Impressionismus – Neuromantik – Jugendstil - Neuklassik – Symbolismus – Heimatliteratur nach Ingo Leiß und Hermann Stadler (Gymnasiallehrer): Wege in die Moderne 1890 – 1918 Der traditionellen Aufteilung in heterogene, einander ablösende Richtungen u. Stiltendenzen (Symbolismus, Ästhetizismus, Impressionismus, Décadence, Fin de siècle, Jugendstil, Neuromantik, Neuklassik, Heimatkunstbewegung) stellte Wolfdietrich Rasch Ende der 50er Jahre die These von der ›inneren Einheit‹ einer Zeit entgegen, »in der klar unterscheidbare Formungsweisen, die keimhaft schon im Anfang nebeneinander hervortreten, sich nebeneinander entfalten«. [Sachlexikon: Jahrhundertwende, S. 1. Digitale Bibliothek Band 9: Killy Literaturlexikon, S. 24914 (vgl. Killy Bd. 13, S. 449)] Robert Musil formulierte es 14. Mai 1921 in der Prager Presse in demArtikel Stilgeneration oderGenerationsstil folgendermaßen: Wir haben die Sache ja mehrmals mitgemacht. Jedesmal war eine neue Generation da, behauptete eine neue Seele zu haben und erklärte, für diese neue Seele nun auch den gehörigen Stil finden zu wollen. Sie hatte aber keine neue Seele, sondern nur so etwas wie ein ewiges Weichtier in sich, dem keine Schale paßt, auch die zuletzt ausgebildete nicht. Um 1900 konnte man noch glauben, daß Naturalismus, Impressionismus, Dekadence, und heroischer Immoralismus alle eines seien, verschiedene Auswirkungen einer neuen Generation; um 1910 wußte man bereits [...], daß die ganze Gemeinsamkeit nur darin bestand, daß viele Leute um das gleiche – Loch, um das gleiche Nichts herumgestanden waren; und heute sind von der ganzen Generationsseele nichts als ein paar Einzelseelen übrig geblieben, welche die alphabetische Ordnung im Kürschner ganz gut vertragen oder mit Erfolg die Unterschiede zwischen Künstlerhaus und Secession verwischen. In Musil Roman Der Mann ohne Eigenschaften[1] ist die von einem beflügelnden Fieber die Rede, das sich der Kunst und der Menschen schlechthin bemächtigte: Es kann deshalb nützen, sich auch daran erinnern zu lassen, daß in schlechten Zeiten die schrecklichsten Häuser und Gedichte nach genau ebenso schönen Grundsätzen gemacht werden wie in den besten; daß alle Leute, die daran beteiligt sind, die Erfolge eines vorangegangenen guten Abschnitts zu zerstören, das Gefühl haben, sie zu verbessern; und daß sich die blutlosen jungen Leute einer solchen Zeit auf ihr junges Blut genau so viel einbilden wie die neuen Leute in allen anderen Zeiten. Und es ist jedesmal wie ein Wunder, wenn nach einer solchen flach dahinsinkenden Zeit plötzlich ein kleiner Anstieg der Seele kommt, wie es damals geschah. Aus dem ölglatten Geist der zwei letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich plötzlich in ganz Europa ein beflügelndes Fieber erhoben. Niemand wußte genau, was im Werden war; niemand vermochte zu sagen, ob es eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein solle. Darum sagte jeder davon, was ihm paßte. Aber überall standen Menschen auf, um gegen das Alte zu kämpfen. Das Streben nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten war recht widerspruchsvoll, nur von dem Aufstand gegen den Stillstand der vorangehenden Jahrzehnte: Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Untermensch geliebt; es wurden die Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde die Zärtlichkeit brustkranker Mädchen angebetet; man begeisterte sich für das Heldenglaubensbekenntnis und für das soziale Allemannsglaubensbekenntnis; man war gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust und morbid; man träumte von alten Schloßalleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven, menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft. Dies