Jakob Julius David: Die Schwachen aus der Zft Westermanns Monatshefte, 1888 Der Bauernhof wollte nicht einschlafen. Noch nie hatte die Bauerin die Mägde so oft und zu so später Stunde vom Ziehbrunnen wegscheuchen müssen als in jener Nacht vor Ostern, noch nie hatten die Tiere in den Ställen so viel und so heftig an ihren Ketten gezerrt. Das klang dann gell und häßlich durch das schwere Dunkel. Endlich war alles still; nur ein starker Wind fuhr mit Brausen durch das Tal. Er i rank die letzten weißen Streifen fort, die von den unfernen Kuppen des Odergebirges herüber fast gespenstig durch die Finsternis leuchteten, und rauschte mächtig in den kahlen Kronen der Bäume. Mit wahrer Beklommenheit horchte die alte Frau darauf, spähte nach dem einsamen Lichtschimmer, der aus einem einzigen Fenster des Hauses brach: „So verstört ihm alles die erste Nacht! Dann soll er Ruhe finden!" seufzte sie. „Wer denn, Mutter?" Sie schrak zusammen. Es war so dunkel, daß sie niemanden hatte kommen sehen, daß sie dieser Anruf ganz unerwartet betroffen hatte. Nun erhob sie sich von der Bank, auf der sie gesessen. Auch jenes Lichtlein, danach sie so ängstlich ausgespäht, war erloschen, und sie konnte nun auch schlafen gehen. „Du bist' s, Thomas?" sprach sie dann. „Wo warst du denn so lang? Und du weißt doch, daß dir die Nacht kein gut tut!" „Die Wege sind schlecht, und es hat seine guten drei Stunden hin und zurück bis zur Tante Marie. Ich hab' wissen wollen, wohin sie morgen in die Kirche gehen. Also zu uns. Aber wer kann keine Ruh finden, Mutter?" 15 Sie wurde ärgerlich. „Das kannst dir denken", erwiderte sie heftig, doch leise. „Oder weißt wirklich nicht, daß dein Bruder heute heimgekommen ist?" „Ja so, der Heinrich ist wieder da! Dann möchtest du freilich am liebsten auch dem Wind das Pfeifen verbieten." „Du bist schlecht, Thomas, schlecht und neidig!" „Und ein Krüppel, den keiner mag", ergänzte er. „Du bist kein Krüppel, das weißt du. Nur schwach bist du. Aber schlecht mußt du nicht sein darum. Du weißt gut, daß er so lang fort war und nicht zu Haus bleibt." „Umgekehrt war dir's gewiß lieber, Mutter!" Sie wurde ernstlich böse. Er erkannte das daran, daß ihr das Tuch von den Schultern glitt und sie vor Eifer nicht darauf achtete. „Du weißt am besten, daß das nicht wahr ist", rief sie., Aber soll ich mich nicht freuen, wenn mir der Ältere wieder einmal im eigenen Bett schläft statt bei fremden Leuten? Und warum nicht? Weil du neidig bist und nicht weißt, was Gott ist, und was das heißt, jemandem danken?" „Was soll ich denn dem Heinrich danken?" Sie merkte, daß sie zu viel gesprochen habe. „Dem Heinrich? Wer spricht vom Heinrich? Gott, uns allen sollst du danken, statt uns jede Freud' zu verderben. Und jetzt geh schlafen, hörst?" Mit raschem Griffe zog sie ihr Tuch höher und ging. Thomas Grenzer sah ihr nach. Dann pfiff er nachdenklich und gedehnt einen Takt und folgte ihr langsam. Es ward ganz stille im Hofe, der dem ersten Ostertage entgegenträumte; nur die Bäuerin grämte und härmte sich und konnte keinen Schlummer finden. Wie hatte sie sich auf Heinrichs Heimkehr gefreut, und nun - ? Fast wollte sie dem Jüngeren grollen, fast verwünschen, was sie für ihn getan. Aber er war ja so schwach, so kränklich! „Ja, der Thomas, der Thomas!" Sie wiederholte diese Worte, bis sie über ihrem eintönigen Klange einschlief. 16 Auch Heinrich Grenzer hatte eine schlechte Nacht gehabt. Zu Fuß war er das weite Stück Weges von der Halten stelle der Eisenbahn nach Hause gegangen; einsam wollte er nach so langer Trennung die Heimatserde beschreiten. Schon diese Wanderung durch die ihm vertrauten und dennoch so fremd gewordenen Gefilde brachte manche Erregung; dann aber war ihm die Mutter gedrückt und nicht so herzlich erschienen, als er wohl erwarten durfte, sie zu finden. Überdies fehlte ihm sein gewohntes Wiegenlied: das gemach verzitternde, nimmer stumme, lang nachhallende Gedröhne der Großstadt, das ihn einzuschläfern, dann, anschwellend, wieder zu wecken pflegte. So fand ihn denn schon das erste Licht wach. Er erhob sich, tat seine besten Kleider an und verließ vorsichtig und leise das Haus. Jeder Schritt weckte ihm Erinnerungen, wie er so durch den elterlichen Grund zu einem kleinen Bühel hinanstieg. Hart vor den Scheunen hatte er den letzten Streit mit dem Vater gehabt, den Zwist, der ihn für lange Jahre von der teuren Schwelle verbannte. Damals mußte er schweigen, nun aber, wo er vielleicht sprechen, sich rechtfertigen gekonnt hätte, nun war es zu spät... Er ging sinnend weiter. Ja, sie waren beide Dickköpfe gewesen, sein Vater und er. Aber, das empfand er, der alte Mann hatte ihn immer lieb gehabt, lieber als den Thomas, und er begriff auch, wie sehr es den stolzen Bauern schmerzen mußte, als sich sein Ältester plötzlich, kaum daß er die Mittelschule, das Militärjahr hinter sich hatte, weigerte, den Grund zu übernehmen, dort weiterzuarbeiten, wo seine Ahnen gesessen und geschafft hatten. Und dennoch fühlte Heinrich, daß er nicht anders handeln gekonnt. Oder hätte er die Mutter anklagen sollen? Die Mutter, an der er so hing? Was die tat und wollte, mußte das Beste sein. Das glaubte er heute so fest wie damals, da man die Fichten zuerst auf dem kahlen Berge hinter ihrem Hause angepflanzt, den Häuslern 17 zum Jammer, die so wiederum eines Weideplatzes für ihre Ziegen