Mascha Kalekó Post Scriptum Anno Fünfundvierzig Inzwischen bin ich viel zu viel gereist, Zu Bahn, zu Schiff, bis über den Atlantik. Doch was mich trieb, war nicht Entdeckergeist, Und was ich suchte, keineswegs Romantik. Das war einmal. In einem anderen Leben. Doch unterdessen, wie die Zeit verrinnt, Hat sich auch biographisch was ergeben: Nun hab ich selbst ein Emigrantenkind. Das lernt das Wörtchen "alien" buchstabieren Und spricht zur Mutter: "Don't speak German, dear." Muß knapp acht Jahr alt Diskussionen führen, Daß er "allright" ist, wenn auch nicht von hier. Grad wie das Flüchtlingskind beim Rektor May! Wenn ich mir dies Dacapo so betrachte . . . Er denkt, was ich in seinem Alter dachte: Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei. Gottfried Benn Verlorenes Ich Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären, Opfer des Ion —: Gamma-Strahlen-Lamm —, Teilchen und Feld: — Unendlichkeitschimären auf deinem grauen Stein von Notre-Dame. Die Tage gehn dir ohne Nacht und Morgen, die Jahre halten ohne Schnee und Frucht bedrohend das Unendliche verborgen —, die Welt als Flucht. Wo endest du, wo lagerst du, wo breiten sich deine Sphären an —, Verlust, Gewinn —: ein Spiel von Bestien: Ewigkeiten, an ihren Gittern fliehst du hin. Der Bestienblick: die Sterne als Kaldaunen, Der Dschungeltod als Seins- und Schöpfungsgrund, Mensch, Völkerschlachten, Katalaunen hinab den Bestienschlund. Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten und was die Menschheit wob und wog, Funktion nur von Unendlichkeiten -, die Mythe log. Woher, wohin —, nicht Nacht, nicht Morgen, kein Evoe, kein Requiem, du möchtest dir ein Stichwort borgen —, allein bei wem? Ach, als sich alle einer Mitte neigten und auch die Denker nur den Gott gedacht, sie sich den Hirten und dem Lamm verzweigten, wenn aus dem Kelch das Blut sie rein gemacht, und alle rannen aus der eine Wunde, brachen das Brot, das jeglicher genoß —, oh ferne zwingende erfüllte Stunde, die einst auch das verlorene Ich umschloß. Bertolt Brecht Vom Sprengen des Gartens O Sprengen des Gartens, das Grün zu ermutigen! Wässern der durstigen Bäume! Gib mehr als genug. Und Vergiß nicht das Strauchwerk, auch Das beerenlose nicht, das ermattete Geizige! Und übersieh mir nicht Zwischen den Blumen das Unkraut, das auch Durst hat. Noch gieße nur Den frischen Rasen oder den versengten nur: Auch den nackten Boden erfrische du. Gottfried Benn Was schlimm ist Wenn man kein Englisch kann, von einem guten Kriminalroman zu hören, der nicht ins Deutsche übersetzt ist. Bei Hitze ein Bier sehn, das man nicht bezahlen kann. Einen neuen Gedanken haben, den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann, wie es die Professoren tun. Nacht auf Reisen Wellen schlagen hören und sich sagen, daß sie das immer tun. Sehr schlimm: eingeladen sein, wenn zu Hause die Räume stiller, der Café besser und keine Unterhaltung nötig ist. Am schlimmsten: nicht im Sommer sterben, wenn alles hell ist und die Erde für Spaten leicht. Bertolt Brecht Vergnügungen Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen Das wiedergefundene Buch Begeisterte Gesichter Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten Die Zeitung Der Hund Die Dialektik Duschen, Schwimmen Alte Musik Bequeme Schuhe Begreifen Neue Musik Schreiben, Pflanzen Reisen Singen Freundlich sein Gottfried Benn Menschen getroffen Ich habe Menschen getroffen, die wenn man sie nach ihrem Namen fragte, schüchtern – als ob sie gar nicht beanspruchen könnten, auch noch eine Benennung zu haben – »Fräulein Christian« antworteten und dann: »wie der Vorname«, sie wollten einem die Erfassung erleichtern, kein schwieriger Name wie »Popiol« oder »Babendererde« – »wie der Vorname« – bitte, belasten Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht! Ich habe Menschen getroffen, die mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren, am Küchentisch lernten, hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen – und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa die reine Stirn der Engel trugen. Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden, woher das Sanfte und das Gute kommt, weiß es auch heute nicht und muß nun gehen. Bertolt Brecht Das Lied von der Moldau Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne der Mächtigen kommen am Ende zum Halt. Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt. Am Grunde der Moldau wandern die Steine es liegen drei Kaiser begraben in Prag. Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.