Umschlagfoto: Andrej Reiser ^4?'kr /^us u,^t^c/ ^ ^ ifii,^i G;^' t/ M--/ ^^'^ "f'C-v^ ^^^" l-t,^-4/ / iiJ<-f 1 i/^' •..- X ^K-C^-ti^ suhrkamptaschenbuclii58j ErsteAuflagei988 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1586 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Aile Rechte vorbehaiten, insbesondere das des offenthchen Vortrags, der ijbertragung durchRundfunkundFernsehen some der Ubersetzung, auch einzelner Teile Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Pnnted in Germany UmscUagnachEntwurfenvon Willy Fleckhausund Rolf Staudt ' 2 3 4 5 6 - 93 92 91 50 85 88 Laokoon oder Uber die Grenzen der Sprache Dcr Voigang dcs Schreibens und Lesens, des Sprechens und Vcrsu'bciis, stclli an beide Teile dieses Zusammenwirkens Anloidc'i ungcn, dcrcn Schwierigkeitsgrad in dem grofien allgemeiiicM loncn das uns umgibt, schon kaum mehr bemerkt wird. Ubcrall bcwcgen sich Miinder, stofien Worter aus, iiberall ll.iin-ni Ohren und fangen die Worter auf, als ware dies die li'icbu'sic Sachc von der Welt. Worter, die wir vernommen liabcn, licgcn aufgespeichert in unserm Gedachtnis, und wenn SIC von draufien in uns hineingerufen werden, riihren sie unsre cigcncn Erfahrungen an. Schreibende fiigen ihre Schriftzeichen .lul I'apieren aneinander, bis sie glauben, dafi sie in der Folge VDii Silben, Wortern und Satzen einen Sinn ergeben, dann wcrfcn sic tlic Blatter hinaus, verlieren die Blatter aus der Sicht, iind liabcii ihrcn Inhalt schon vergessen, wahrend andere sich die Blatter aus der Luft holen, sie geduldig entziffern und vielleicht einen Sinn entdecken. Oft, wenn der Schreibende sich seiner Worter bedient, stellen sie sich im Flug der Gedanken ein und spiegeln seine Erwagungen. Doch manchmal, wenn er sich (larauf besinnt, was er eigentlich vorhat, woUen ihm die Worter ciuglciten, und er mufi sich jedes Wort einzeln heraufsuchen und crobcrn, urn es einzugliedern in seine Sprache. Die Sprache crschcinl ihni als ctwas Unmogliches, das nur aus Trotz gegen dicsc Unmoglichkeit entstehen kann. Unter jedem Wort, das er in seiner Schrift festzuhalten vermag, liegen die Anfangsgriinde dcs Wortes, es liegt ein Stammeln und Lallen in jedem Wort, uiul iicfer darunter noch sind unartikulierte Gerausche herauszuhorcn, ein Zungenschlagen, ein Lippenklappern, und in der Macliilosigkeit ist der Schrei und dann nur noch die Stille. Das Kind, das im dunklen Zimmer liegt, in einer Ausgesetztliclt, in der es keine Erklarungen und keine Verstandigung gibt, mufi sich mit grofier Anstrengung zur Handlung des Schreiens hcranarbeiten, es muK alien Mut aufbringen um die Stille zu durchbrechen und mit dem Schrei seine Gegenwart in der Dunkelheit darzustellen. Der Laut der eigenen Stimme im 209 Dunkeln ist arschreckend. Das Wagnis ist nur zu ertragen, wenn es die Hoffnung gibt, dal5 jamand mit der Stimme zu erreichen sei. Dar Schrei verstummt, wenn sich das Zimmer nicht offnet und erhallt. Doch tritt der Herbeigerufena ein, lafit sich dar Schrei langsam verwandeln zum Ansatz von Wortan. Und as beginnt dieser Prozefi, dar nie zu einam Ende fuhrt, dieses immer wieder erneute Varsuchen, sich selbst vor ainam andern zu zeigen, und sich vor diasam andern mit seinen Absichten bemerkbar zu machan. Das Kind, das lernt, dafi Worter sich auch schreiben lassen, dafi zu Schrift verwandelte Wortar nicht verfliegen und vergassen werden, sucht sich die erstan kennthchan Buchstaban zusammen, um damit sainan Naman abzubildan. Es kratzt den Naman mangalhaft in Schieferplatten, die es auf einam Hof findet, es mak dan Namen mit Kreide an die Hauserwande, und sagt stolz zu diesen Merkmalen: das bin ich. Es hinterlafit seine Spuran, und was Spuren hinterlafit, ist vorhanden. Die Entdeckung des Vorhandensains ist ein Ereignis. Die friihsten Bilder, die wir in uns tragen