verlustig wurden und nicht wenig über die Härte der Großbauern klagten. Er blickte nach der Schonung hin; die hatte sich ganz gewaltig ausgewachsen, während er ferne war. Er sah nach der Uhr. Es war noch früh am Tage, und so umzog er in einem großen Bogen das Dorf. Nur wenige waren schon wach; die feiertägige Stille um ihn, der Anblick der geputzten Menschen taten ihm wohl. Mancher sah ihm verwundert nach; er meinte langsam zu gehen und sputete sich dennoch mehr, als es ein Bauer an Festtagen tut. Ab und zu grüßte einer; er achtete nicht darauf. Aber erkannt wurde er von niemandem. Wer sollte auch seiner gedenken, fünfzehn Jahre, nachdem der Großbauer Grenzer seinen Buben verstoßen hatte, weil der sich aufs Studium tun wollte? Auch diesen ersten Morgen hatte er sich anders ausgemalt, da er klopfenden Herzens heimgekehrt war. Die Mutter allein erwartete ihn; in der guten Stube hatte sie dem hohen Feste, dem lieben Gast zu Ehren decken lassen. Das geschieht sonst zum Frühmahl nicht. Der Thomas war schon fortgegangen, und nun mußte der Heimgekehrte berichten. Er staunte, in wie wenige Worte sich die harten Kämpfe so vieler Jahre bringen ließen. Sie horchte wortlos, da er von den Entbehrungen der Studentenjahre, der Pein des Stellungsuchens erzählte, und seufzte manchmal leise. Nur einmal legte sie ihre braune Hand wie liebkosend auf seinen Arm. Er blickte lächelnd auf; sofort zog sie diese zurück und sah schämig zu Boden. „Ich hab' nur wissen wollen, ob's noch der alte ist. Aber der ist stark geblieben, ein rechter Bauernarm, Heinrich!" „Er hat auch rechtschaffen arbeiten müssen, Mutter", erwiderte er ernsthaft. „Nun, und der Herr hat's dir gesegnet! Siehst du, daß ich gewußt habe, was ich begehr', und daß es dir gut gehen muß? Und hast dich doch so lang bitten lassen!" 18 Ein Schatten flog über seine Stirn. „Lassen wir das, Mutter, das paßt schlecht zum Ostersonntag." „Du trägst mir's nach, Heinrich?" Sie schrie beinah in Seelenangst. „Nein, Mutter. Aber es wäre mir viel erspart geblieben, hätt's anders sein können. Aber" - er wollte einlenken -„herausgeputzt hast du dich heute!" Sie lächelte wieder. „Weißt, wenn ich schon wieder einmal mit meinem schönen Sohn zur Kirche gehen kann! Das war schon gar lange nicht mehr. Und ich möcht' s heute ganz so haben wie damals, wo der Thomas noch nicht auf der Welt und wie er noch klein war. Er kommt heute auch nicht zum Mittag nach Haus. Jetzt aber" — sie blickte nach der Pendeluhr, einem Stolz des Hauses — „jetzt aber: mir scheint, wir könnten gehen. Es ist hübsch weit." Die Dorfstraße war belebter als sonst wohl. Buben haschten halbwüchsige Mädchen und bedrohten die Kreischenden mit Gertenhieben, wie das hier üblich ist am Ostersonntag seit altersher. Geputzt bewegten sich kleine Leute der Kirche zu; Großbauern, ihrer Würde und ihres eigenen Kirchenstuhles eingedenk, schritten behäbig den gleichen Weg. Mancher kam von weither; er mochte Pferde im Stall haben und ging doch zu Fuß, denn es ziemt sich, daß auch das liebe Vieh an einem solchen Tag seine Ruhe habe. Die Sonne schien hell, und die braunen Furchen der Felder, das junge Grün der Wiesen, alles erschimmerte übergoldet. Oft mußten Mutter und Sohn stehen bleiben; man sprach sie an, man wechselte die üblichen Redensarten, hieß den Heimgekehrten willkommen. Heinrich entsann sich fast aller wieder; selbst ihre Spitznamen fielen ihm wieder bei. Viele darunter waren seine Genossen auf der Schulbank gewesen; die hatten längst ihr eigenes Heim gegründet, und wenn er sie nun sah, stark, behäbig, selbstbewußt, und erwog, wie er allein stünde in der Welt, wie das einzige Wesen, welches ihm zugehörte, 19 die alte Frau an seiner Seite sei, dann wollte ihn ein starkes Gefühl der Heimatlosigkeit überkommen, ein gewaltiges Sehnen zugleich, derselben ein Ende zu machen. So sah er denn ernst drein während des ganzen Weges, wußte dabei wohl, daß man ihm das als Stolz auslegen werde, und konnte doch nicht anders. Nur einmal lächelte er doch: ein Riese, ungeschlachte Kraft in jeder Bewegung, zog vor Frau Katharina und ihm ehrfurchtsvoll den runden Hut. „Das ist der Janko, weißt, der bei uns gedient hat, und den seine Annerl schlägt", flüsterte ihm die Mutter zu. Der Gedanke, daß dieser Mann, dessen Kraftstücke das Staunen aller gewesen waren, sich von seinem Weibe, von einem hübschen, blonden, schmächtigen Geschöpfe, schlagen lasse, erschien ihm denn doch zu spaßig. Sie betraten die Kirche, und es war Heinrich wiederum, als wollte ihn heute alles wehmütig stimmen. Die einfachen und doch so würdigen Formen des lutherischen Gottesdienstes griffen ihm unendlich ans Herz; junge, blühende Gesichter waren allenthalben, wohlgeschulte Stimmen sangen die alten Osterlieder mit. Die Sonne schien durch die Fenster, ihre Strahlen ließen manch blondes Haargeringel wie Gold erglänzen. Er kannte keines der Mädchen mehr: die Gespielinnen seiner Jugend waren wohl längst allesamt ehrbare Eheweiber. Eine nur schien ihm bekannt. Sie saß neben einer früh gealterten Frau, und nur aus der Ähnlichkeit mit der Tante Marie, für die er knabenhaft geschwärmt und deren Bild, wie sie in jungen Jahren gewesen, ihm noch hell in der Seele stand, meinte er ihre Tochter erraten zu haben. Gewiß, das konnte nur die Lise sein, bei deren Taufe er vor langem in den Ferien zu Gaste gewesen war. Er konnte