332 V. Gelebte Vielfalt 333 Richard Engl J-J._1_b-----J- 1 Darstellung des feierlichen Einzugs Heinrichs VI. in Palermo, Ausschnitt aus dem Liber ad honorem Augusti des Petrus von Eboli, zwischen 1194 und 1197 Bern Burgerbibliothek, Cod. 120.11, fol. 134r ' ' Safran, Schach und Sondersteuern. Arabisch-muslimische Lebensformen im Königreich Sizilien Orientalische Prachtentfaltung empfing den Stauferkaiser Heinrich VI., als er 1194 triumphal in die Hauptstadt des Königreichs Sizilien einzog (Abb. 1).' Vor ihm, dessen Vorgänger generationenlang vergeblich die Hand nach dem Südreich ausgestreckt hatten, neigten sich die Bewohner Palermos zu Boden; Weihrauchduft lag in der Luft, Muslime bliesen Posaunen und Eunuchen übergaben arabische Verwaltungsbücher und den Staatsschatz.2 Heinrich, dem das Königreich nach seiner Heirat mit der Normannenprinzessin Konstanze zugefallen war, muss das unbekannte Land zugleich wunderbar und verwirrend erschienen sein.3 Immerhin befand es sich an der Grenze zwischen Orient und Okzident, zwischen lateinisch-christlicher, griechisch-byzantinischer und muslimischer Welt, inmitten eines mediterranen Kulturraumes ganz eigenen Charakters.4 Zur Exotik der Insel, die mit dem süditalienischen Festland das Königreich Sizilien bildete, trug das arabisch-muslimische Element wesentlich bei. Es war das Erbe jener zwei Jahrhunderte nach 827, in denen Sizilien zur expandierenden Welt des Islam gehört und Einwanderungen vor allem aus dem benachbarten Nordafrika und dem muslimischen Spanien erlebt hatte. Im 11. Jahrhundert hatten zwar die christlichen Normannen Sizilien erobert und einen Latinisierungsprozess eingeleitet; viel Vorgefundenes aber lebte in ihrem Reich fort. Noch am Ende der Normannenherrschaft stellte der muslimische Pilger Ibn Gubair befriedigt fest, dass - bis auf Messina, das „mit Anbetern des Kreuzes vollgestopft war" -, in den Städten, Dörfern und Höfen der Insel Muslime lebten, oft sogar in gleicher Zahl wie die Christen.5 Diese Muslime, von einfachen Bauern auf den Feldern christlicher Grundherren bis hin zu den mächtigen Funktionären in engster Nähe des christlichen Königs, prägten Sizilien weiterhin entscheidend. Ihre Lebensformen, die die Staufer vorfanden und als Nachfolger und bald auch Nachfahren der Normannen teilweise sogar übernahmen, behandeln die folgenden Ausführungen. Das normannische Erbe Am Ende der normannischen und zu Beginn der staufischen Epoche war die Präsenz der Muslime dominierend auf dem Land (Abb. 2). Abgesehen vom nordöstlichen Drittel der Insel, wo griechisches Christentum aus der vormuslimischen Zeit und zeitgenössische Zuwanderung aus Norditalien sich konzentrierten, war die außerstädtische Bevölkerung noch weitgehend islamisiert.6 Die verbliebenen Christen lebten Tür an Tür mit den Muslimen und hatten sich der fremden Kultur angepasst. Man verständigte sich hauptsächlich auf Arabisch, daneben auch auf Griechisch, so dass von einer weitverbreiteten Zweisprachigkeit der Bevölkerung auszugehen ist." Die muslimischen Eroberer Siziliens hatten eigene landwirtschaftliche Kulturen von jenseits des Meeres mitgebracht:8 Angebaut wurden die im damaligen Europa seltenen und überaus luxuriösen Farbpflanzen Safran, Henna, Pastell und Indigo; außerdem exotische Früchte wie Datteln, Feigen, Zitronen und Limonen. Besonders reiche Einnahmen brachten Uberschüsse beim Anbau des exquisiten Rohrzuckers. Seidenraupenzucht auf Maulbeerbäumen und Baumwollpflanzung ermöglichten die Herstellung feiner Textilien. Voraussetzung für das Florieren all dieser Kulturen war der gleichzeitige Import landwirtschaftlicher Techniken aus der arabischen Welt gewesen; insbesondere benötigten