und die im Traum immer noch nachwirken, umreifien den Standort dieser AugenbHcke. Sie haben ihre Scharfe bewahrt. Sie zeigen iiberdeutlich die Sandkorner eines Weges, die tiafgriinen Blatter eines Busches, die Steinblocke und eisernen Ringe an einer Uferboschung, wo das BewuRtsein wachgerufen wurde, dafi das, was hiar geschah, mir selbst geschah. Da sind die Stimman im Haus, in dam das Kind labt, da sind die Stimmen auf der Strafie, und in dem grofien Gefiige dar Stadt, in das es immer tiafer eindringt. Da sind die Stimmen eines Chors, in dem es mitsprachen mufi, schon werden bestimmte Aussagan von ihm verlangt, es mufi Antwortan geben, deren Richtigkeit von andern iiberpriift wird, es mufi sich beeilen, das zu sagen, was verlangt wird, es ist nicht mehr Herr iiber die eigene Stimme, Worter warden ihm diktiert und mit Gewalt aus ihm herausgezogen, es wird verwirrt, es erkennt die eigene Stimma nicht wieder, es lernt, dahinzureden. Wenn es nicht teilnimmt an dem, was ringsum geschieht, sammelt sich in ihm jene Farblosigkeit, die den Schreibenden, Jahrzehnte spater, wenn er varsucht, seine Vergangenheit auf- J • < ; • zufinden, jah als Lahmung iibarkommt. Zeitraume seines Lebans sind verschwunden. In ihnen war nichts als ein triibes Warten. Die stummen und bildlosen Ablagerungen lassen ihn nur sein Altarn varspiiren. So wie er vor langar Zeit den Zugang zur eigenen Stimme verlor, so wird jetzt das Sprechen qualvoU, er kann keine Worte finden, mit denen sich das Fliefiende und Unbestimmte deckan iiefia. Damals gelang es ihm manchmal, sich in ein Gebiet einzuschleichen, das verandart werden und in dem er sich selbst verandern konnte. Dort antstanden, nach- dam Verharren in einer Eingeschlossanheit, in der alles gegeben war, und in der nichts verriickt werden durfte, plotzlich Bewegungen. Dieses Gebiet, das zumeist abgesondert lag, unter einem Tisch, in einem Keller, auf einem Dachboden odar in ainem Gartenschuppen, nahm in sich die Welt auf, die so wait war, wie seine Vorstellungen reichten. Es bestand hier aine absolute Herrschaft iiber die Welt, er richtete sich an die ganze Welt, und die ganze Welt horte ihm zu. Er befand sich gleichzeitig an alien Punkten dieser Welt. Alia Nationen, Erdteile und Zeitaltar waran zu einer einzigen Gegenwartigkeit zusammengeschmolzen. In solchen Stunden konnte es geschehen, dafi der Ruf seines Namens zu ihm eindrang. Der Schreibende spater weifi von dieser Sekunde. Es ist die Sekunde des Einbruchs, der Forderung. Sie versetzt ihn in aufierste Spannung und Erwartung. Die Welt kennt seinen Namen. Das ist ein Triumph. Aber es ist auch eine Drohung. Was will die Welt von ihm? Er antwortet mit seinem Verstummen. Er verhalt sich reglos. Er Uegt versteckt hinter schwertformigen Blattern, wahrend die Stimme naherkommt und nach ihm sucht. Nur selten ertont ein Ruf, dem er Folge leistet. Da springt ar auf, erklettert Mauern, lauft dutch Hofa, Torgange, ergreift bei jedem Schritt Besitz von dem, was vor ihm auftaucht. Spater, wenn das verloren ist, von dem er damals meinte, es gehore ihm, sieht er diese einzelnen korperhaften Stunden in der Vorwelt liegen, er weifi nicht mehr was gesprochen wurde, arinnart sich nur noch an die sprechenden Miinder, an die Laichtigkeit des Sprechens und Verstehns, an die Luft, die Geriiche, das eigene Atmen. I- In den offenen Stunden entstehen die Worte von selbst. Die Sprache, die er spricht, gibt seine Zusammengehorigkeit wieder mit den Dingen, die ihn umgeben. Seine Stimme reflektiert die Eigenheiten der Mundart, in der seit Generationen die Erscheinungen immer wieder abgetastet wurden. Selbst wenn er sich einschliefit mit der Sprache, kommt ihm nicht der Gedanke, dafi er plotzhch von der Sprache abgetrennt werden konnte, dafi die Sprache sich feindlich vor ihm erhebt