sich nicht satt sehen an ihr; es war ein gar zu liebes, reines Gesichtchen, das sich andächtig über das Gesangbuch neigte, während die Stimme des Mädchens wie ein helles Glöcklein durch den Chorgesang 20 tönte. Ihr Anblick machte ihn fröhlich; er beschloß, nicht zu warten, bis ihn die Mutter bekannt machen werde, denn hier wäre ihm ihr gleichmäßiges: „Mein Sohn, der Fabrikdirektor" unerträglich gewesen. Während also der Kantor mit einem kunstvollen Orgelsatz den Gottesdienst beschloß, während des Gedränges, das nun entstand, entwischte er Frau Katharinen. Er hatte einen Scherz vor; klopfenden Herzens, ob ihm der wohl gelingen werde, wartete er. Ein übles Vorzeichen bedünkte es ihn, daß der Thomas mit den beiden kam. Er war seinem Bruder keineswegs feind - wer Opfer für einen anderen bringen mußte, wird diesen nie hassen, weil er sich besser fühlt - aber er mochte doch nicht gern mit ihm zu tun haben. Trotzdem trat er auf das Mädchen zu, ohne des Thomas zu achten. „Grüß Gott, Lise!" sprach er und hielt ihr die Hand hin. Sie sah ihn neugierig und fragend an, dann tat sie ihre Hand in seine. Er aber zog sie an sich und küßte sie herzhaft auf die Stirn. Sie erschrak. Große, blaue, verdutzte Kinderaugen schauten sich um, ein kleines Mündchen verzog sich schmollend und weinerlich; der Mutter kehrte sie sich zu. „Aber ich kenn' den Herrn gar nicht", kam es gedehnt über rote Lippen. „Mein Bruder, der Heinrich!" beeilte sich Thomas zu erläutern. „Der Vetter Heinrich?" Mit unverhohlener Neugier musterte ihn nun Lise. Er gefiel ihr offenbar; stark, breitschultrig stand er vor ihr, wie einer, der sein Anteil an dieser Erde hart erkämpft hat und nicht gewillt ist, auch nur das kleinste Teilchen dessen aufzugeben, was er sich erstritten. Ihre Blicke glitten an dieser mächtigen Gestalt aufwärts, dann huschten sie prüfend, vergleichend zum anderen hinüber. Dabei schüttelte sie leise den Kopf; daß die beiden einander auch gar so unähnlich sahen! 21 Thomas mochte empfinden, daß dieser Vergleich unmöglich zu seinen Gunsten ausfallen könne. „Wir müssen gehen", mahnte er mürrisch, „adjes, Heinrich." Er nahm den Arm des Mädchens, die alte Frau folgte. Heinrich Grenzer aber verweilte noch auf dem Kirchenplatze. Seine Mutter hatte sich zu ihm gefunden, er aber achtete ihrer kaum, er blickte dem Kleeblatt nach. Plötzlich wandte sich Lise; eine Blutwelle schoß Heinrich ins Gesicht: offenbar, sie hatte sich nach ihm umgesehen. Auf dem Heimweg hatten Mutter und Sohn die Rollen gewechselt. Sie war ernst, er vergnügt, fast lustig. Halbwegs holten sie einen ein; von ferne her schon erkannte ihn Heinrich: so merkwürdig breitspurig konnte nur der Janko daherschreiten. Seine Pfeife war ausgegangen; nun stand er am Wegeraine und mühte sich, Feuer zu schlagen. Heinrich bot ihm eine Zigarre, er betrachtete das Ding mißtrauisch, dann steckte er sie ein. „Ihr erlaubt doch, Herr?" „Gewiß. Janko. Und wie geht' s sonst?" „Man schind't sich, Herr Direktor, aber es geht." „Und was macht die Annerl, Janko?" „Nu, was die Weiber alle machen." Heinrich bezwang sein Lachen kaum. „Alle? Es werden doch nicht alle ihre Männer hauen, wie die Annerl dich." „Haut sie mich, Herr Direktor?" „Die Leute sagen so." „Dann wird's schier wahr sein." Der Schwamm hatte endlich Feuer gefangen, Janko tat ihn auf den Tabak und saugte mächtig am Rohre. „Und du läßt dir's gefallen?" Frau Katharina zupfte ihren Sohn am Ärmel, und er setzte sich wieder in Bewegung. Neben ihnen her trottete aber Janko, dem es offenbar wohltat, sich über diesen Punkt einmal gründlich aussprechen zu können. „Ja, was wollt Ihr denn da tun, Herr Direktor?" seufzte er. 22 „Man könnte fortlaufen, Janko." Der Riese schüttelte abwehrend den Kopf: „Das schickt sich nicht für einen Mann." „Oder man könnte zurückschlagen." Janko blieb stehen: „Herr, das geht auch nicht. Ihr dürft mir's glauben. Ich hab mir oft gedacht: gibst ihr eins. Aber es geht nicht, Herr. Ich bin stark, und sie ist schwach. Sie bleibt mir ja unterm Hieb. Wäre sie nur so stark wie ich, dann war' s gut. Mit einem, der so ist wie ich, kann ich raufen. Aber sie ist zu schwach, Herr, und da ist nichts zu machen." „Du magst schon recht haben, Janko." „Hab' ich's?" Der Starke rief 's ganz erfreut. „Hab' ich's, Herr Direktor? Wissen Sie, sie sagt immer, ich bin so dumm. Freilich, sie ist gescheit, ich glaub, die Kaiserin kann's gar nicht mehr sein. Aber - ich muß nach Haus. Gute Ostern, Herr Direktor!" „Gute Ostern, Janko!" antworteten Mutter und Sohn. Der Ostersonntag verlief, wie er sollte: still, ruhig, friedvoll. Frau Katharina war selig, daß ihr Heinrich aß, wie sich's gehörte, daß er fröhlich war, wie dereinst. Sie ging sogar gegen Abend mit ihm in den Feldern spazieren. Erst mit dem Dunkel kam Thomas heim: er war bei der Tante, dann im Wirtshause gewesen. „Und er weiß doch, daß ihm das Trinken nicht gut ist", klagte die Bäuerin bekümmert ihrem Älteren. „Er tut's auch sonst nicht, er muß sich rein geärgert haben." „Vielleicht, weil ich wieder da bin", meinte Heinrich. „Fängst du auch an? So schlecht ist er nicht. Aber die Lise wird muckisch gewesen sein." Auch der Ostermontag verlief freundlich. Wieder gingen Heinrich und Frau Katharina zusammen in die Kirche; diesmal aber horchte der Mann nur nach einer bekannten Stimme, freute sich, als er die aus dem Gesänge