die meisten Pflanzen intensive Bewässerung, in deren Anlage die Muslime große Meisterschaft erlangt hatten. Noch heute kann man über zehn Meter tief im Untergrund Palermos gut erhaltene qanäts, arabische Wasserleitungen, bewundern, die die Stadt und ihre Umgebung jahrhundertelang mit Quellwasser aus den Bergen versorgten (Abb.3).9 Die arabisch-muslimisch geprägte Landschaft war im Allgemeinen von den Siedlungen aus organisiert, die von Gärten und im weiteren Umkreis von offenen Feldern und Weideland umringt waren.10 In diesem Rahmen wurden die erwähnten exotischen Pflanzen kultiviert, überwiegend fanden aber auch ganz alltäglicher Anbau von Getreide, Obst, Wein und Oliven sowie Viehzucht statt.11 In den Siedlungen gingen die Muslime zudem handwerklichen Tätigkeiten nach. Wiederum gab es gewöhnliche Grundversorgung - beispielsweise Holz-, Metall-, Keramik- und Glasverarbeitung - Seite an Seite mit niveauvoller arabisch-muslimischer Kunstfertigkeit wie Seidenweberei.12 Politisch drückte das Gros der Muslime auf dem Land die Verpflichtung zu Abgaben als Hörige und das Verbot, die Güter ihrer christlichen Herren zu verlassen.13 Hinzu kam eine religiös begründete Sondersteuer, die die Muslime wohl allgemein an ihre neuen Herren zu zahlen hatten.14 Vorbild dieser gizya war die entsprechende Abgabe, zu der Christen und Juden in muslimischen 334 V. Gelebte Vielfalt Safran, Schach und Sondersteuern. Arabisch-muslimische Lebensformen im Königreich Sizilien | Richard Engl 335 bis zur Umsiedlung ab 1223/24 nach der Umsiedlung 2 Muslimische Bevölkerung im Königreich Sizilien in normannisch-staufischer Zeit Ländern verpflichtet waren. Ansonsten aber blieb den Muslimen auf lokaler Ebene häufig weitgehende Autonomie. Auf dem Land wie in der Stadt lebten sie unter ihrem Scharia-Recht der Mäiiki-Schule, schworen sogar gegenüber Christen auf den Koran und hatten eigene Magistrate.15 Ihre sozialen und juristischen Autoritäten beispielsweise waren die sogenannten Kadis, Koran- und Rechtslehrer unterrichteten an Schulen oder Moscheen, es gab muslimische Notare und Marktaufseher.16 Ihre Religion konnte die islamische Mehrheitsbevölkerung auf dem Land wie auch in der Stadt weiterhin ausüben. Inwieweit es innerhalb der niederen muslimischen Bevölkerung Konversionen zum Christentum gab, ist eine in der Forschung diskutierte Frage.17 Von kirchlicher und herrschaftlicher Seite bestand offenbar kein allzu großer Druck, solange ein Muslim keine bedeutende Position im politisch-sozialen Gefüge einnahm. Auch wenn manche Moscheen zu Kirchen umgewandelt wurden und die Freitagspredigt verboten war, konnten sich die Gläubigen in den vielen verbliebenen Gotteshäusern zum Gebet versammeln.18 In manchen Städten war der Ruf des Muezzin zu hören. Der heilige Monat Ramadan wurde öffentlich begangen: Es gab Festbeleuchtungen und zu seinem Ende lautstark gefeierte Prozessionen. Auch wenn nicht sicher ist, wie viele sizilische Muslime die Pilgerfahrt nach Mekka antreten konnten, berichtet Ibn Gubair, dass sie Nächstenliebe übten, Almosen gaben, Reisende und Pilger unterstützten und Gefangene freikauften.19 Die Städte Siziliens waren aufgrund der florierenden Landwirtschaft der Insel zu mächtiger Größe herangewachsen: Palermo war eine der bevölkerungsreichsten Metropolen des damaligen Europa.20 In den muslimischen Vierteln befanden sich noch Ende des 12. Jahrhunderts eigene Moscheen und Märkte. Es gab Herbergen nach dem Vorbild von Karawansereien - manche von muslimischen Reisenden, andere von Christen bevorzugt.11 Die vielen Bäder der Insel waren Ausdruck antiker wie islamischer Kultur der Reinlichkeit. Die Hospitäler Siziliens entsprachen dem erstaunten