und ihn ausstofit. Mit alien, die hier leben, liest er die Strafienschilder, die Texte iiber den Laden, die Insignien an den Bauwerken, die mit ihren Turmen, Saulen und Skulpturen die Geschichte der Stadt kennzeichnen. Die Biicher, die er hest, sind nie fur ihn allein geschrieben, die gedruckten Satze werden auch von andern aufgenommen, die gleichen Gedanken dringen in ihn wie in die andern ein. Er spricht mit den andern iiber das Gelesene, es wird erortert, wie das Gelesene verstanden wurde, Verschiedenheiten im Verstehen werden deutlich, die Anregungen aber bleiben gemeinsam. Ehe ihm die Sprache fragwiirdig wird, erreicht er den Grad der Geiibtheit, in dem er pausenlos die Beschreibungen riesiger Lebensabschnitte in sich verarbeitet und sich dabei mit seiner Vorstellungskraft in all diesen Raumlichkeiten, zwischen all diesen Figuren und Begebenheiten, bewegt. Es bereitet keine Schwierigkeit, Stellung dazu zu nehmen, seine Reaktionen auf das Vernornmene zu formulieren, denn dafi er sich aufiert, ist das Natiirliche, und indem andere ihm zuhoren, iiberpriift er sich selbst und revidiert, was er glaubt, verstanden zu haben. In dieser Situation des Zwiegesprachs, des Wohnens in einer Sprache, konnte er bleiben. Die Sprache streckt sich weithin. Sie hort hinter der Stadt nicht auf. Landschaftsteile folgen, in denen jedes Gewachs, jede Erdformation, in der Sprache enthalten ist. Es folgen andere Platze, andere Siedlungen und Stadte, in denen die Sprache sich mit besonderen Farbungen zusammenballt, und dahinter breitet sie sich wieder aus, bis zu den Markierungen, die jeden der Sprechenden in dem Gebilde zusammenhalten, das sie ihr eigenes Land nennen. Innerhalb dieses Umrisses werden grofie Plane geschmiedet. Auch diejenigen, gegen die diese Plane gerichtet sind, nehmen ^ daran teil. In dem unaufhorlichen Austausch von Worten, in dem sich alle in diesem Land Versammelten befinden, gehen einzelne Worte immer mehr zum Angriff und zur Verfolgung iiber, und die von diesen Worten Betroffenen versuchen, sich vor ihnen zu decken und sie durch Gegenstimmen unschadlich zu machen. Er, von dem hier die Rede ist, und dessen Gedanken von Anfang an mit dieser Sprache verbunden waren, gerat zu denen, die von der Sprache plotzlich als Fremdkorper bezeichnet werden. Wenn er sich auf sich selbst berufen will, werden seine Worte fiir ungiiltig erklart. Diejenigen, die er seine Freunde nannte, nehmen seine Worte nicht mehr auf. Auf der Strafie kann es ihm geschehn, dafi einer ihn mit einem willkiirlichen Wort benennt. Ein seiches Wort, das mit ihm nicht das geringste zu tun hat, urteilt ihn zu einem neuen Dasein ab. Er befindet sich noch in einer Stadt, in der er Teil der gemeinsamen Sprache ist. Er versteht, was er im Vorbeigehn aus Gesprachen auffangt. Rufe von Zeitungsverkaufern machen ihn unmittelbar aufmerksam auf die Vorgange, die ihn umfassen. Es gehort zu ihm, was in den Amtsstellen beschlossen und in Verordnungen verbreitet wird. Er ist drinnen in dem, was von den anwachsenden Menschenmassen zum gemeinsamen Gut erklart wird. Doch er kann nicht mehr Stellung dazu nehmen. Er ist als Sprecher nicht mehr intakt. Er ist nicht mehr der, von dem er friiher beim Sprechen ausging. Es niitzt ihm nichts, dafi er weifi, wer er einmal war. Fiir die andern ist er nur noch ein Ding. Ein Kohlkopf. Ein Stiick Schlacke. Die Sprache nimmt jetzt eine Gewalt an, die er sich selbst bei seinen gewagtesten abseitigen Beschworungen nicht hatte vorstellen konnen. Sie drohnt aus Lautsprechern. Sie macht sich mit fetten Buchstaben breit. Menschen drangen sich dicht zusammen und tragen ein einziges Wort iiber sich. Menschen stehen vor einer Stimme, und in alien Ohren vibrieren die Trommelfelle unter den gleichen Schwingungen, und tausendfach vervielfaltigt wird die Stimme