aller herausfand, 23 musterte das Köpfchen, dessen zierliches Rund von einer Fülle goldbrauner Haare umgeben war. Auch Lise schien es ahnend zu empfinden, daß sie beobachtet wurde, sie neigte sich tiefer auf ihr Gesangbuch, und Heinrich hätte beschwören mögen, daß sie rot geworden sei. Sie tat aber dennoch ganz vertraut, als sie der Vetter vor der Kirchentür anredete. Sie selbst sprach wenig; dann wußte sie so allerliebst zu lachen, daß es eine Freude war. Beim Abschiede — wieder drängte der Thomas darauf — hielt er ihre Hand lange fest und sah ihr in die Augen. Sie errötete darüber; das ließ ihr so gut, daß sich Heinrich abermals freute. Dafür war es fortab daheim desto ungemütlicher, Frau Katharine ersichtlich gedrückt, Thomas heftig und oft betrunken. Er kommandierte im Hofe herum; zumeist und am lautesten dann, wenn er den Älteren in der Nähe wußte, just als ob er zeigen wollte, daß er denn doch der alleinige Herr im Hause sei. Das kränkte den weiter nicht. Frau Katharinens kummervolles Gesicht aber griff ihm ans Herz. So wanderte er denn viel in der Gegend umher, die gerade in jener Zeit ihre kargen Reize am freigebigsten entfaltete. Jeder Hügel bot weite Fernen; schon stand der Schwarzdorn in Blüten; allgemach begann das Weiß des Kirschbaumes zu erglänzen. Ihn berührte das wie nie gesehen, das Bedürfnis nach Aussprache aber empfand er kaum. Wie hätte er das auch befriedigen wollen? Zu erzählen hatte er der Mutter nichts mehr. Frau Katharine verschloß ihre Kümmernisse in sich, wie sie's gewohnt war. Vom Bruder aber schied ihn eine ganze Welt, und sie waren in allem zu sehr verschieden, als daß gemeinsame Erinnerungen, das Andenken junger, einträchtiger Tage sie hätte verbinden können. Gern sprach er bei Tante Marie vor, und in ihrem niedrigen Witwenhäuschen ward ihm eigentlich noch am wohlsten. Er durfte nicht alle Tage kommen, was er freilich am liebsten getan hätte; das litt die Lise nicht, die ganz resolut zu 24 befehlen wußte. Dann setzte er sich auf eine große Kiste -„Die geht mit mir, wenn ich einmal heiraten tu", hatte ihm das Mädchen gesagt - und sah ihr zu, was sie flink bei der Arbeit war. Denn es lag ihr viel ob, und er merkte gar wohl, wie knapp es den Leuten gehen mußte. Oft sann er, wie er ihnen helfen könne. Ihm wollte kein Mittel einfallen; mit Geld war da nichts zu machen; sie waren stolz. Aber das Bild der kleinen Base wurde ihm ein getreuer Gesellschafter, verwob sich mehr und mehr mit seinem Sehnen nach einer Seele, mit der er alles teilen, der er alles mitteilen könne, wurde ihm desto wichtiger, weil er mit niemandem von ihr sprechen konnte. Die Mutter hörte nicht gern davon; einmal gedachte er des Mädchens, und als er auf die Frage, was ihn denn so sehr zu Tante Marie zöge, geantwortet hatte: „Die Lise!" da erschrak sie förmlich. „Um Gotteswillen! Du wirst doch nicht? Das dumme Mädel!" Er hielt es für einen Ausbruch des Stolzes, mit dem sie auf ihn blickte und dem kein Weib gut genug für ihn dünkte. Den ahnenden Aufschrei vernahm er nicht, in den sie ausbrach, kaum daß er sie allein gelassen hatte; er hörte ihr schmerzliches: „Ich werd' ihm wieder weh tun müssen! Ich werd's wieder müssen!" nicht. Heinrich Grenzer hatte im Leben wenig zu tun gehabt mit Frauen, geliebt nur eine: seine Mutter. Er war der Erstgeborene; zwei Geschwister, die dann kamen, waren rasch nacheinander weggestorben, kaum daß sie in die Welt geguckt hatten. Nach jedem neuen Verlust klammerte sich die Bäuerin mit desto schmerzlicherer Zärtlichkeit an den einen, der ihr verblieben, der also Gelegenheit fand, die ganze unermeßliche Fülle von Liebe, welche eine Mutter spenden kann, auszukosten, zu genießen, zu vergelten, durch eine unbedingteste Hingebung. Als dann der Thomas geboren ward, da war Heinrich halberwachsen und verständig genug, um zu begreifen, daß dieses Kind, welches aus einer 25 Krankheit in die andere fiel, besonderer Pflege, besonderer Rücksicht bedürfe; es erklärlich zu finden, daß sich das ganze Hauswesen fortab um den neuen Ankömmling drehen mußte. Dann, als er nach dem letzten großen Streit mit dem Vater in die Welt gegangen war, ohne andere Unterstützung als das Geringe, das ihm die Mutter heimlich zukommen lassen konnte, da hatte er mit sich selbst viel zuviel zu tun gehabt, als daß er an wohlfeile Abenteuer hätte denken mögen. Danach stand ihm sein stolzer Sinn auch nicht. Noch war ihm kein Weib begegnet, von dem er gewünscht hätte, es möge sein bleiben; es waren wohl auch die besten nicht, die ihm entgegengetreten waren. So hatte er sich denn allgemach in das Gleichmaß seiner Tage eingesponnen, wohl gar geglaubt, er sei wunschlos geworden; denn frühe Sorgen, harte Arbeit hatten ihn arg mitgenommen. Nun empfand er, daß er noch wünschen könne, nun befiel ihn ein Grauen, gedachte er seiner einsamen, stillen Wohnung im lauten Fabriksgebäude, des gleichgültigen Dienergesichtes, das dem Müden darin den Willkomm bot. Er verglich die Lise im Geiste mit allen, die er kannte, und sie schien ihm wahrer denn alle: echt und naiv, wie er sich sein Weib wünschte. Sein Bauernblut regte sich mächtig: ein Ekel überkam ihn vor überfirnißter Bildung, vor erlogenen Schmerzen, wie sie ihm so oft begegnet, wie er sich alle Städterinnen nunmehr dachte. Die Lise schien ihm anders. Ob auch besser? Darüber sann er nicht nach. Aber ihn wollte