Zeugnis muslimischer Pilger zufolge dem Vorbild arabischer märistän.11 Städtebaulich spiegelte die Anlage der muslimischen Viertel arabische Tradition wieder: Von breiten Hauptstraßen gingen - häufig durch Tore verschließbare - Nebenstraßen ab, die sich wiederum in ein verwirrendes Durcheinander von Sträßchen und Sackgassen verzweigten, deren Häuser unregelmäßig geformte Innenhöfe umschlossen.23 Die hier lebenden Muslime waren an ihren Turbanen unschwer zu erkennen (vgl. S. 322, Abb.3).2"1 Allerdings beeindruckten die langen Seidengewänder und eleganten Mäntel der feinen muslimischen Stadtgesellschaft die Christinnen offenbar derart, dass sie an Festtagen die arabische Mode kopierten, sich verschleierten und mit Henna schmückten, was wiederum große Faszination auf die muslimischen Männer ausübte.25 Die in den Städten lebenden Muslime bestritten ihren Lebensunterhalt unter anderem als Handwerker und Händler. Letztere konnten beispielsweise auf den Schiffen der Genuesen bis nach Nordafrika und Spanien gelangen.26 Muslimische Magistrate oder vornehme Herren mit weitverzweigtem Immobilienbesitz und Kontakten zum Königshof bildeten eine dünne städtische Oberschicht. Ihr Leben verlief in völlig anderen Bahnen als etwa das ihrer Glaubensbrüder auf dem Land. Als Angehörige einer kleinen Elite vererbten sie die Anführerschaft der sizilischen Muslime von Generation zu Generation, stellten Palermos Kadi, der in innermuslimischen Rechtsstreitigkeiten zu Gericht saß.2~ Sie traten als Mäzene leichtlebiger intellektueller Zirkel in Erscheinung, in deren Kreis sich hohe muslimische Regierungsbeamte Siziliens mit Gelehrten und Dichtern von jenseits des Meeres bei Picknicks und Poesie vergnügten. Latent war das unbekümmerte Leben jedoch immer bedroht, konnte die Ungnade des christlichen Königs schnell den Verlust von Besitz und Ämtern nach sich ziehen. Das Hofleben der Normannenzeit wies so vielfältige Anleihen arabisch-muslimischer Lebensformen auf, dass die christlichen Könige beinahe als orientalische Monarchen wahrgenommen wurden.28 Eine große Zahl von Muslimen und Konvertiten versah zahlreiche Aufgaben bei Hof: Für Leib und Leben des Herrschers waren sie verantwortlich als Wachpersonal, als Aufseher der Küche sowie als Ärzte und - in der arabisch-mittelalterlichen Medizin ebenso entscheidend - als Astrologen (Abb. 4).29 Ein luxuriöses Hofleben gewährleisteten Falkner und Pfleger der königlichen Menagerie,30 ein Trupp schwarzer muslimischer Sklaven und nicht zuletzt die Dienstmägde des Palastes, über deren mögliche sexuelle Zusatzleistungen in einem Harem die Forschung uneins ist.31 Die königlichen Hofwerkstätten beschäftigten einheimische muslimische und seit 1147 auch kriegsgefangene byzantinische Fachkräfte, die auf höchstem Niveau kostbarste Stoffe aus Seide und Brokat webten, färbten, mit Stickereien, Edelsteinen, Perlen und Emails verzierten, Gold schmiedeten und Elfenbein bearbeiteten, möglicherweise auch Bergkristall schnitten.32 Ihre bedeutendste Schöp- Palermo, Qanat Gesuitico Basso, unterirdischer Stollen Darstellung eines Arztes (mit Uringlas) und eines Astrologen (mit Astrolabium) am Bett des kranken Königs, Ausschnitt aus dem Liber ad honorem Augusti des Petrus von Eboli, zwischen 1194 und 1197, Bern, Burgerbibliothek, Cod. 120.11, fol. 97r 336 V. Gelebte Vielfalt Safran, Schach und Sondersteuern. Arabisch-muslimische Lebensformen im Königreich Sizilien | Richard Engl 337 tung waren die bis 1792 von den römisch-deutschen Königen und Kaisern getragenen Krönungsgewiinder mir gestickten arabischen Inschriften (Abb. 5).33 Vor allem die Bauprojekte der Normannenkönige zogen kunstfertige muslimische Handwerker