waren freilich Widersprüche und höchst verschiedene Schlachtrufe, aber sie hatten einen gemeinsamen Atem; würde man jene Zeit zerlegt haben, so würde ein Unsinn herausgekommen sein wie ein eckiger Kreis, der aus hölzernem Eisen bestehen will, aber inWirklichkeit war alles zu einem schimmernden Sinn verschmolzen. Diese Illusion, die ihre Verkörperung in dem magischen Datum der Jahrhundertwende fand, war so stark, daß sich die einen begeistert auf das neue, noch unbenützte Jahrhundert stürzten, indes die anderen sich noch schnell im alten wie in einem Hause gehen ließen, aus dem man ohnehin auszieht, ohne daß sie diese beiden Verhaltensweisen als sehr unterschiedlich gefühlt hätten. Der Begriff Moderne versuchte den Anspruch der Literatur um 1900 zum Ausdruck zu bringen, eine neue Geistesära zu eröffnen, sich von den „ewigen“ Werten und normativen Mustern des 19. Jhs zu verabschieden, ähnlich wie in den Naturwissenschaften einen radikalen Umbruch mitzumachen. Der Begriff hat aber auch die Kehrseite, die Ablehnung der bisherigen unreflektierten Sicherheit. Die reine Abbildbarkeit der Welt wird von Künstlern stark angezweifelt, es bleibt nur noch die Möglichkeit, sie als Modell zu erfassen, in Chiffren, Normen und Farben wiederzugeben. In der Literatur werden diese Zweifel an der Erkennbarkeit der Welt noch von den Zweifeln verstärkt, ob die Sprache überhaupt fähig sei, die Realität zu vermitteln. Diese Abkoppelung von traditionellen Werten brachte eine Stimmung der Resignation, eine narzisstische Selbstbespiegelung, eine widersprüchliche Genussfähigkeit des fin de siècle. In seinem ersten Essay über Gabriele D´Annunzio schreibt Hofmannsthal im Jahrer 1893. 53 Wir haben nichts als ein sentimentales Gedächtnis, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung. Wir schauen unserem Leben zu; wir leeren den Pokal vorzeitig und bleiben doch unendlich durstig: denn wie neulich Bourget schön und traurig gesagt hat, den Becher, den das Leben uns hinhält, hat einen Sprung, und während uns der volle Trunk vielleicht berauscht hätte, muss ewig fehlen, was während des Trinkens unten rieselnd verlorengeht; so empfinden wir im Besitz den Verlust, im Erleben das stete Versäumen. Wir haben gleichsam keine Wurzeln im Leben und streichen, hellsichtige und doch tagblinde Schatten, zwischen den Kindern des Lebens umher [...] Man treibt Anatomie des eigenen Seelenlebens, oder man träumt. Reflexion oder Phantasie, Spiegelbild oder Traumbild. Modern sind alte Möbel und junge Nervositäten. Modern ist das psychologische Graswachsenhören und das Plätschern in der reinphantastischen Wunderwelt. Modern ist Paul Bourget und Buddha; das Zerschneiden von Atomen und das Ballspielen mit dem All; modern ist die Zergliederung einer Laune, eines Seufzers, eines Skrupels; modern ist die instinktmäßige, fast somnabule Hingabe an jede Offenbarung des Schönen, an einen Farbenakkord, eine funkelnde Metapher, eine Wundervolle Allegorie. Diese neue Literatur einer grenzenlosen Subjektivität bevorzugt Skizzenhaftigkeit, eine weniger strenge Einhaltung der Gattungsgrenzen. Es entstehen lyrische Dramen, novellistische Skizzen, Tragikomödien, in der Prosa setzen sich die erlebte Rede bzw. der innere Monolog durch, ein Signal, das auf einen allwissenden Erzähler verzichtet wird, weil alles nur relativ, nicht allgemein verifizierbar erscheint. Die Kritik am Naturalismsus, der noch an die Möglichkeit der Beschreibung glaubte, wenn man nur „wissenschaftlich“ genau arbeitet, wird zum Ausgangspunkt des neun Stilpluralismus. Impressionismus Der Begriff stammt aus