bedünken, er gewönne die Heimat wieder, die er so schwer vermißt, nach so harten Kämpfen aufgegeben hatte, wenn er ihre beste Blume mit fortnahm in sein neues Heim. Es war ein fremdes Sehnen in ihm; nicht als hätte er sich verhehlt, wie viel geringer die Bildung des Mädchens sei neben seiner, als hätte er nicht empfunden, daß seine Neigung stärker sei als ihre. Aber selbst das war ihm nur ein Anreiz mehr; es schien ihm hold, sie an sich heranzubilden, bis sie 26 ihm ebenbürtig in jedem Betrachte zur Seite stünde; die halbkindliche Zuneigung, von der sie ihm so manchen, er glaubte unbewußten Beweis gegeben, zu entfachen zu rechter Liebe an der Glut der seinen. Es war vielleicht die Frühlingsluft, die so herb und dennoch lind über die Wiesen strich, geschwängert vom Dufte feuchten Grases, die ihn also aufrührte und dennoch so laß im Denken machte; aber wenn er neben der Lise saß, ihre Hand in seiner, dann schien ihm sein Leben zwecklos, zöge er so einsam von dannen, wie er gekommen. Und war das nicht auch das beste Mittel, ihrer Not, die ihm täglich mehr ins Herz schnitt, ein Ende zu machen? Eine Aussprache, eine offene Erklärung suchte er darum doch nicht. Mit der schien es ihm nicht zu eilen; ein Freier, den man leichten Herzens abwies, war Heinrich Grenzer nicht, und es gefiel ihm gar wohl, wie es nun einmal war, es freute ihn zu sehen, wie sich eine knospende, herzlichere Neigung betätigte, während das Mädchen nie jener Achtung vergaß, die er beanspruchen durfte. Einmal war er der Entscheidung allerdings ziemlich nahe: sie hatten gescherzt und gelacht und sahen nun selbander in die fallenden Schatten hinaus. Und da, mit dem ersten Stern, der aus dem Dämmern aufstieg, fragte er sie plötzlich und unvermittelt, ob sie mit ihm fortmöchte, für immer fort aus der Heimat. Sie nahm es fast wie einen Scherz, sah ihn scheu und dennoch schalkhaft an: „Du, dann müßten sie aber gnädige Frau zu mir sagen, wie zu der Frau Zuckerfabrikdirektor?" wurde dann plötzlich rot und verwirrt und schlug die Augen nieder: schon wollte sie Heinrich an sich ziehen, als plötzlich der Thomas erschien. Da riß sich das Mädchen los und sprang behende ins Haus; Thomas ihr nach, und sein häßliches, blutleeres Gesicht sah noch fahler aus, als gewöhnlich. Zum erstenmal kam Heinrich der Gedanke, es könne zwischen den beiden vielleicht doch ein Verhältnis bestehen, enger als 27 bloß verwandtschaftliche Bande bedingten. Aber das schien ihm wiederum nicht gut möglich, und wenn - den Nebenbuhler scheute er nicht! „Einmal hat' s mir der Thomas abgewonnen, weil er schwach ist", sprach er vor sich hin, „kommt er mir diesmal ins Gäu[1], dann könnten wir quitt werden." Zu Hause - er hatte einen weiten Umweg gemacht - fand er die Mutter arg verstört. Thomas war früher heimgekommen, unsicheren Ganges, und hatte mit der Bäuerin eine lange Unterredung gehabt. „Er muß fort, fort, fort", hatte er dabei so laut, mit der Faust auf den Tisch schlagend, geschrieen, daß man 's im Flur hören konnte, „fort, oder es gibt was. Du hast ihn hergebracht, du mußt ihn wieder fortschik-ken. Es ist kein Platz für uns zwei." Heinrich beachtete an jenem Tage nichts, nicht einmal die rotgeweinten Augen Frau Katharinens. Er war mit sich und seinem Entschlüsse im Reinen, und das beschäftigte ihn viel zu sehr, als daß er auf anderes hätte achten können. Die Bäuerin aber kämpfte sichtlich mit sich. Einmal begann sie schon: „Du Heinrich ..." Da er sie aber ansah, schwieg sie alsbald. Nur als er schlafen ging, fiel sie ihm aufschluchzend und ganz unerwartet um den Hals. Er streichelte liebevoll und zerstreut ihre Wangen: „Was hast du denn, Mutter? Du wirst mir ja nervös wie die Weiber in Wien." Es ist ein eigen Ding um ein Mutterherz. Die arme Frau konnte davon erzählen, wie bittere Leiden es mit sich bringt, mit seinem Empfinden zwischen zwei Kinder gestellt zu sein, immer uneins, immer gleich zwei wilden Füllen gewaltsam an getrennten Strängen zerrend; immer den Mittler spielen zu müssen, wo es keine Vermittlung gibt, keine andere Lösung, als daß einer dem anderen weiche. Immer hatte bislang der Bessere den schlechteren Teil gezogen; sie wußte, daß es auch diesmal nicht anders werden könne, mußte sogar selber dahin arbeiten, so sehr sich ihre tiefste Seele dagegen sträubte. Sie war müde und ängstlich darüber 28 geworden und mußte sich dennoch sagen, daß ihr der schwerste Kampf eigentlich noch bevorstünde. Aber - sie wollte ihn doch hinausschieben, solange es irgend ging. Das konnte ihr doch gewiß niemand verargen. Auch lebte noch eine letzte Hoffnung in ihr. Vielleicht hatte den Thomas seine Eifersucht verblendet, vielleicht dachte Heinrich gar nicht an die Lise. Das dumme Mädel! War es denn die gar wert, daß man so viel Herzeleid ertragen mußte um ihretwillen? Sie zürnte ihr, zürnte, so groß war der Einfluß des Thomas, die Furcht vor ihm in ihr geworden, selbst dem Älteren und brach dennoch immer wieder in ihren Klageruf aus, so oft sie sich unbeachtet wußte: „Ja, der Thomas, der Thomas!" Auch im hinteren Geheg, wo die Tante Marie wohnte, ging es derweilen verstört genug zu. Die Lise lachte nicht. Eine Entscheidung, vor der ihr bangte, empfand sie nahe. Von Kind auf wußte sie sich dem Thomas bestimmt, und es war Glück genug, Großbäuerin zu werden, daß man über manche Mängel des Bewerbers hinwegsehen