von jenseits des Meeres an, die das orientalische Element im Stilgemisch der sizilischen Kunst ausprägten.3' Unter einzelnen Herrscherpersönlichkeiten wurde der Normannenhof sogar Ziel muslimischer Dichrer und Gelehrter aus Übersee, wenn auch die Emigration der geistigen Elite seit der christlichen Eroberung Siziliens nicht mehr kompensiert wurde.35 Ebenfalls von fern - und zwar wohl schon als Kinder - kamen die Eunuchen an den Hof.36 Gemäß den Gepflogenheiten östlicher Monarchien waren sie aufgrund ihres körperlichen Status für die Dienste in intimstet Nähe zur Königsfamilie prädestiniert. Offiziell zum Christentum konvertiert, hingen sie höchstwahrscheinlich mit herrscherlicher Duldung weiterhin dem Islam an.3 Als persönliche Diener, Bewacher des Herrschers und der Frauen, insbesondere aber als Richter, Finanzverwalter, Mitglieder des innersten Regierungsrares und militärische Führer konnten sie größeren Reichtum und Einfluss erlangen als jeder lateinische Höfling. Es gab ganze Zweige arabischer Adminisrration unter ihrer Leitung. Der sogenannte Diwan war für Verwaltung, Steuereinzug und Verleihung von Land und Leuten des Königs auf Sizilien verantwortlich; arabisch firmierte er als Diwan al-ma'mür oder Dhuän al-tahqiq al-mamür - wobei die genaue Beziehung beider umstritten ist.38 Wohl nach dem Vorbild des zeitgenössischen fatimidischen Ägypten hinterließ eine Vielzahl von arabischen Schreibern Urkunden von außergewöhnlicher Schönheit und Eleganz.39 Gegen die Eunuchen, die auch als Angehörige des innersten Machtzirkels im Königreich, ja sogar als Leiter der Regierung abhängig und sozial isoliert blieben, konnten Neid und Intrigen nicht ausbleiben.'*" Viele von ihnen wurden in Zeiten innerer Wirren als Sündenböcke jäh gestürzt. Als der Hass erst eskaliert war, richtete er sich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zunehmend auch gegen die muslimische Bevölkerung insgesamt: In den frühen 1160er Jahren und nach 1189 kam es zu blutigen Ausschreitungen.'1 Unter starken Herrscherpersönlichkeiten jedoch halfen die muslimischen Höflinge, das autokratische Königtum der Normannen zu fördern,'2 wie auch die Herrscherfamilie selbst ein Leben führte, dessen Vorbilder zu einem beträchtlichen Teil im Orient lagen. Arabisch anmutende Paläste - Favara, Altofonte, Zisa und Cuba (Abb. 6) - umgaben Palermo „wie Perlen den Hals einer jungen Frau""13. Prächtige Gärten mit Wasserspielen, künstlichen Seen und sorgfältig zusammengetragenen Baum- und Tierarten''' bildeten die Kulisse eines Lebens glänzender Feste mit Gelagen, Dichtung und Tanz; Musik erklang wohl auf typisch arabischen Lauten, Psaltern, Flöten und Trommeln;'"' auch das Schachspiel war schon seit dem 10. Jahrhundert auf Sizilien bekannt, um von hier aus wie über Spanien seinen Siegeszug ins chrisrliche Europa anzutreten46 - ein adeliges Idealleben also, wie es in den Augen muslimischer Künstler nicht weit von der Vorsrellungdes koranischen Paradieses entfernt war.4~ 6 Palermo, Cubula, 2. Hälfte 12. Jahrhundert 5 Mantel Rogers II. mit Kufi-Inschrift aus den königlichen Hofwerkstätten, Palermo, 1133/1,34, Wien, Kunsthistorisches Museum, Weltliche Schatzkammer Inv. Nr.XIII 14 Die staufischen Umbrüche Mit dem Tod des letzten Normannenkönigs Willhelm II. 1189 waren die schönen Tage in Palermo allerdings zunächst zu Ende. Wie schon einige Jahrzehnte zuvor, kam es anlässlich der Thronvakanz zu inneren Wirren und Krawallen, in deren Verlauf zahlreiche Muslime den Tod fanden. Auch die Machtübernahme der Staufer ab 1194 brachte keine dauerhafte Besserung, im Gegenteil. Dass die hungrigen Truppen Heinrichs VI. vor ihrem Einzug in Palermo die in arabischer Tradition