieren?