Prosa um 1900 Genrehierarchie , Erzähltechnik Büchermarkt, Autorinnen um 1900, Schnitzler. Genrehierarchie •Studie, Skizze, Erzählung, Novelle •Hofmannsthals Lord-Chandos-Brief (Ein Brief, 1902) oder sein essayistischer Dialog Das Gespräch über Gedichte (1903), Sein Märchen der 672. Nacht ist kein Märchen •Altenberg: Extracte des Lebens ...( in 2-3 Seiten eingedämpft, vom Überflüssigen befreit wie das Rindvieh im Liebig-Tigel!). Hofmannsthal, Das Märchen der 672. Nacht •Ein junger Kaufmannssohn, der sehr schön war und weder Vater noch Mutter hatte, wurde bald nach seinem fünfundzwanzigsten Jahre der Geselligkeit und des gastlichen Lebens überdrüssig. Er versperrte die meisten Zimmer seines Hauses und entließ alle seine Diener und Dienerinnen, bis auf vier, deren Anhänglichkeit und ganzes Wesen ihm lieb war. Da ihm an seinen Freunden nichts gelegen war und auch die Schönheit keiner einzigen Frau ihn so gefangen nahm, daß er es sich als wünschenswert oder nur als erträglich vorgestellt hätte, sie immer um sich zu haben, lebte er sich immer mehr in ein ziemlich einsames Leben hinein, welches anscheinend seiner Gemütsart am meisten entsprach. Hofmannsthal, Das Märchen der 672. Nacht •Doch er fühlte ebenso die Nichtigkeit aller dieser Dinge wie ihre Schönheit; nie verließ ihn auf lange der Gedanke an den Tod und oft befiel er ihn unter lachenden und lärmenden Menschen, oft in der Nacht, oft beim Essen. •Aber da keine Krankheit in ihm war, so war der Gedanke nicht grauenhaft, eher hatte er etwas Feierliches und Prunkendes und kam gerade am stärksten, wenn er sich am Denken schöner Gedanken oder an der Schönheit seiner Jugend und Einsamkeit berauschte. Denn oft schöpfte der Kaufmannssohn einen großen Stolz aus dem Spiegel, aus den Versen der Dichter, aus seinem Reichtum und seiner Klugheit, und die finsteren Sprichwörter drückten nicht auf seine Seele. Er sagte: »Wo du sterben sollst, dahin tragen dich deine Füße«, und sah sich schön, wie ein auf der Jagd verirrter König, in einem unbekannten Wald unter seltsamen Bäumen einem fremden wunderbaren Geschick entgegengehen. Er sagte: »Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod« und sah jenen langsam heraufkommen über die von geflügelten Löwen getragene Brücke des Palastes, des fertigen Hauses, angefüllt mit der wundervollen Beute des Lebens. Hofmannsthal, Das Märchen der 672. Nacht •eine Angst, die er nicht zum ersten Male fühlte; jetzt aber fühlte er sie wie etwas Überwundenes. Und er ballte die Fäuste und verfluchte seine Diener, die ihn in den Tod getrieben hatten; der eine in die Stadt, die Alte in den Juwelierladen, das Mädchen in das Hinterzimmer und das Kind durch sein tückisches Ebenbild in das Glashaus, von wo er sich dann über grauenhafte Stiegen und Brücken bis unter den Huf des Pferdes taumeln sah. Dann fiel er zurück in große, dumpfe Angst. Dann wimmerte er wie ein Kind, nicht vor Schmerz, sondern vor Leid, und die Zähne schlugen ihm zusammen. •Mit einer großen Bitterkeit starrte er in sein Leben zurück und verleugnete alles, was ihm lieb gewesen war. Er haßte seinen vorzeitigen Tod so sehr, daß er sein Leben haßte, weil es ihn dahin geführt hatte. •Zuletzt erbrach er Galle, dann Blut, und starb mit verzerrten Zügen, die Lippen so verrissen, daß Zähne und Zahnfleisch entblößt waren und ihm einen fremden, bösen Ausdruck gaben. Altenberg, Wie ich es sehe •Landpartie und die Liebe •(in "Nachfechsung", Berlin 1916) • •Er sagte: »Diese Königswiese, sieh, ist die zweitgrößte Wiese in ganz Niederösterreich!« • •Er machte eine Pause, um ihr Zeit zu lassen zur Frage, welche denn die erstgrößte wäre?! Als die Frage nicht eintraf, sagte er: »Die erstgrößte nämlich ist die Bodenwiese am ›Gahns‹. Man geht in gerader Richtung über sie eine volle Stunde lang, hundert Mäher brauchen acht Tage lang, um sie abzumähen!« • •Sie fühlte: »Wenn du mir jetzt noch berichtest, wieviel Ochsen und Kühe dieses Abgemähte fressen, dann erkläre ich dich für den größten Fadian, den es auf der Welt gibt!« • Sommerabend in Gmunden (in "Neues Altes", Berlin 1911) •Wir, die nicht genug haben an den Taten des Alltages, wir Ungenügsamen der Seele, wir wollen unseren rastlosen, enttäuschten und irrenden Blick richten auf die Wellensymphonien des Sees, auf den Frieden überhängender Weidenbäume und die aus düsterem Grunde steil stehenden Wasserpflanzen! •Auf die Menschen wollen wir unsern impassiblen Blick richten, mit ihren winzigen Tragödien und ihren riesigen Lächerlichkeiten; mit düsterer Verachtung wollen wir nichts zu tun haben, und mildes Lächeln soll der Panzer sein gegen ihre Armseligkeiten! •Dem Gehen edler anmutiger Menschen wollen wir nachblicken, dem Spiele adeliger Gebärden und der Noblesse ihrer Ruhe! Ein Arm auf einer Sessellehne, eine Hand an einem Schirmgriff, das Halten des Kleides bei Regenwetter, süßes kindliches Bacchantentum bei einem Quadrillefinale, wortloses Erbleichen und wortloses Erröten, stummer Haß und stummes Lieben, und alles Auf und Ab der eingeschüchterten und zagen Menschenseele – – das, das alles wollen wir Stunde um Stunde in uns hineintrinken und daran wachsen! •Rastlos aber, vom Satan Gejagten gleich, stürmen die Anderen enttäuschungsschwangeren Zwecken entgegen, und ihre Seele bleibt ungenützt, verdirbt, schrumpft ein, stirbt ab! •Jeder Tag bringt einen Abend, und in der Bucht beim Toscana-Garten steht Schilf, und Weiden, und Haselstauden hängen über, ein Vogel flüchtet, und alte Steinstufen führen zu weiten Wiesen. Nebel zieht herüber, du lässest die Ruder sinken, und niemand, niemand stört dich! Rilke, Die Aufzeichungen des Malte Laurids Brigge •Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht. • •Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum. Rilke, Die Aufzeichungen des Malte Laurids Brigge, 1910 •Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber in ihre Hände. Es war an der Ecke Rue Notre-Dame-des-Champs. ... •Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich ... Die Frau erschrak , und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht. Rue Vercingétorix,1906. Pariser Krankenhäuser Pariser Krankenhäuser Aufzeichnung des Malte Laurids Brigge •Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König Clodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben: Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer gibt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Hesse, Peter Camenzind, 1904 •Brecht: Es ist einer darin, der am Schluss nurmehr roten Wein trinkt und verkommt und Jahreszeiten anschaut und den Mond aufgehen lässt, das ist eine Beschäftigung! •Vorabdruck, Oktober bis Dezember 1903, in der "Neuen Rundschau" •Noch im gleichen Jahr erhielt Hesse den Wiener "Bauernfeldpreis", bis 1909 erschienen 50.000 Exemplare. • •1899 Arthur Schnitzler •1908 Karl Schönherr •1911 Erwin Guido Kolbenheyer •1914 Max Mell •