gepflegte Menagerie der Normannenkönige verspeisten, mag nur Episode gewesen sein.48 Spätestens Heinrichs Sohn Friedrich II. hatte aber jahrzehntelange Auseinandersetzungen mit den Muslimen der Insel zu bestreiten. Der frühe Tod seiner Eltern Heinrich und Konstanze im Abstand nur eines Jahres 1197 und 1198 hatte dem südlichen Königreich kaum Zeit zur Konsolidierung gelassen. Unter dem fremdbestimmten Kindkönigtum Friedrichs II. versank Sizilien endgültig in einen Zustand der Anarchie. Die Muslime im Süden und Westen der Insel wurden Opfer wie auch Täter von Übergriffen, verschleppten 1208 sogar den Bischof von Agrigent.49 Als Friedrich II. jedoch, endlich volljährig geworden, im Glanz des römischen Kaisertums 1220 nach Süditalien zurückkehrte, war der Anfang vom Ende der dortigen Muslime gekommen. Sie hatten sich in den mittleren Westen der Insel zurückgezogen, wo sie in schwer zugänglichen Höhenfestungen den Heeren des Kaisers erbitterten Widerstand leisteten. Die Macht eines ihrer Führer, Ibn Abbäd, war so groß, dass er in offener Zurückweisung herrscherlicher Autorität eigene Münzen unter seinen Glaubensbrüdern zirkulieren ließ. Doch auch wenn die Muslime Friedrich II. über zwei Jahrzehnte hinweg große Anstrengungen abverlangten, wurden sie schließlich doch etappenweise überwunden und ihre Führer getötet. Entscheidend für das Schicksal der Besiegten war die radikale Lösung, zu der Friedrich IL zwischen 1223 und 1246 griff.50 Er ließ die Muslime ins über 800 Kilometer entfernte apulische Lucera im Südosten des italienischen Festlandes deportieren, womit die Jahrhunderte muslimischen Lebens auf der größten Mittelmeerinsel zu Ende gingen (Abb. 2). Eventuell verbliebene Muslime dürften nur mehr eine unbedeutende Kraft gewesen sein: zahlreiche Sklaven und wenige Kaufleute.51 Die arabische Sprache überlebte lediglich in jüdischen Gemeinschaften und Friedrichs II. Versuche zur Wiederbelebung der sizilischen Indigo-, Henna-, Seiden- und Dattelproduktion zeigten wenig bleibenden Erfolg.52 Vor allem aber endete das landesweite Nebeneinander von Muslimen und Christen. Die Anhänger des Islam lebten nun im und um das apulische Lucera, weit stärker als bisher auf eine Region konzentriert. Von Christen umgeben, waren sie vom Kaiser besonders abhängig. Nach anfänglichen Versuchen Einzelner zur Rückkehr in ihre sizilische Heimat53 arrangierten sich die Muslime mit ihrem Schicksal und wurden schließlich zu treuen Anhängern Friedrichs II. und seiner staufischen Nachkommen. Immerhin durften sie ihre Religion wie in besten sizilischen Zeiten frei ausüben, weshalb es eine Moschee in Lucera gab, vielleicht auch eine Koranschule.54 Besucher aus der islamischen Welt berichteten sogar von öffentlicher Freitagspredigt.55 Politisch genoss die Stadt den gewohnten Grad innerer Autonomie: Kadis aus den Reihen der führenden Familien leiteten die Gemeinschaft und sprachen Recht.56 Da die Muslime nun auf der Domäne des Kaisers lebten, entrichteten sie an seine Verwaltung die bisher an ihre sizilischen Herren geschuldete g/z)vz und Abgaben vom Bodenertrag.5" Weil das Prosperieren der Gemeinschaft „seiner" Muslime auch dem Kaiser zugute kam, brachte er ihre Wirtschaft durch Stellung tausender Zugtiere sowie durch Abmachungen mit christlichen Magnaten über Ackernutzungs-, Weide- und Wasserrechte voran.58 Überhaupt war das Lucera umgebende Gebiet der Capita-nata ein fruchtbares Land, das zuvor nur dünn besiedelt gewesen war, unter Friedrich II. jedoch zum Kernraum des Südreiches aufstieg. Hier wurden vorwiegend Getreide und Oliven angebaut, was wohl auch für die Muslime galt.59 Die Mehrzahl von ihnen war in der Landwirtschaft tätig und machte