von den Gehorknocheln in die Labyrinthe hineingeschlagen. Menschen marschieren und briillen zum Takt ihrer Schritte Worter, die ihre Verstandlichkeit verlieren. Jeder, der hier in der Sprache zu Hause ist, geriit in den 213 Kampf, der in dieser Sprache gefiihrt wird. Die Bedeutung der Worter verschiebt sich. Unsicherheit breitet sich aus. Neue Worter sind iiber Nacht da, alle sprechen sie nach, ohne sie zu begreifen, sie besitzen die Worter nicht langer, die Worter besitzen sie. Einmal lernte ein Kind, die Umwelt wiedererkennbar zu machen, indem jede Einzelheit sich messen und nennen liei?. Es lernte, sich von einem bezeichneten Gegenstand zum andern zu bewegen, und so entstand eine sinnvoile Orientierung. Jetzt aber verschwand das Nachpriifbare, und indem viele sich iiber sich selbst hinausstreckten, ohne etwas zu erlangen, verwechselten sie die Mafilosigkeit mit einer noch unbekannten Grofie. Andere standen da, von der Macht eines neuen Wortes iiberwaltigt, und wenn sie selber nicht faKten, was dieses auf sie losgelassene Wort besagen soUte, so wurden sie bald dariiber belehrt, denn wo immer auch einer ein solches Wort iibergestiilpt bekam, hingen daran schon die Rudel derer, mit denen er friiher die gleiche Sprache gesprochen hatte und die sich jetzt, besessen vom Zerfall des Gewohnten, zu den Fiirsprechern eines kiinftigen Idioms machten. Damals, als die Sprachwelt auseinanderbrach, bewahrten nur wenige die Besinnung. Diese wenigen sprachen miteinander und suchten nach etwas, das sie noch miteinander verband. Einigen Worten sprachen sie bleibenden Wert zu. Sie berieten sich untereinander, wie sie diese Werte, die in der gemeinsamen Sprache lagen, retten konnten. Dann aber wurden auch sie auseinandergerissen. Die einen wurden in die befestigten Reihen und Blocke der neuen Sprache hineingedrangt, die andern wurden der Sprache enteignet. Wenn sie etwas in ihrer Sprache niedergeschrieben hatten, wurde es eingestampft. Den wenigsten gelang es, zu fliehen. Sie verliefien den Raum, in dem jedes ihrer Worte einmal entstanden war, und gerieten in Gebiete, in denen sie Sprachlosigkeit iiberkam. Was der aus der Sprache Verbannte darstellte, \ie& sich einmal in jeder Einzelheit mit Worten bezeichnen. Er hatte eine Vergangenheit, jene Vergangenheit, von deren Wahrheit er sich friiher durch standige Konfrontationen iiberzeugen konnte. 214 5 I Doch diejenigen, die ihn wiedererkannten, die ihn bei seinem Namen genannt und ihm den Beweis seines Vorhandenseins geliefert hatten, waren fiir ihn nicht mehr da. Er konnte sie nicht mehr nach sich befragen. Er geriet in eine Freiheit, die grenzenlos war. Er konnte aus sich machen, was er woUte. Doch diese Freiheit war verwirrend. Nichts von dem, was er begonnen hatte, konnte fortgesetzt werden. Indem er von der Moglichkeit des Benennens aller Vorgange abgeschnitten war, war er auch von den Vorgangen selber abgeschnitten, denn wirkungsvoll wurde ein Vorgang nur, wenn er eine Verstandigung dariiber zuliefi. Er wurde zuriickversetzt in sein erstes verdunkeltes Zimmer. Er wiederholte die Situation des Kindes, das erst lernen mufi, fiir jede seiner Regungen einen Namen zu finden. Ausgewachsen und vorbereitet zum Austausch von Gedanken, mul?te er lallen und stammeln, und durch ein Fuchteln seiner Hande, ein Grimassieren seines Gesichts, seine Absichten verdeutlichen. Seine Zunge, die Bewegungen seiner Zahne und Lippen, bemiihten sich um das Nachformen der vernommenen Laute, und standig hatte er zu raten, mit welchen Gegenstanden diese Laute iibereinstimmen mochten. Manchmal rezitierte er fiir sich die Sprache, die er beherrschte, um sich zu beweisen, da& sie noch da war. Doch schon bei der Wiederholung eines Satzes verlor sich dessen Bedeutung. Die Sprache lag ebenso entfernt von ihm, wie das Land, aus