137 3.5 Literarische >Gebrauchsformen< Im 20. Jahrhundert findet, unter dem Einfluss verschiedener literaturtheoretischer und ästhetischprogrammatischer Strömungen, eine Ausweitung des Literaturbegriffs statt. Über die >klassische< Dreiheit von Lyrik, Dramatik und erzählender Prosa hinaus werden verschiedene, z. T. schon sehr lange existierende Textgattungen als literaturnah oder als literarisch aufgefasst. Dies ist zunächst in den Texten oder Gattungen selbst begründet: Nicht innerhalb eines traditionell engen Literaturbegriffs stehende Textsorten wie Brief und Autobiografie, Tagebuch, Reisebericht oder Traktat verwenden z. T. sichtbar literarische Darstellungsmittel, sind in ihrer ästhetischen Erscheinungsform also durchaus Literatur. Darüber hinaus tritt mit der industriellen Massenfertigung von textlichen Erzeugnissen und der Expansion von Presse und Medienwesen im 20. Jahrhundert eine große Menge neuerer Textsorten hinzu, die unter einem erweiterten Literaturbegriff ebenfalls zu subsumieren sind: Essay, Feuilleton, Glosse, Leitartikel, Memoiren, Protestsong, Reportage, Sachbuch, Nachricht, Chronik, Bericht, Wettervorhersage, Flugblatt, Pamphlet, Propagandatext, Gebrauchsanweisung, Fahrplan, Erlass, Gesetz, Annonce, Werbeanzeige u.v.a.m. Bei einigen dieser Textsorten, v.a. den letztgenannten, sind die Kriterien der Literarizität nur in äußert beschränktem Maße erfüllt: Die Texte liegen gedruckt vor und weisen zumindest gelegentlich die Benutzung sprachlich-literarischer Stilmittel auf. Die Markierung der Grenze zwischen einem engen Literaturbegriff, der nur Lyrik, Dramatik und erzählende Prosa umfasst, und diesen anderen, z.T. auch literarischen Gattungen kann von der Beziehung der Texte zur (außertextlichen) >Wirklichkeit< abgeleitet werden: Die oben genannten Textsorten können als literarische Gebrauchstexte bezeichnet werden, also als »solche Texte [...], die nicht, wie poetische Texte, ihren Gegenstand selbst konstituieren, sondern die primär durch außerhalb ihrer selbst liegende Zwecke bestimmt werden. Gebrauchstexte dienen der Sache, von der sie handeln; sie sind auf einen bestimmten Rezipientenkreis ausgerichtet und wollen informieren, belehren, unterhalten, kritisieren, überzeugen, überreden oder agitieren« (Belke 1973, 320). Im Folgenden sollen zunächst die wichtigsten Gattungen literarischer Gebrauchstexte vorgestellt werden: Der Brief als Medium der meist privaten, personalen Kommunikation ist eine schriftliche Mitteilung an eine räumlich vom Schreiber getrennte Person. Mit dieser räumlichen Trennung ist auch ein >Zeitverzug< verbunden: Zwischen Schreiben und Lesen vergeht mehr oder weniger lange Zeit. Gerade um Zeitverzug und räumliche Trennung aber zu kompensieren, imitiert der Brief - so das Ideal des Aufklärungsschriftstellers Gellert - das Gespräch: Im Brief finden sich als Stilmittel direkte Leseranreden, Frage- und Antwortspiele u. Ä. Waren im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Briefe relativ stark von formellen Anforderungen geprägt, ausgerichtet an den Regeln der rhetorischen ars dictaminis1 , wie sie auch noch die Briefsteller, Modellbriefbücher des 17. Jahrhunderts prägten, entwickelt sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts ein individueller Briefstil: Der Brief wird zu der privaten Äußerungsform des Bürgertums schlechthin. Aufgrund dieser Authentizität des Briefes kommt ihm ein hoher Stellenwert als biografischem 138 oder kulturgeschichtlichem Dokument zu; das 18. Jahrhundert kann ohne Übertreibung als Jahrhundert der Briefkultur bezeichnet werden. Gleichwohl muss das naive Kriterium der Authentizität hinterfragt werden weisen doch auch >echte< Briefe vielfach sprachliche Muster von Selbst- oder Identitätsinszenierungen auf, entwerfen in Phantasien o.