Günter Eich Betrachtet die Fingerspitzen Betrachtet die Fingerspitzen, ob sie sich schon verfärben! Eines Tages kommt sie wieder, die ausgerottete Pest. Der Postbote wirft sie als Brief in den rasselnden Kasten, als eine Zuteilung von Heringen liegt sie dir im Teller, die Mutter reicht sie dem Kinde als Brust. Was tun wir, da niemand mehr lebt von denen, die mit ihr umzugehen wussten? Wer mit dem Entsetzlichen gut Freund ist, kann seinen Besuch in Ruhe erwarten. Wir richten uns immer wieder auf das Glück ein, aber es sitzt nicht gern auf unsern Sesseln. Betrachtet die Fingerspitzen! Wenn sie sich schwarz färben, ist es zu spät. Wacht auf! Wacht auf, - denn eure Träume sind schlecht! Bleibt wach, - weil das Entsetzliche näher kommt. Auch zu dir kommt es, der weitentfernt wohnt von den Stätten, wo Blut vergossen wird, auch zu dir und deinem Nachmittagsschlaf, worin du ungern gestört wirst. Wenn es heute nicht kommt, kommt es morgen, aber sei gewiß. "Oh, angenehmer Schlaf auf dem Kissen mit roten Blumen, einem Weihnachtsgeschenk von Anita, woran sie drei Wochen gestickt hat, oh, angenehmer Schlaf, wenn der Braten fett war und das Gemüse zart. Man denkt im Einschlummern an die Wochenschau von gestern abend: Osterlämmer, erwachende Natur, Eröffnung der Spielbank in Baden-Baden, Cambridge siegte gegen Oxford mit zweieinhalb Längen, - das genügt, das Gehirn zu beschäftigen. Oh, diese weichen Kissen, Daunen aus erster Wahl! Auf ihm vergißt man das Ärgerliche der Welt, jene Nachricht zum Beispiel: Die wegen Abtreibung Angeklagte sagte zu ihrer Verteidigung: Die Frau, Mutter von sieben Kindern, kam zu mir mit einem Säugling, für den sie keine Windeln hatte und der in Zeitungspapier gewickelt war. Nun, das sind Angelegenheiten des Gerichtes, nicht unsre. Man kann dagegen nichts tun, wenn einer etwas härter liegt als der andre. Und was kommen mag, unsere Enkel mögen es ausfechten." Ach, du schläfst schon? Wache gut auf, mein Freund! Schon läuft der Strom in den Umzäunungen, und die Posten sind aufgestellt. Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind! Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen. Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird! Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt! Ingeborg Bachmann Die gestundete Zeit Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Bald musst du den Schuh schnüren und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe. Denn die Eingeweide der Fische sind kalt geworden im Wind. Ärmlich brennt das Licht der Lupinen. Dein Blick spurt im Nebel: die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand, er steigt um ihr wehendes Haar, er fällt ihr ins Wort, er befiehlt ihr zu schweigen, er findet sie sterblich und willig dem Abschied nach jeder Umarmung. Sieh dich nicht um. Schnür deinen Schuh. Jag die Hunde zurück. Wirf die Fische ins Meer. Lösch die Lupinen! Es kommen härtere Tage. Herbstmanöver Ich sage nicht: das war gestern. Mit wertlosem Sommergeld in den Taschen liegen wir wieder auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit. Und der Fluchtweg nach Süden kommt uns nicht, wie den Vögeln, zustatten. Vorüber, am Abend, ziehen Fischkutter und Gondeln, und manchmal trifft mich ein Splitter traumsatten Marmors, wo ich verwundbar bin, durch Schönheit, im Aug. In den Zeitungen lese ich viel von der Kälte und ihren Folgen, von Törichten und Toten, von Vertriebenen, Mördern und Myriaden von Eisschollen, aber wenig, was mir behagt. Warum auch? Vor dem Bettler, der mittags kommt, schlag ich die Tür zu, denn es ist Frieden und man kann sich den Anblick ersparen, aber nicht im Regen das freudlose Sterben der Blätter. Laßt uns eine Reise tun! Laßt uns unter Zypressen oder auch unter Palmen oder in den Orangenhainen zu verbilligten Preisen Sonnenuntergänge sehen, die nicht ihresgleichen haben! Laßt uns die unbeantworteten Briefe an das Gestern vergessen! Die Zeit tut Wunder. Kommt sie uns aber unrecht, mit dem Pochen der Schuld: wir sind nicht zu Hause. Im Keller des Herzens, schlaflos, find ich mich wieder auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit. Paul Celan TODESFUGE Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts wir trinken und trinken wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde er befiehlt uns spielt nun zum Tanz Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends wir trinken und trinken Ein Mann wohnt im Haus und spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr anderen singet und spielt er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends wir trinken und trinken ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith Ein Blatt, baumlos für Bertolt Brecht Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch beinah ein Verbrechen ist, weil es soviel Gesagtes mit einschließt? Hans Magnus Enzensberger ins lesebuch für die oberstufe lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne: sie sind genauer. roll die seekarten auf, eh es zu spät ist. sei wachsam, sing nicht. der tag kommt, wo sie wieder listen ans tor schlagen und malen den neinsagern auf die brust zinken. lern unerkannt gehn, lern mehr als ich: das viertel wechseln, den paß, das gesicht. versteh dich auf den kleinen verrat, die tägliche schmutzige rettung. nützlich sind die enzykliken zum feueranzünden, die manifeste: butter einzuwickeln und salz für die wehrlosen. wut und geduld sind nötig, in die lungen der macht zu blasen den feinen tödlichen staub, gemahlen von denen, die viel gelernt haben, die genau sind, von dir.