dem sie stammte. Die Erinnerungen an Begegnungen und Beriihrungen, an Witterungen, Farben und Gerausche, die jedem Wort anhafteten, wurden iiberlagert vom Bewufitsein, dafi der Zugang dazu verloren war. Die Worter von dieser kompakten Feindlichkeit zu befreien, und nur sachliche Angaben iiber ein gesammeltes Wissen in ihnen zu sehen, vermochte er noch nicht. Die Worter des neuen Bereichs wuchsen vor ihm auf. Sie waren iiberdimensioniert, er turnte zwischen den Wortern umher, stolperte von einem zum andern, die Worter hatten scharfe Kanten an denen er sich stief5. In diesem Stadium befand er sich zwischen zwei Sprachen. Die eine Sprache gehorte zu seinem taglichen Leben. Sie ge- 215 horte zu den Handhabungen, die er erlernen mufite, um sich zu ernahren. Mit ihr liefien sich Stiick fiir Stiick die Positionen festigen, die er erreichen konnte als Tellerwascher, als Laufjunge oder Gehilfe in einem Warenlager. Zwischen den hier ansassigen Sprechern stellte er jemanden dar, der geduldet oder abgeschoben werden konnte, je nach der augenbUckUchen Laune. Indem nichts Kenntliches hinter ihm war, und nichts Kenntliches vor ihm, war er ein Nichts. Man zeigte keine Uberraschung dariiber, dafi er noch da war, doch ebenso wenig hatte es Uberraschung hervorgerufen, ware er plotzUch ver- schwunden. Die andere Sprache gehorte der Nacht an. Wenn er einige Stunden allein verbracht hatte und die Laute, die ihn tagsiiber umgeben batten, zuriickgesunken waren, konnten aus der alten Sprache Wortfolgen aufsteigen, zu denen oft noch der Klang bestimmter Stimmen gehorte. Er vernahm Rufe, Fragen, Gesprachsfetzen. Er sah die Sprecher vor sich, Famihenangehorige, Freunde, Vorbeigehende auf der Strafie. Die Worter trieben platschernd umher, schaukelten, gingen unter, andere schwammen auf, manche stachen und brannten, oder rissen ihn iri einen Wirbel. Er saK mit Papier und Schreibstift, um einige von ihnen festzuhalten, er bemiihte sich, die Leere, die ihn umgab, mit Wortern zu iiberspannen, er hielt das Papier iiber die Leere, er dichtete ein kleines Stiick der Leere mit engen Reihen von Buchstaben ab, doch die Leere drang wieder durch, iiberflutete die Buchstaben, loschte sie aus. Sie waren nicht geschrieben, um gelesen zu werden. Es war niemand da, an den er sich mit ihnen wenden konnte. Dann geriet er in die Regionen, in denen die Worter zu Chiffren wurden, zu Rebuszeichen, in denen sie sich zuriickverwandelten in die Bilder, aus denen sie einmal hervorgegangen waren. Am Anfang waren die Bilder. Im Traum waren die Gegenstande und Ereignisse, die sich in ihm regten, losgelost von der Tatigkeit des Benennens. Dies war ein Bereich, in denen die Miihen der Verstandigung vergangen waren, der Traumende hatte sich aus alien auKeren Sprachgebieten entfernt und ging nur noch mit sich selbst um. Er sah vor sich, was er zu sagen nicht mehr imstande war. Figuren waren da, Raume 216 waren da, Begegnungen waren da. Alles entstand ohne sein Zutun. In der volligen Abgeschlossenheit war eine Welt, die nur ihm gehorte und die niemandem mitgeteilt zu werden brauchte. Nur wenn er sich dem Erwachen naherte und wieder an die Schichten stiefi, in denen sich aus Bildern Worte anbahnten, mischten sich Stimmen in die Traume ein. Da war ein Gebrodel, ein Suchen nach Artikulierungen, mit denen der Aufwachende wieder eines Platzes in der Aufienwelt habhaft werden wollte. Was er da horte, ehe er noch die Augen offnete, war ein Gemisch von Sprachen, Worte der gegenwartigen Sprache wechselten sich mit Worten der vergangenen Sprache ab, oder die beiden Sprachen fiigten sich zu einem Wort zusammen, oder es entstanden aus Anhaufungen von Buchstaben Worte, die kein Schliissel offnen konnte. In diesem Zustand lag es nah, da& er sich nur noch an die Bilder hielt. Er projizierte die inneren