Ä. fiktionale Welten und konstituieren erst die Welt, über die sie sprechen. Dass authentische Briefe oder Briefwechsel dokumentarische und literarische Qualität haben können, zeigt sich etwa daran, dass Goethe selber seinen Briefwechsel mit Schiller zum Druck bearbeitete, und auch an den unzähligen Editionen der so genannten epistolarischen Werke vieler Schriftsteller/innen, Philosophen usw. Die Literarizität oder die Literarisierbarkeit der Gebrauchsform des Briefes zeigt sich aber vor allem daran, dass schon aus der Antike literarische Werke überliefert sind, die aus (fiktiven) Briefen bestehen: etwa die Heroiden Ovids2 , die als Heldenbriefe im deutschen Barock wieder aufgegriffen werden (Hoffmannswaldau). Vor allem die Literatur des 18. Jahrhunderts aber greift auf die wichtigste intime Kommunikationsform des Bürgertums häufig zurück: Richardson, Rousseau, Gellert, Sophie von La Roche und Goethe schreiben berühmte Briefromane, also epische Großtexte, in die fiktive Briefe ganz konstitutiv eingebaut sind oder die praktisch ausschließlich aus Briefwechseln oder den Briefen einer einzelnen Person bestehen (Werther). Wie der Brief gilt auch das Tagebuch als ein alltagsnahes, authentisches Dokument. In strenger Zuordnung zum jeweiligen Datum werden täglich oder zumindest regelmäßig Erlebnisse und Erfahrungen, Beobachtungen, 1 Fähigkeit eines Schreibers, Briefe und Urkunden abzufassen. Ab dem 12. Jahrhundert entwickelte sich die Kunst des Schreibens als Epistolographie, als Wissenschaft der Briefkunst. Die Ars dictaminis war demnach eine Zwischenstufe zu späteren Briefstellern und eine Anweisung zum mustergültigen Briefstil. 2 "Heroides": fiktive Liebesbriefe mythischer Frauengestalten bzw. berühmter, antiker Liebespaare: ihrem Gehalt nach der erotischen Elegie entstammend. Gedanken und Gefühle notiert. Da das Tagebuch sich normalerweise nicht an einen Leser richtet, ist hier, im Unterschied zum Brief, der Ausdruck noch näher am Subjekt, ohne Zwang zur InterSubjektivität, ganz monologisch. Die Tradition der Gattung geht bis auf die Antike zurück, das Interesse am einzelnen Subjekt im Renaissance-Humanismus verhalf der Gattung zu einer ersten Blüte, vollends führte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die pietistische Verpflichtung zur frommen Selbstbeobachtung zu einer wahren TagebuchFlut. Innerhalb der Textsorte gibt es eine große Spannbreite zwischen bloßer sachlich-genauer Notiz, präzisester Beschreibung alltäglichen Lebens und emotionaler bzw. empfindsamer Ausführlichkeit. Wie schon der Brief – und verstärkt durch das Monologische der Gattung – erweist sich das Tagebuch häufig als literarisiert: Stilisierungen und Muster der Selbstinszenierung überschreiten den Bereich des Authentischen. Wie Briefe werden auch fiktive Tagebücher oder Tagebuch-Teile zu Bestandteilen von Romanen: Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre (1827) geht zu größeren Teilen auf Wilhelms Tagebuch (und auf diejenigen anderer Figuren) zurück, Uwe Johnsons großer vierbändiger Roman Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl (1970-83) verarbeitet u.a. das angebliche Tagebuch der Hauptfigur; die diaristische Form des Tagebuchs, die Einträge Tagesdaten zuzuordnen, kann auch als Strukturelement erzählender Prosa genutzt werden. Die halb-authentische, halb-literarische Gattung der Autobiografie hatte in den Confessiones des spätantiken Kirchenvaters Augustinus ihr Modell: Der Charakter der Konfessions-, der Bekenntnisschrift war bestimmend, eine Ten- 139 denz, die der Pietismus des 18. Jahrhunderts noch einmal verstärkte. Wie bei Augustinus sollte die Autobiografie eine religiöse Bekehrungsgeschichte sein, die die eigene Lebenszeit und -erfahrung in ein sinnhaftes Verhältnis zur göttlichen Heilsordnung zu setzen versuchte. Diese Bekenntnisliteratur spielte bei der Ausprägung empfindsam-psychologischer Selbstbeobachtung eine nicht zu unterschätzende Rolle, die