der Malerei. Um 1900 macht sich überhaupt die Vorreiterrolle der bildenden Kunst bemerkbar. Schon 1874 hat Monet sein Bild Impression, soleil levant ausgestellt und ein Kritiker (Leroy) anlässlich einer Ausstellung unbekannter Maler höhnisch von einer exposition des impressionistes geschrieben, um die Verwandtschaft mit der Darstellungsweise von Cézanne, Degas, Claude Monet und Auguste Renoir zu kennzeichnen. Es war die Kunst des Eindrucks, einer Stimmung, die einen rasch vergänglichen Augenblick festhielt. In betonter Subjektivität beschränkten sich die Künstler auf die Wiedergabe von Sinneseindrücken, auf Auflösung realer Strukturen in Farb- und Lichtreflexe. Dabei verzichteten sie auf Abstraktion und geistige Durchdringung. Wenn Monet immer wider die Kathedrale von Rouen malte, wollte er nicht das Bauwerk als Symbol erfassen, sondern den immer neuen optischen Eindruck je nach Wetter und Tageszeit. Der Subjektivismus der neuen Kunsthaltung unterschied sie vom Naturalismus. In H. Bahrs Essay Die Überwindung des Naturalismus aus dem Jahre 1891 heißt es: Wir wollen die Fenster weit öffnen, daß die Sonne zu uns komme, die blühende Sonne des jungen Mai. Wir wollen alle Sinne und Nerven auftun [...] Nur den Sinnen wollen wir uns vertrauen [...] der Einzug des auswärtigen Lebens in den inneren Geist, das ist die neue Kunst [...] Wir haben kein anderes Gesetz als die Wahrheit, wie sie jeder empfindet. Er greift das damals populäre Wort Neuromantik auf, wandelt es aber zu Neuro – Mantik um, also zur Mystik der Nerven, zur nervösen Romantik, , es geht ihm um Augenblicksbilder der eiligen Ereignisse auf den Nerven (Wahrheit, Wahrheit, 1891). Wer schon etwa Metaphern oder Vergleiche verwendet, gibt den Augenblick nicht unmittelbar wider, sondern hat das Gesehene oder Erlebte bereits verarbeitet. Deshalb sind reine impressionistische Texte selten, am reinsten können diese Postulate noch im lyrischen Gedicht, einer epischen oder dramatischen Skizze umgesetzt werden. Die Auswirkungen auf Lexikon und Grammatik sind auffallend: man verwendet neue Zusammensetzungen von Wörtern als Mittel der Abschattierung, man greift zur Wortwiederholung, um die dabei wandelnde Nuancierung festzuhalten, man zieht das Adjektiv dem Substantiv vor, weil das Substantiv ein Wesen, ein ständiges Sein suggeriert, dessen Gewißheit ein Produkt der geistigen Verarbeitung vieler Sinneseindrücke ist. Das Partizip Präsens aktiv gibt diesen augenblicklichen Ablauf am besten wieder. Die parataktische Satzreihung vermittelt den Eindruck der unreflektierten Bobachtung.Wichtige Rolle fällt außerverbalen Mitteln zu. Punkte kennzeichnen Pausen, Doppelpunkte erlauben Verknüpfungen ohne logische Konjunktionen, Ausrufezeichen weisen auf Lautstärke hin, gedehnte Redeweise kann durch unorthographische Vokaldoppleung sinnfällig gemacht werden. Arno Holz: Revolution der Lyrik (1899) Alltägliche und daher vermeintlich uninteressante dinge können einen verborgenen Reiz haben, den die Künstler sichtbar machen müßten; solche Gegenstände seine nicht wegen ihrer Bedeutung von Interesse, sondern als Sinneswahrnehemung. Alltagsszenen von Johannes Schlaf: Am Wahlabend in Berlin Naturbilder: Dauthendey: Blütenleben. Neuromantik Das Werk des frühen Hesse, des jungen Hofmannsthal oder Rilkes ist an Vorbildern aus der Romantik orientiert, an ihren Formen und Motiven. Die Tendenz zur märchenhaften Entrückung klingt noch 1905 in Beer-Hofmanns Tragödie Der Graf von Charolais nach. Romantische Vorbilder werden aufgegriffen: Hugo von Hofmannsthal: Das Bergwerk zu Falun geht auf eine Novelle E. T. A. Hoffmanns zurück, Hesses Lyrik orientiert sich auf