Bilder auf Tafeln, und diese Tafeln brachen nicht, wie die Blatter mit Wortzeichen, vor der Leere auseinander, sie hielten, sie spiegelten sein Vorhan- densein. Was er in den Bildern von sich mitteilte, lag in einer andern Dimension als das Geschriebene. Wenn die Bestandteile eines Biides auch aus den verschiedensten Erlebnissen hervorgeholt werden, so fiigen sie sich am Ende doch zu einem einzigen Augenblick zusammen. Wie reich auch immer der Inhalt eines Biides ist, er umfafit doch nie mehr als eine einmaUge Situation. Das Auge folgt den Einzelheiten auf der Flache, und alle Einzelheiten ergeben in Gleichzeitigkeit das Bild. Das Sprechen, Schreiben und Lesen bewegt sich in der Zeit. Satz stoKt auf Gegensatz, Frage auf Antwort. Antwort auf neue Frage. Behauptetes wird widerrufen, Widerrufenes wird neuen Bewertungen unterzogen. Der Schreibende und Lesende befinden sich in Bewegung, sind standig offen fiir Veranderungen. Auch eine Bildflache konnte Perspektiven nach zahlreichen Richtungen hin aufweisen. Die gemalten Formen konnten sich aus Widerspriichen zusammensetzen. Zu sehen war aber immer nur die Schlufiwirkung des Dramas. Manchmal erschien ihm dies als eine Starke. Herausgerissen aus seiner alten Sprache, 217 H noch nicht heimisch in einer neuen, konnte er alles, was er nicht auszusprechen vermochte, im Bild zu einem verstandHchen Ergebnis zusammendrangen. Laokoon und seine Sohne, von Schlangen umwunden, verharren in den Dehnungen und Krummungen ihres Gefangenseins. Unaufhorhch bleibt Laokoons Bauch eingezogen, unaufhorlich sind seine Muskeln gespannt, in der Erwartung des todlichen Bisses. Der Kopf der Schlange stofit sich in seine hnke Hiifte, wahrend er mit dem hochgestreckten rechten Arm, dessen Adern vorquellen, ihren Leib von sich abstemmt. Sein Mund, und der Mund des jiingsten Sohns, ist halb geoffnet, nicht in einem Schrei, sondern in der letzten Anstrengung vor dem Ermatten. Sie haben ihre Stimmen aufgegeben. Nur der alteste Sohn zeigt in seinen Gesten an, dal5 er des Sprechens, des Sichmitteilens noch fahig ist. "Wahrend Laokoon und sein jiingerer Sohn volhg in ihrem Untergehen eingeschlossen sind und sich niemandem mehr bemerkbar machen konnen, weist der altere Sohn noch auf das Geschehnis hin. Er kann es iiberbUkken. Sein Gesichtsausdruck zeigt Ekel und Furcht. Mit seiner nach auKen gewandten Haltung gibt er seine Absicht kund, der Umschniirung zu entfliehen. Listig rechnet er noch mit der Moghchkeit, verschont zu bleiben. In diesem Bildwerk ist der Zwiespalt ausgedriickt zwischen dem Verstummten, Statischen, und dem, das sich der Aufienwelt zuwendet und dutch Bewegung deren Aufmerksamkeit herbeiruft. Laokoon und sein jiingster Sohn setzen keinen Beschauer mehr voraus. Sie bilden nur noch ein Monument iiber ihren eigenen Untergang. Nie mehr geben sie einen Laut von sich. Der ahere Sohn aber gehort noch einer belebten Welt an, er bricht sich aus dem Statuarischen heraus, um denen, die ihm vielleicht zur Hilfe kommen, Bericht zu erstatten. Fur ihn, dem es die Stimme verschlagen hatte, bestand zeitweise nur die Erstarrung. Die Bilder, die vor ihm auftauchten, waren reglos und spiegelten seine Ohnmacht. Er war an seine Vergangenheit gebunden und vermochte nicht, sich mit den Wortern einer Sprache von ihr zu befreien. • •! Er lag auf seinem Bett und brachte kaum die Kraft auf, die Hand nach Block und Stift auszustrecken, um etwas von den Erscheinungen festzuhalten. Der Untergang, in dem er sich befand, war totaler, als es friihere Katastrophen gewesen waren, die einem Beobachter noch einen FulSbreit Boden gonnten, von dem aus sich die Ereignisse betrachten und besingen lielJen. Zwar war der Leib des Liegenden noch nicht zerschlagen und ausgeblutet, die Wande um ihn waren noch nicht niedergebrannt, doch war er, wie