sowohl in ihre literarische Aufarbeitung (etwa im Werther) mündete wie in ihre beginnende wissenschaftliche Analyse (psychologische Zeitschriften). Die pietistische Autobiografie wich stark von den radikal diesseitigen, anekdotenhafteren Renaissance-Autobiografien (Cardano, Cellini), historisch-chronikalischen Selbstlebensbeschreibungen aus dem 16. Jahrhundert (Götz von Berlichingen) sowie von den ebenfalls chronikartigen Berufs- und Gelehrtenautobiografien des 17. und 18. Jahrhunderts ab. Die stark psychologisierende Tendenz der pietistischen Selbstbeobachtung hatte starke Wirkung auf autobiografische Literatur: Rousseaus Confessions (1764-70) versuchen jenseits einer chronologischen Faktenund Ereignisanhäufung, die Geschichte des eigenen Ich erzählerisch als Kette von Empfindungszuständen zu konstruieren, ähnlich auch Jung-Stillings Lebensgeschichte. Goethes Dichtung und Wahrheit (1811-1833) inszeniert Entwicklung und Durchsetzung des Autors Goethe vor einem breiten gesellschafts- und literaturgeschichtlichen Hintergrund. Die erzählende Darstellung selbst erlebter Geschichte, die Rettung des Ich aus historischen Katastrophen oder desolaten Familienverhältnissen, die prägenden Muster literarischer Sozialisation u.v.m. sind im 20. Jahrhundert Gegenstände der literarischen Autobiografie (Walter Benjamin, Elias Canetti, Thomas Bernhard). Daneben gibt es natürlich die Fülle >naiver< Autobiografien (von Hildegard Knef3 bis Dieter Bohlen4 ). Die Autobiografie, also die Erzählung des eigenen Lebens aus der rückblickenden Ich-Perspektive, ist in dieser Differenz zwischen erzählendem und erzähltem Ich immer schon literarisierend - insofern sie niemals den Konstruktionscharakter der biografischen Erinnerung verleugnen kann. Die Geschichte des Ich ist - und damit die personale, im Erzählen erwirkte Identität - Ergebnis einer Konstruktion, einer Selektion, Gewichtung 3 Dt. Schauspielerin. Wolfgang Staudte sah Knef auf der Bühne und engagierte sie für den ersten deutschen Nachkriegsfilm “Die Mörder sind unter uns” (1946), der sie auch international bekannt machte. Danach spielte sie weiter Theater und synchronisierte nebenbei sowjetische Filme für die DEFA. Am 1. August 1948 war Hildegard Knef das Titelmädchen auf der ersten Ausgabe der neuen Illustrierten Stern. Sie wurde zum ersten großen deutschen Nachkriegsstar.1950 kehrte sie aus Hollywood nach Deutschland zurück, um den Willi-ForstFilm Die Sünderin zu drehen. Erst durch Proteste der katholischen Kirche wurde der melodramatische Film mit einer kurzen Nacktszene Knefs und der Thematisierung der Tabus Prostitution und Freitod zu einem der größten Skandale im deutschen Nachkriegskino: mit Demonstrationszügen für und gegen die “Sünderin”, verbarrikadierten Kinos, Verbot des Films in zahlreichen deutschen und europäischen Städten, Klageverfahren bis hin zum Bundesgerichtshof. Der katholische Protest entzündete sich vor allem an der Tötung auf Verlangen, die in der Schlußszene gezeigt wurde und an die Euthanasiepropaganda des Dritten Reiches erinnerte. “Die Sünderin” wurde damals allein in Deutschland von über 7 Millionen Menschen gesehen. 4 Nichts als die Wahrheit (geschrieben in Zusammenarbeit mit der Bild-Journalistin und Ehefrau von BildChefredakteur Kai Diekmann, Katja Kessler) wurde 2002 zu einem Bestseller, erhielt 2003 den Medienpreis Goldene Feder und war aufgrund der vermeintlich volksnahen Machart und seiner bekanntlich derben Sprache Zielobjekt der Kabarett-Welt. In diesem Buch äußerte sich Bohlen auch über sein Sexleben und behauptet unter anderem, dass er zweimal eine Penisfraktur erlitten habe. Durch seine extrovertierte und direkte Art polarisierte Bohlen auch weiterhin. und spezifischen Kombination von Erlebnissen und Ereignissen. Das Ich ist gleichsam fiktiv, entsteht erst am Ende des Schreibens. Insofern ist im Verhältnis zu