durfte. Nun nahte ihr ein anderer, Begehrenswerterer, der ihr unbedingt besser gefiel, dem sie's auch offen genug gezeigt hatte, der ihr aber doch fremder war, wenn über die Fehler des älteren Freiers Gewöhnung ihren mildernden Schleier gebreitet hatte. Es war kein Zweifel, Heinrich war ihr wert; Thomas aber sicher. Auch fiel ihr plötzlich bei, wie alt, wie klug der Heinrich eigentlich wäre, wie wenig sie für ihn passe. Sie machte sich Vorwürfe und glaubte doch keine zu verdienen: das mindeste übellaunige Wort der Mutter zwang ihr Tränen ab, und sie hieß sich dann unglücklich und bedauernswert. Sie ersehnte den Sonntag, der - sie ahnte es - Lösung aller Wirrnisse bringen mußte, denn es war der letzte, ehe Heinrichs Urlaub ablief, und zagte dennoch davor. Nach einer Reihe von Regentagen brach der Sonntag schöner an, als man hätte erwarten dürfen. Noch im letzten 29 Augenblick wollte die Lise gar nicht mit in die Kirche gehen. Ihre Mutter war schon bereit, einsam die Wanderung anzutreten; da sprach das Mädchen: „Just!" und putzte sich heraus, so gut sie's konnte. Und um den Hals tat sie ein Granatenkreuzchen, das sie vom Thomas hatte und das er gern an ihr sah; das Haar aber legte sie so, wie es dem Heinrich immer am besten gefallen hatte, und flocht ein blaues Band hinein. Mit trotziger Verzagtheit besorgte sie das alles und sah nun den Dingen entgegen, die da kommen sollten. Singen aber konnte sie jenes Tages vor innerer Erregung nicht in der Kirche. Und so kam es, daß Heinrich vergeblich nach der Stimme horchte, deren Klang er so liebte. Als der Gottesdienst zu Ende war, suchten beide Brüder in die Nähe des geliebten Mädchens zu kommen. Thomas war behender, schon das verdroß den anderen. Auf dem Platze vor der Kirche traf er die beiden an; mühselig suchte er nach einer Einleitung, aber die Gegenwart des Thomas beengte ihn, und so würgte er denn die Worte in sich hinein. Vom Unwichtigsten sprach er, während ihn, während alle doch die peinlichste Unruhe verzehrte. Endlich war der Raum vor der Kirche ziemlich leer: nur die beiden alten Frauen standen dem Kirchentore näher, anscheinend im lebendigsten Gespräche, wobei Frau Katharine doch in tiefster Angst auf jedes Wort lauschte, das vor ihr fiel. Da wandte sich die Kleine: „Mutter, wir werden gehen müssen." „Wart' noch ein bißchen, ich muß dir was sagen", rief Heinrich. Nur noch ein Gedanke war in ihm lebendig: daß er zu Ende kommen müsse. „Was denn?" Ihr Herz schlug, sie nestelte mit der Hand an dem Schnürchen, daran das kleine Geschmeide hing. „Daß ich dich lieb habe, Lise. Willst du mit mir, nach Wien, mein Weib?" „Das wird schier nicht gehn." Der Thomas stellte sich vor den Bruder hin; er war ganz bleich vor Erregung und zitterte. 30 „Wer hat mit dir geredet? Was geht's dich an?" „Es wird mich doch stark angehn, wen ein Mädel heiratet, wenn's mit mir versprochen ist!" „Mit dir versprochen? Davon habe ich nichts gehört. Sprich, Lise." „Wir sind noch nicht versprochen", gab das Mädchen leise zurück. Da überkam den Thomas Angst und Wut. Er vergaß alles: die Furcht vor dem starken Bruder, seine Schwäche. „Und wenn wir's noch nicht sind, du weißt, daß es die Mutter so will, Lise. Und du wirst dich nicht wegwerfen an einen, den der Vater hat aus dem Haus schmeißen müssen, weil er ein Tunichtgut ist und keiner Schürze Ruh hat lassen wollen. Und wenn du schon willst, ich leid's nicht, und die Tante darf s nicht leiden." Heinrich wurde aschfahl. Und mit merkwürdiger Ruhe – sie wirkte ganz unheimlich – begann er: „Also aus dem Hause hat mich der Vater geschmissen? Weil ich keiner Schürze hab' Ruhe geben wollen? Ich weiß eine andere Geschichte, und du kannst sie hören!" „Ich mag nicht. Komm, Lise!" rief Thomas ängstlich. „Du mußt!" Eine eherne Faust umschloß das Handgelenk des anderen mit unbarmherzigem Griff. „Also, es waren zwei Brüder. Der eine war schwach und krank, der andere gesund und stark. Erben hat nur einer können: sie waren Bauern, und den Grund hat man nicht teilen können. Und der andere hat einen offenen Kopf gehabt und gern gelernt. Und da ist die Mutter zu ihm gekommen in einer Nacht und hat ihn gebeten: ,Siehst du, du bist klug und wirst dir forthelfen. Aber der Thomas? Was soll's mit dem Thomas? Er taugt ja zu nichts! Nicht einmal Knecht kann er sein. Und soll er sein Lebtag herumliegen und das Gnadenbrot essen? Erbarm' dich, Heinrich!' Und da hab' ich mich geschunden, und du wirfst mir's vor, du Schuft!" Er ließ ihn fahren, er stieß ihn hart von sich, daß er taumelte. 31 „Du lügst." „Was?" Alle erzwungene Selbstbeherrschung verließ den Starken. Wie eine Dogge einen kleinen Kläffer in die Höhe hebt und zaust, so lüpfte er den Thomas und schüttelte ihn. „Was? Du Krüppel! Du Schuft! Ich lüg'?" „Heinrich!" Frau Katharina fiel ihm in den Arm. Seine Linke traf sie hart, daß sie zurückfuhr: „Laß!" Er war schon wieder Herr seiner selbst. Den Thomas ließ er fallen, daß er schütternd zu Boden schlug. „Ich hab' mich vergessen", sprach er dann dumpf. „Nun aber sprich, Lise, wen willst du? Sprich! Wer soll dich heimbegleiten heute?" Die Lise nestelte immer ängstlicher an ihrer Schnur. Die riß, das Granatkreuzehen fiel zur Erde. Geheime Neigung sprach für den Starken, Furcht vor der Mutter regte sich in ihrer Seele; tiefinneres Grauen erweckte in ihr der furchtbare Zornesausbruch, dessen