alle andern auch, der Gewalt ausgeliefert, die sich iiber alles Lebende hermachte. Erst jetzt, Jahre nach seinem Austritt aus der natiirlichen Sprache, erkannte er die Reichweite des Bruchs. Der Gedanke, dafi es einmal moglich sein konnte, zu denen zuriickzukehren, die die Sprache noch besafien und mit dieser Sprache trieben, was ihnen beliebte, war noch nicht da. Er mufite lernen, sich in der neuen Sprache anzusiedeln, oder er mufite in der Sprachlosigkeit untergehn. Wenn einer versucht, in dieser Situation, in der die Geschehnisse sich von keinem Bild von keinem Wort mehr decken lassen wollen, festzuhalten an der Konvention einer Mitteilung dutch Bilder oder Worte, so tut er das im Bewufitseiii, da(5 die Verwendung dieser kaum mehr tauglichen Mittel besser ist als das Schweigen und die Fassungslosigkeit. Es gehort Vermessenheit dazu, jetzt noch ein Bild herzustellen. Selbst wenn das Bild nichts andres zeigt als einen Schrecken vorm Zerfall, so kann es doch immer noch diesen Schrecken zeigen, und indem es ihn in der Bestandigkeit eines Bildes zeigt, spiegelt es eine heile Welt vor. Wer in seiner Unsicherheit Bilder entstehen lafit, umringt sich noch mit Gegenstanden, mit grundierten Flachen, mit angeriihrten Farben, Flaschen voUer Bindemittel, mit Tusche, Kohle, Kreide, Pinseln, mit dem Geruch von Olen, Harzen, Klebstoffen, er fiihrt ein Handwerk aus, er verwandelt seine Unsicherheit zu etwas Greifbarem. Das Bild liegt tiefer als die Worte. Wenn er nachdenkt iiber die Einzelheiten des Bildes, verlieren sie sich schon. Er mulj bedingunglos an den Wert eines Bildes glauben. Je besessener er 219 vom Bild ist, je weniger er sich um die Anlasse des Bildes kiimmert, desto iiberzeugender wird die erreichte Wirkung. Worte enthalten immer Fragen. Worte bezweifeln die Bilder. Worte umkreisen die Bestandteile von Bildern und zerlegen sie. Bilder begniigen sich mit Schmerz. Worte woUen vom Ursprung des Schmerzes wissen. Wenn ihm die Geduld schwindet, Strich fiir Strich, Farbton nach Farbton die Bruchstucke von Visionen zu einem Bild zusammenzutragen, und er das Suchen selbst Schritt fiir Schritt aufzeichnen will, nimmt er sich wieder eine Sprache vor, und vielleicht ist as ihm dann gleich, welche Sprache das ist, denn jede Sprache, ob bekannt oder unbekannt, mufi jetzt miihsam erbaut werden, in einer Erwagung jedes einzelnen Wortes. Indem der Stoff, an den er gelangen wollte, sich ihm immer wieder entzog und es nur moglich war, mit einer Sprache entfernt daran zu erinnern, fand der Schreibende eine Ubereinstimmung zwischen dem Stoff und einer noch unbeherrschten Sprache. Als er begann, in dieser Sprache zu schreiben, und ihm das Auffinden jedes Wortes eine Entdeckung war und die Festigung eines einzigen Satzes ein Landgewinn, vermittelte sich ihm die Vorstellung, dafi das Fremdartige und Diffuse benannt werden konnte, und dadurch stellte sich der Beginn einer Zuversicht her. Aufierhalb einer Sprache zu sein, bedeutet Sterben. Wenn er jetzt mit neuen Wortern einen Vorgang beschrieb, so war dies die Wiedererweckung einer schon aufgegebenen Welt. Die Worter waren Formeln in einem Ubereinkommen, an dem er teilnahm. Es verband ihn nichts mit diesen Wortern als der Wunsch, sie als topographische Werkzeuge zu benutzen. Die Worter hatten fiir ihn keine Geschichte. Die Worter waren mit keinen Empfindungen beladen. Sie waren nur Wegzeichen. Es konnten Lagebestimmungen mit ihnen vorgenommen werden. Er befand sich mit ihnen in einer aufierst kargen ausgebrannten Gegend. Er war Laokoons altester Sohn. Zwar war ihm noch Aufschub gegeben, doch war er ebenso fest wie die Seinen mit dem Geschehnis verknotet. Er sah, was neben ihm geschah und was auch ihn gleich ereilen konnte. Doch in der Zeitspanne die ihm noch zur Verfiigung stand, untersuchte er jede