Brief und Tagebuch die Autobiografie von möglicherweise viel geringerer oder zumindest noch problematischerer Authentizität. Das Erzählmuster der Autobiografie bietet das Modell für eine der zentralen Erscheinungsformen des Romans: Romane aus der Ich-Perspektive imitieren sehr häufig den autobiografischen Gestus, beginnen bei Voreltern, Eltern und Geburt und erzählen über Kindheit, Jugend und Abenteuer hinweg bis in die (fiktive) Erzählgegenwart hinein (Grimmeishausen: Simplicissimus; Moritz: Anton Reiser; Th. Mann: Felix Krull; Grass: Die Blechtrommel u.v.a.m.) (zu Autobiografie insgesamt vgl. Wagner-Egelhaaf 2000). Eine Sonderform autobiografischen Erzählens ist der Reisebericht, also die erzählende Präsentation von Erfahrungen, Erlebnissen und Reiseeindrücken, denen reale Erfahrungen zugrunde liegen. Formal ist der Reisebericht ungebunden: Meist in Prosa erzählt, kann er tagebuch- oder chronikartige Anteile enthalten, er 140 kann, wie Goethes Brieftagebuch für Charlotte von Stein aus Italien, Briefstruktur haben, er kann sogar, im Falle eines dichterischen Reiseberichts, Eindrücke in Gedichte umgewandelt aufführen. Die Geschichte der Gattung reicht bis in die Antike zurück: Eroberungen und Entdeckungsreisen, im Mittelalter die Kreuzzüge waren stets auch Anlass zum Reisebericht. Von besonderem Interesse sind die Berichte aus der neuen Welt aus dem 16. Jahrhundert: Einerseits werden mit nahezu ethnologischer Präzision etwa brasilianische Völker geschildert (Hans Staden: Warhaftig Historia vnd beschreibung eyner Landschafft der Wilden I Nacketen I Grimmigen Menschfresser Leuthen, 1557), andererseits aber wird oft auch nur das Bekannte oder mythologisch Überlieferte berichtet (etwa die aus Homer und Herodot bekannten Amazonenvölker, die dann in den brasilianischen Urwald hineinphantasiert werden). Die Reiseliteratur der Aufklärung vermittelt Kenntnisse der Welt (G. Forster über James Cooks Reise um die Welt, 1778-80), von deutschen Landschaften (Nicolai), v.a. auch von Italien. Während Goethes Italienische Reise (1816-17, 1829), autobiografisch konstruierend, die Wiedergeburt des Künstlers Goethe aus der Begegnung mit antiker Kunst, italienischer Natur und Sinnlichkeit thematisiert, beschreibt Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syracus im Jahre 1802 (1803) die Armut und Not, die realen Lebensbedingungen des Landes. A. von Humboldt entwickelt den Reisebericht zu einer wissenschaftlichen Gattung fort, während Heines Reisebilder (1826-31) gesellschaftskritische Satire über die deutsche Misere sind. Mit zunehmender Politisierung der Gattung in der Zeit der Weimarer Republik – etwa bei Reiseberichten aus der jungen Sowjetunion – tendiert das Genre zu einer neuen Gebrauchsform der Literatur, die sich erst im Kontext der Massenmedien des 20. Jahrhunderts entfalten konnte, der Reportage (s.u.). Vielfach zeigt der Reisebericht Elemente literarischer Stilisierung oder Überformung; Element literarischer Texte aber wird die Reisebeschreibung ebenso häufig: Schon einige der Urtexte europäischer Überlieferung, die Odyssee Homers und die Aeneis Vergils, sind u.a. Reisedarstellungen. Reise und Erfahrung der Welt sind vielfach Motiv oder zentrales Strukturmuster v.a. erzählender Texte der Neueren deutschen Literatur: Der Fortunatus (1509) bereist die halbe Welt, der höfisch-historische Roman des Barock ist ohne Reise und Irrfahrt nicht denkbar, Reuters Schelmuffsky (1696) prahlt mit einer abenteuerlichen Reise durch viele Länder, die Robinsonade verbindet Reise, Schiffbruch und Rettung mit der Selbsterziehung des Helden und auch der Bildungsroman kommt nicht ohne Reisen aus (Goethe: Wilhelm Meister; Stifter: Der Nachsommer u.v.a.). Eine moderne Spielart des Reiseberichts ist die Reportage – eine kürzere Prosaform, die nur im Zeitungs- und Medienwesen des 20. Jahrhunderts vorzufinden ist. Mit