Eichendorff. Die Wendung nach innen, die Betonung des Individuellen, die Erfahrungen im Traum, die Welt des Irrationalen fesselt wieder die junge Dichtergeneration. Ein frühes Zeichen setztet G. Hauptmann mit seinem Stück Hanneles Himmelfahrt im Jahre 1893. Peter Camenzind (1904) oder Carl Hauptmanns Einhart der Lächler (1907) porträtieren den neuromantischen Seelenvagabunden., der der bürgerlichen Gesellschaft den Rücken kehrt. Im Anschluß an Joseph von Eichendorffs Taugenichts bevorzugten neuromant. Au- toren diesen Typus des weltfremden Helden, wie ihn Hermann Hesses Knulp. (Bln. 1915) noch verkörpert. Die Neuromantik war vor allem in Wien eine Mischung aus etwas posenhafter aristokratischer Haltung, einem betonten Ästhetizismus, allumfassender Erotik, ausgeprägter Reizempfänglichekit, von Lebensmüdigkeit. Eine positivere Grundrichtung versuchte Eugen Diederichs dieser Strömung in Erläuterungen zu seinem Verlagsprogramm zu formulieren: Als führender Verlag der Neuromantik möchte ich betonen, dass diese nicht mit der Dekadenzrichtung der Literatur zu verwechseln ist. Nicht [...] weltfremde Träumerei bevorzugt die neue Geistesrichtung, sondern auch dem Zeitalter des Spezialistentums, der einseitigen Verstandeskultur, will sie die Welt als etwas Ganzes genießen und betrachten. Indem sie das Weltbild wieder intuitiv faßt, überwindet sie die aus der Verstandeskultur hervorgegangenen Erscheinungen des Materialismus und Naturalismus. In seinem Verlag erschien auch die zweibändige Monographie Die Romantik (1908) von Richarda Huch[2]. Vorbilder waren außer den Romantikern aus der Zeit um und nach 1800 auch Nietzsches Irrationalismus und Wagners Hang zum Mythos und zu dessen Psychologisierung. Und dass trotz der Abneigung Diederichs zu Wagner. Dieser in der Forschung umstrittene Begriff tauchte 1906 als Titel einer Aufsatzsammlung von Ludwig Coellen im Verlag Eugen Diederichs auf u. wird einzelnen Werken vor allem aufgrund ihrer Stoffwahl zugeordnet: Gerhart Hauptmanns Die versunkene Glocke (Bln. 1897), Der arme Heinrich (ebd. 1902), Eduard Stuckens Gawân (ebd. 1902) u. anderen Grals-Dramen, Ernst Hardts Tantris der Narr (Lpz. 1907), Gudrun (ebd. 1911). Dem zeitgenöss. Publikum war der in der Tradition der Neuromantik stehende S. bekannt geworden durch Dramen aus der kelt. Mythenwelt (Gawân. Bln. 1902.Lanzelot. Ebd. 1909), die wegen ihrer mystisch-religiösen Sentimentalität u. ihrer bombastischen Sprache heute zu Recht vergessen sind. Hardt, (Friedrich Wilhelm) Ernst, * 9. 5. 1876 Graudenz/Westpreußen, † 3. 1. 1947 Ichenhausen bei Ulm. - Lyriker, Erzähler, Dramatiker; Theater- u. Rundfunkintendant. H. entstammte einer alten preuß. Offiziers- u. Beamtenfamilie. Die Ausbildung in einer Berliner Kadettenanstalt brach er 1892 ab. Längere Reisen führten ihn u. a. nach Griechenland, Spanien u. Portugal. Seine ersten schriftstellerischen Versuche standen unter dem Einfluß Stefan Georges. Ab 1896 veröffentlichte er Lyrik u. Prosa im »Simplicissimus«, ab 1897 in Georges »Blätter für die Kunst«; 1897-1900 arbeitete H. als Feuilletonredakteur bei der »Dresdner Zeitung«. Danach lebte er bis 1907 abwechselnd in Griechenland u. Berlin als freier Schriftsteller u. Übersetzer, bes. aus dem Französischen. Zu einem der berühmtesten Schriftsteller der Vorkriegszeit avancierte H. als Dramatiker, v. a. mit dem Einakter Ninon von Lenclos (Lpz. 1905) u. mit Tantris der Narr (Lpz. 1907), ________________________________ [1] Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Kapitel 15: Geistiger Umsturz. Reinbek: Rohlwolt 1983, S. 54/56. [2] 1899. Blütezeit der Romantik. 1902: Ausbreitung und Verfall der Romantik