Moglichkeit, die fipesselung zu lockern. Der Augenblick, in dem sich seine gesamte Aufmerksamkeit darauf richtete, das Aussichtslose zu durchbrechen, dauerte an. Von manchen wurde gesagt, dafi dieser Augenblick ein Leben lang wahren kann. Und es wurde wiederholt, dafi sich in diesem Augenblick nichts mehr sagen lief?, dafi alle Worte gleich in welcher Sprache, ihren Sinn verloren hatten. : Doch was im Grenzgebiet der Denkfahigkeit liegt und sich dort auflost, ist immer noch Bestandteil unsres Lebens. Auch das, was wir nicht erkennen konnen, gehort, da wir es noch spiiren, zu uns. Wir mogen den Halt an Worten verlieren, die letzten > Andeutungen von Bildern mogen verschwinden, doch die Vorgange, die uns nach Worten suchen machen, die Bilder in uns hervorrufen woUen, sind immer in unsrer Welt enthalten. Wir befinden uns noch zwischen ihnen, so lange wir atmen, stammelnd, lallend, gestikulierend, schreiend, stohnend, verstummend, dann wieder die Lippen bewegend, radebrechend in alien Zungen. Mit der Pulvrisierung von Korpern und Wohnstatten waren auch die Werte, die damit verbunden waren, pulvrisiert worden. Angesichts der Felder von Verwesung wurde jedes lebendige Vorhandensein fragwiirdig. Ein Weiterleben schien nur denkbar, wenn jetzt grundlegend neue Formen der Verstandigung und des Zusammenlebens entstehen wurden. Und dann zeigte sich eben dies, da& es kein Vorstofien iiber die gegebenen Dimensionen hinaus gab, und dafi auch das Ungeheuerliche etwas Gewohntes war, daK es nur ein Fortsetzen gab von Betatigungen, die von Lebenden ersonnen und angebahnt worden waren. Demnach mufite alles verstandlich sein. Demnach muCte auch der, der vor denen stand, die eben noch nach seinem Leben trachteten und jetzt dazu getrieben worden waren, davon abzulassen, wieder zu ihnen sprechen konnen. Dal5 sie ihn ausgestolSen hatten aus ihrer Sprache, konnte unter neuen Bedingungen revidiert werden. Die Worter, mit denen sie ihn und andere dem Untergang anbefohlen hatten, waren entkraftet. Sie stellten nur noch ein Material zu historischen Untersuchungen dar. gesprochen hatte, dann sah er in dieser Sprache nur noch ein Werkzeug zwischen andern Werkzeugen. Die Wurzeln der Worter waren verwittert, die Worter standen losgelost von ihrem Ursprung, oft nur als leere Gehause, denen er erst einen Inhalt geben mufite. So wie er sich von dieser Sprache entfernt hatte, hatte er sich von sich selbst entfernt. So wie er seiner selbst nicht sicher war, war er auch der ahen Sprache nicht mehr sicher. Gleichzeitig mit dem Versuch, sich wiederzuentdecken und neu zu bewerten, mufSte auch diese Sprache wieder neu errichtet werden. Nur hin und wieder, beim Aufwachen nachts, konnte sich die Sprache auf eine wait entfernte Ebene entziehen, und er selbst war wieder in den Regionen, in denen sich trotz auRerster Anstrengung nicht der Ansatz zu Denkvorgangen herstellen wolhe. Und wenn er dann die Worter wiedergewann, waren sie diirr und trocken, und hinter jedem Wort hing die Gefahr des Verstummens. Doch immerhin konnte er jetzt sagen, dafi dies seine Sprache war. Die Sprache gehorte ihm, mit alien Unzulanglichkeiten, mit ihrer Tendenz zur Selbstauflosung und mit ihrer plotzlich auftretenden Klanglosigkeit. Im Vergleich mit der Leere, durch die er gegangen war, war dies schon viel. So kommt der Schreibende auf einem Umweg iiber den Zerfall und die Machtlosigkeit zum Schreiben, und jedes Wort, mit dem er eine Wahrheit gewinnt, ist aus Zweifeln und Widerspriichen hervorgegangen. Einmal wurde er aus alien Bindungen herausgerissen und in eine Freiheit versetzt, in der er sich selbst aus der Sicht verlor. Aber die Moglichkeit entsteht, dafi er mit der Sprache, die ihm zur Arbeit dient und die nirgendwo mehr einen festen Wohnsitz hat, iiberall in dieser Freiheit zu Hause sei.