Anspruch auf dokumentarische Authentizität wird über soziale Konflikte, Katastrophen, gesellschaftliche Ereignisse, Gerichtsprozesse, Städte und Länder berichtet. Die Reportage thematisiert, über den neutralen Bericht hinaus, den Vorgang der Informationsermittlung (die Recherche) und die subjektiven Wahrnehmungen oder sogar Bewertungen. Damit zielt sie darauf ab, dem Leseoder Zuhörer-Publikum Erfahrungen und Erkenntnisse zu vermitteln, die im normalen Alltag unzugänglich blieben, tendenziell will die Reportage auch die Hal- 141 tung des Publikums beeinflussen. Eine Blütezeit erlebte die Gattung in den 1920er Jahren: Egon Erwin Kisch prägte mit seinen Reportagen aus Mexiko oder aus dem Ruhrgebiet das Genre der literarischen Reportage entscheidend mit. Vor allem in den 1960er und 1970er Jahren kam es im Kontext der Dokumentarliteratur und der »Entdeckung« der Alltagskultur und der Arbeiterliteratur zu einer hohen Wertschätzung der Reportage als literarischer Gattung (Erika Runge5 , Günter Wallraff). Die Recherche als fundamentale Handlung des Reporters, 5 Autorin von Bänden mit sozialkritischen Reportagen, in denen vom Strukturwandel der 1960er Jahre betroffene Bürger der Ruhrgebietsstadt Bottrop, Angehörige der beginnenden Frauenbewegung der späten 1960er Jahre und Einwohner der DDR-Stadt Rostock zu Wort kommen. Die Besonderheit an Runges Werken, die als Klassiker der dokumentarischen Literatur gelten, ist die wortwörtliche Wiedergabe der Interviewäußerungen; die Eingriffe der Autorin beschränken sich auf die Montage der Antworten. Bereits 1976 erklärte Runge ihren Abschied von der Dokumentarliteratur und kündigte an, in künftigen Werken ihre literarische Fantasie zum Zug kommen zu die dem Text voraus- und in ihn eingeht, ist in der Literatur des 20. Jahrhunderts häufiger auch zum Bestandteil der Erzählhaltung geworden: in Uwe Johnsons Das dritte Buch über Achim (1961) ebenso wie in Heinrich Bölls Gruppenbild mit Dame (1971) (ausführlich zur Reportage vgl. Siegel 1978). Der Essay ist eine Textsorte, die sachbezogenes und literarisches Schreiben miteinander verbindet: Er scheint auf die strenge Erarbeitung und systematische Darstellung eines Sachverhalts zu verzichten, erlaubt ein kreativeres, wilderes Denken. Die Struktur des Essays ist dadurch gekennzeichnet, dass die Autoren scheinbar unsystematisch und gleichzeitig in einer literarischen Sprache versuchen, sich einer Erkenntnis anzunähern. Der Essay ist Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Literatur: Von der umfassendsten Kenntnis eines Gegenstandes oder Sachverhalts her, die ein Essay voraussetzt, gehört er zu den wissenschaftlichen Textsorten; von der Durchführung der Gedanken und von seinem Stil her ist er ein literarischer Text. Der Essay ermöglicht in hohem Maße, über Gedankenexperimente, über spielerischen Umgang mit Hypothesen, mit intuitiven, stark subjektiv eingefärbten Bildern und Denkmöglichkeiten einen Gegenstand auszuleuchten, um nicht etwa am Ende eine >Wahrheit< auf einen Begriff zu bringen, sondern im Prozess dieses unsystematischen, rhapsodischen Denkens, Sprechens und Spielens die Dimensionen dieses Gegenstandes aufzuzeigen. Die Geschichte der Gattung beginnt im 16. Jahrhundert mit den »Versuchen«, Essais des Michel de Montaigne (1580). Vor allem in den englischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts wird die kleine reflexive Prosagattung wieder gepflegt, woher sie die deutschen Moralischen Wochenschriften entleihen. Der Essay ist eine bestimmende philosophische Gattung der Romantik (Gebrüder Schlegel), im 20. Jahrhundert kennzeichnet essayistisches Schreiben oder die Integration abgeschlossener Essays in literarische Texte selbst vielfach die Literatur: Berühmt ist Musils Reflexion über das essayistische Denken und die Integration von Essays in seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930/33/43; etwa