Zeugin sie gewesen; echt weibliches Mitleiden regte sich in ihrer Brust für den so jammervoll am Boden Liegenden. Und mit zuckendem Munde flüsterte sie: „Mutter, ich denk', wir gehen. Wir finden schon allein, Mutter. Was?" Heinrich Grenzer war allein. Nur jenes Kleinod lag da; wie Blutströpfchen, versprengt und hell leuchtend, blinkten die Steinchen. Er bückte sich und hob es auf. Dann ging auch er. Er empfand die Notwendigkeit, einen weiten Weg zu machen, um jenen gewaltigen Zorn, der noch in ihm schrie, zu sänftigen, zur Ruhe zu bringen. So schritt er durch die jungen Ährenfelder, die Wiesen dahin; wenn er aber daran dachte, die Lise könne das Weib des Thomas werden, dessen feige Gemeinheit ihm gerade heute widerwärtiger denn je entgegengetreten war, dann quoll die alte Wut neu in ihm auf. Hier wich er nicht, hier gab er nicht nach. „Tausend alte Weiber mögen sich dawider stemmen", knirschte er. In solcher Gesinnung kam er heim. Finster durchmaß er den Hof, die Stuben, ohne zu grüßen, ohne aufzublicken, bis er in seine Stube kam. Ihre Tür warf er hinter sich zu, daß es 32 dröhnte. Dann begann er mit zitternden Händen sein Gepäck zu versorgen; unordentlich warf er die Sachen in seinen großen Reisekoffer. Daß er auch diese Nacht nicht mehr im Elternhause weilen konnte, war ihm klar. Im Wirtshause wollte er bleiben, dann mit dem Frühesten alles mit der Lise auf gleich bringen, dann fort für immer. Dabei aber überfiel ihn doch eine seltsame Müdigkeit. Seine Seele war seit dem Morgen von den heftigsten und stürmischsten Regungen durchzogen worden; gegessen hatte er seit dem Frühstück nichts - nun machten Körper und Geist, beide gleicher Art erschöpft, ihre Ansprüche geltend. So ließ er sich in dumpfer Ermattung nieder, ihm wurde recht wirr, und die tiefe Stille im Hause verstörte ihn beinah. Sie zwang ihn zur Einkehr in sich - und ein leises, fernes Gefühl der Scham meldete sich in seiner Brust, daß er sich vor der Kirche so weit hatte fortreißen lassen. Da klopfte es an der Tür. Er rief nicht „Herein!", er veränderte seine Stellung nicht, wie er so, die Hände auf den Tisch gestützt und den Kopf darauf gesenkt, dasaß. Er wußte, nur die Mutter konnte es sein. Und mit lauter Stimme, hart und tonlos, sprach er: „Es hilft dir nichts, Mutter. Ich gebe nicht nach." Frau Katharine erwiderte nichts. Nur vor dem Koffer kniete sie nieder. Die Sachen, die wirr genug darin lagen, packte sie aus und tat sie hinein, wie es sich gehörte. „Das gute Zeug! So damit umzugehn", seufzte sie dabei. Ihr Schweigen beklemmte ihn. Er fühlte ein starkes Bedürfnis, sich auszusprechen. „Und mir hast du nichts zu sagen, Mutter? Und du siehst doch, daß ich weggehe, und das für immer." Sie war fertig. Der Deckel des Koffers wollte nicht schließen, und sie setzte sich also darauf. „Wozu? Es hilft ja doch nichts, hast du gesagt. Ich lass' mich nicht zweimal wegstoßen." 33 „Hab' ich dir weh getan, Mutter?" „Da stößt er mich mit voller Kraft und fragt dann, ob's weh tut. Aber mir scheint, das trifft ein Bauernknecht auch. Dazu braucht man nicht Fabrikdirektor zu sein." Die Röte seines Unrechts färbte ihm die Stirn. „Verzeih, Mutter", bat er. Sie versperrte den Koffer, legte die Schlüssel vor ihm nieder und wendete sich der Tür zu. „Ich muß nach dem Thomas sehn." Eine heftige Besorgnis erfaßte ihn. „Dem Thomas? Was ist mit dem?" „Nichts; was soll sein? Der Zorn, der Schrecken, dann wie er hingefallen ist - er hat auch getrunken vor Schand'. Jetzt kann ich sehen, wie ich ihn wieder auf die Fuß' bring'." „Du hast viel Plage mit ihm, Mutter!" „Ja, die hab' ich, das weiß Gott. Und wenn ich verlang', man soll mir was davon abnehmen, dann heißt's gleich, ich bin ungerecht und parteiisch, und man vergißt Gott und das vierte Gebot. Aber ich bin's schon so gewöhnt." „Du tust mir groß Unrecht, Mutter, ich ..." Sie fiel ihm ins Wort: „Ja, und da wird man mir wieder vorhalten, was man schon alles getan hat. Das war auch schwer! Ein gesunder, kluger, starker Mensch, der was gelernt hat und der einem armen Krüppel nicht das Brot wegnimmt. Hast recht, Heinrich, du hast viel getan!" Er fuhr auf: „Die Heimat hab' ich fahren lassen, weil du's gewollt hast. Durch die Welt hab' ich mich geschlagen und hab' mir's gefallen lassen, daß man mich noch darum beschimpfte, weil du's für gut befunden hast. Und jetzt, weil ich einmal nicht will, weil ich das Mädchen nicht aufgebe, das ich gern hab', jetzt sprichst du so mit mir?" Sie trat auf ihn zu. Aus nächster Nähe und voll sahen ihn die guten blauen Augen an. „Hör' mich: ich hab' nicht anders können, Heinrich. Oder hätt' ich ihn auch dorthin legen 34 sollen, wo deine zwei Geschwister liegen? Der Mensch soll nicht Herrgott spielen wollen. Da hab' ich mich gefreut, daß meine zwei Buben gut daran sind; ist dir 's schlecht gegangen, dann hab' ich's mitgelitten und geholfen, was ich nur hab' können, und hab' immer gewußt, es muß anders werden. Endlich habe ich mir sagen gedurft: es ist, wie es sein soll. Der Starke, der hat sich selbst geholfen. Und alles war umsonst!" „Alles umsonst? Wie denn, Mutter?" „Wie fragst noch? Jetzt, hab' ich geglaubt, heiratet der Thomas die Lise, und er hat sie gern. Da wird er das Trinken lassen und wird gut; er geht ja so nur ins Wirtshaus, wenn ihn was kränkt. Da kommst du, und alles ist aus. Daß sie dich lieber