das 4. Kapitel über den »Möglichkeitssinn«), ein Verfahren, das auch Hermann Broch im dritten Teil seiner Roman-Trilogie Die Schlafwandler praktiziert (1931/32). Die Erweiterung des Literaturbegriffs im 20. Jahrhundert, die die eben skizzierten Textsorten als mögliche Gegenstände der Literaturwissenschaft erscheinen ließ, hat auch den Blick dafür geschärft, dass v.a. in erzählender Literatur schon weit vor dem 20. Jahrhundert Versatzstücke anderer Texte in die literarischen Texte hineinmontiert wurden, verschiedene Gebrauchsformen der Literatur, die sozusagen in unmittelbareren Lebenszusammenhängen ihre primäre Funktion hatten. Diese Montage in den literarischen Text machte die Gebrauchstexte 142 im poetischen Kontext einerseits literaturfähig, andererseits erhielten sie aber in ihrem textlichen Eigenwert, also losgelöst vom literarischen Text, einen neuen Stellenwert. Es wurde ihre Interpretationsbedürftigkeit erkannt: dass auch sie mit den Mitteln der Literaturwissenschaft durchaus beschrieben und analytisch betrachtet werden könnten. Im literaturwissenschaftlichen Umgang mit den verschiedenen >Gebrauchsformen< der Literatur sind verschiedene analytische Zugriffe im Blick auf den eigentlichen >Gebrauchszusammenhang< der jeweiligen Textsorte denkbar: • erstens lassen sie sich befragen auf ihren Gegenstand hin, daraufhin, um welche Sache es ihnen geht; • zweitens sind sie beschreibbar von ihrem Zweck aus: ob überhaupt und welche Reaktion sie beim Rezipienten, was für eine Handlungsorientierung sie bewirken wollen; • drittens können sie nach dem Adressaten befragt werden: an welche spezifische oder unbestimmtere Gruppe von Hörern/Lesern/Sehern sie sich wenden; • viertens sind sie differenzierbar hinsichtlich des Mediums, in dem sie an den Rezipienten herantreten: ob sie also mündlich, schriftlich, als Bilder oder als Film, ob sie über die Zeitung, das Radio, das Fernsehen oder das Kino vermittelt werden. Je nach Differenzierungsmerkmal bilden sich ganz unterschiedliche Gruppen von Texten, die wiederum völlig inhomogen sein können: So stehen etwa Essay, Leitartikel, Nachricht, Leserbrief, Reportage, Wettervorhersage, Annonce und Werbeanzeige in einer Gruppe zusammen, weil sie, wenn man nach dem Übermittlungsmedium fragt, alle über die Zeitung ihren Rezipienten erreichen. Dass diese Gebrauchstexte, vor allem seit den 1970er Jahren, Gegenstand der Literaturwissenschaft wurden, hat einerseits mit ihrem schon oben erwähnten Einbau in >literarische< Texte zu tun – der sie sozusagen aufgewertet hat, indem er ihnen literarischen Rang verlieh. Andererseits aber ist nicht unerheblich, dass gerade an den Texten mit angeblich >eindeutigem< Sinn, der sich von ihrer Funktion in einem bestimmten Praxiszusammenhang herleitete, eine mögliche Vieldeutigkeit sichtbar wurde. Zudem wurde offenbar, dass gerade viele Gebrauchstexte sich literarischer Mittel bedienen, die geradezu literaturwissenschaftliche Analyse erfordern. Die Interpretation der politischen Rede oder des Werbetextes etwa, die bis in den Deutschunterricht vordrangen, sind deutliche Anzeichen dafür. 143 lassen. Allerdings veröffentlichte sie 1987 nochmals einen dokumentarischen Band mit "Protokollen". Grundlegende Literatur Belke, Horst: Literarische Gebrauchsformen. Düsseldorf 1973. Fischer, Ludwig/Hickethier, Knut/Riha, Karl (Hg.): Gebrauchsliteratur. Methodische Überlegungen und Beispielanalysen. Stuttgart 1976. Holdenried, Michaela: Autobiographie. Stuttgart 2000. Knörrich, Otto (Hg.): Formen der Literatur in Einzeldarstellungen. Stuttgart 2 1991. Nickisch, Reinhard M.G.: Brief. Stuttgart 1991. Siegel, Christian: Die Reportage. Stuttgart 1978. Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. Stuttgart/Weimar 2000. Weissenberger, Klaus (Hg.): Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Tübingen 1985.