nimmt" - ihr ganzer Stolz auf ihn brach durch -„das ist doch sicher. Aber er braucht sie gewiß mehr als du. Und du taugst gar nicht für sie, du bist viel zu gut und viel zu alt für sie. Das, hab' ich gemeint, wirst du doch einsehn. Aber nein, was dem Thomas gefällt, das mußt du haben. Jetzt kann ich auf meine alten Tage fort vom Hof." „Du? Ich versteh' nicht, Mutter. Und wenn, dann kommst du zu uns." „Ich taug' nicht in die Stadt, das weißt so. Hier hab' ich sterben wollen, weil ich hier zu Haus bin.l)as geht jetzt nimmer. Ich kann's nicht ansehn, wie der Hof verkommt, weil der Bauer ein Trinker wird. Und glaubst du, der Thomas bleibt ledig? Der bleibt 's nicht. Aber was kann er für eine kriegen, wie er schon ist? Eine schlechte höchstens, und mit der bleib ich nicht zusammen. Eine, die ihn noch verhetzt, die ihn rein ums Geld nimmt und es vertut, die ihn peinigt. Und er bleibt ihr gewiß nichts schuldig. Dabei kann ich nicht zuschauen. Eine brave hätt' er bekommen: die Lise. Die läßt sich nicht weh tun, weil sie keinen lieb genug hat dazu; der tut er nichts an, weil er sie zu lieb hat. Und so recht martern kann einen doch nur eines, das man so recht gern hat. Ich merk' s heute." 35 „Mutter, und ich? Soll ich so einsam bleiben? Bin ich nichts?" „Du, kriegst tausend - bessere, schönere. Wer weiß, ob sie dir in der Stadt noch gefällt, wie sie dir hier gefallen hat? Wer weiß, ob du nicht ins Elend kommst und hast deinen Bruder hineingebracht? Du? Du hast deine Arbeit, hast die Stadt, gehst fort, kannst vergessen, wirst's. Aber er? Ich? Heinrich! Ich bitt' dich!" Und alle Selbstbeherrschung vergessend, stürzte sie vor ihm nieder und hob bitter schluchzend beide Hände im Jammer zu ihm auf. Was hart in ihm gewesen war, es schmolz bei diesem Anblick. Seine Mutter kniete vor ihm! Er hob sie auf, die noch immer weinte. Auch seine Brust arbeitete stark; widerstrebendste Empfindungen rangen darin. Die Frau ward ihrer Erregung zuerst Meisterin. Sie trocknete ihre Augen. Das Haupt ihres Lieblings lag auf der Tischplatte, daß kein Auge Zeuge der Kämpfe würde, die seine Züge verzerrten; mit milden Händen fuhr sie ihm durch das braune Haar. Jetzt erst fiel ihr auf, was sie früher nie bemerkt hatte. „So grau, Heinrich, so grau!" klagte sie leise. „Das ist nun einmal so", kam es dumpf zurück. Dann erhob er sich. „Du sollst recht haben", sprach er. „Aber du stehst mir gut für die Lise - hörst du! Und du wirst begreifen, daß ich nicht mehr hier weilen kann, nicht einen Augenblick mehr. Mit seinem Wagen kann ich nicht fahren, sein Knecht soll mir nichts tragen. Schick' mir um den Janko. Der hat mir zuerst gesagt, was es ist um mich und den anderen. Du hast mir arg weh getan, Mutter!" „Heinrich!" Ihre Tränen flössen wieder ungestüm. Er ließ sie sich ausweinen an seiner Brust. Im Abenddämmern verließ Heinrich Grenzer den Ort. Er schritt mühsam und schwerfällig. Hinter ihm stapfte der Janko, und es war eine große Stille um die beiden. Nur eine 36 letzte Lerche fiel ein und barg sich im jungen Getreide, nur das Wehen des Windes zog. Der Janko wußte nicht, wie ihm ward; aber wie er den gebeugten Mann vor sich hinwandeln sah, da kamen ihm die Worte eines alten Liedes in den Sinn, und er sang sie vor sich hin in die junge Kühle: Ich hab' kein Haus, ich hab' kein Nest, Ich hab' kein Hochzeit und kein Fest; Ich hab' nicht Hof, ich hab' nicht Feld, Ich hab' kein' Heimat auf der Welt; Am Himmel selbst der Hagelstrich, Den fürchten sie nicht so wie mich. Mir geht's nicht gut, mir geht's nicht schlecht - Und so, gerade so ist's recht... Getragen zogen die Töne in das Dämmern. Da brach Heinrich Grenzer am Wegerain nieder. Die Rechte umkrampfte das Kreuzlein der Lise, daß es zerbrach; dann schlug er beide Hände vors Gesicht und schluchzte heimlich. Zur selben Stunde aber trat der Thomas zur Frau Katharine. „Ist er fort, Mutter?" „Ja, Thomas." „Du mußt morgen zur Tante Marie gehen, Mutter, und alles auf gleich bringen." „Muß es morgen sein? Möchtest nicht warten, Thomas?" „Es geht nicht länger. Sonst kommt wieder so ein Lump und will sie mir wegschnappen. Es muß sein, ich ertrag 's sonst nicht." Dem Schwachen gegenüber war sie schwach, die so hart gegen den Starken gewesen. „Ich werde 'nübergehen. Sei ruhig, Thomas, ich bring 's auf gleich." 37 aus: Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Deutsche Erzählungen aus Mähren / Marie von Ebner-Eschenbach u. a. Hrsg.: Harald Salfellner. - Prag : Vitalis, 1999 (Bibliotheca Bohemica) ISBN 80-7253-004-6 © 1999 Vitalis, Prag ISBN 80-7253-004-6 Inhaltsverzeichnis Zum Geleit ........................................................9 Jakob Julius David Die Schwachen ..................................................15 Marie von Ebner-Eschenbach Maslans Frau ....................................................39 Hermann Ungar Ein Mann und eine Magd ......................................81 Ferdinand von Saar Die Troglodytin ................................................125 Charles Sealsfield Skizzen von Fürstenhöfen des Kontinents (Auszug) ......................................167 Zu den Autoren ................................................173 ________________________________ [1] (österr. veraltet) abgegrenztes Gebiet, für das jmd. in einer bestimmten Funktion zuständig ist: *jmdm. ins G. kommen (österr., schweiz.; Gehege 1).