Lucera, die größte Stadt der Capitanata, auch zum größten Getreideproduzenten der Region.60 Hinsichtlich der muslimischen Viehwirtschaft ist neben Schafen und Kühen wieder Exotischeres zu nennen: Afrikanische Leoparden wurden von Tierpflegern für den Hofgehalten; daneben gab es Personal für jene Kamele, die Friedrich IL in der Region nicht ohne gewissen Erfolg einführte.61 Auch im Bereich des Handwerks waren Luceras Muslime partiell für den Hof tätig: als Zimmerleute, Hersteller von Waffen und Sätteln, Intarsiatoren und Teppichknüpfer.62 Luceras Töpfer führten die siculo-arabische Keramiktradition fort. Muslimische Händler aus Lucera vertrieben die Produkte ihrer Glaubensbrüder zeitweise zollfrei auf dem gesamten süditalienischen Festland, dann wieder in Lucera selbst auf einem von Friedrich II. eingerichteten jährlichen Markt.63 338 V. Gelebte Vielfalt Safran, Schach und Sondersteuern. Arabisch-muslimische Lebensformen im Königreich Sizilien | Richard Engl 339 Ntftmta. 1 Die Krone zog die Muslime zur Arbeit an königlichen Bauprojekten und zur Stellung militärischer Kontingente in Kriegszeiten heran. Die muslimischen Soldaten Luceras waren von erheblicher militärischer Bedeutung in den Kriegen ihrer staufischen Herren und erregten inmitten der christlichen Heere viel Aufmerksamkeit.6' Sie waren hauptsächlich mit Bogen, zusätzlich mit Kurz-schwertern oder Messern bewaffnet und kämpften als bewegliche Truppe zu Fuß oder zu Pferd. In den oberitalienischen Kriegszügen Friedrichs II. spielten sie 1237 und 1248/1249 eine Schlüsselrolle, aber auch in den großen Schlachten seiner Nachfolger 1266 und 1268 kamen sie als treuer, gegenüber päpstlichen Bannsprüchen unempfindlicher Kern zum Einsatz. Vor Ort schützten sie das nahe Foggia, seit dem Apulienliebhaber Friedrich II. bevorzugter herrscherlicher Residenzort. Das muslimische Hofpersonal der Stauferzeit hatte kaum noch politisch-administrativen Einfluss. Der Diwan in Palermo verlor schrittweise seine überregionale Zuständigkeit.65 Für die Abfassung arabischer Dokumente musste man nun im Bedarfsfall auf kundige Einzelne zurückgreifen. Schließlich gab es kaum noch muslimische oder griechische Beamte unter Friedrich II. Nur in Einzelfällen gelangten Personen arabischer oder afrikanischer Herkunft in höhere Positionen. Der begabte Johannes Morus beispielsweise war als schwarzer Sklave bei Hof aufgewachsen, von Friedrich II. „entdeckt" und um 1239 mit der kaiserlichen Kammer betraut worden.66 Unter Friedrichs II. Sohn Konrad IV. war er unter anderem für die Muslime Luceras zuständig. Von einer solchen Ausnahmepersönlichkeit abgesehen, ging die Masse der staufischen Hofmuslime in persönlichem Dienst, Unterhaltung und Verbreitung orientalischen Glanzes auf. Ein Trupp schwarzer Sklaven zum Beispiel war sorgfältig im Spiel auf silbernen Trompeten ausgebildet; schöne musizierende Sarazenenmädchen glitten auf Kugeln elegant über den blanken Palastboden (Abb. 7).6 Die einst mächtigen Eunuchen waren nun ausschließlich für die Bewachung der Frauen des Hofs verantwortlich.68 Ein Harem existierte wohl nur in der Polemik der Gegner Friedrichs II.69 Fortgeführt wurde allerdings die Beschäftigung der Hofwerkstätten, wenn diese auch 1220 Palermo verließen, um auf dem Festland einen Nachhall der Tradition aus normannischer Zeit aufrecht zu erhalten.70 Die rückläufige Entwicklung durchbrach unter Friedrich II. allein die enorme Vergrößerung der muslimischen Tierpflegerschar. Der jagdbegeisterte Kaiser zog zum einen zahlreiche muslimische Falkner aus Ländern wie Ägypten und Arabien an seinen Hof, zum anderen erhielt er aufgrund seiner guten Kontakte zu Herrschern des Orients viele spektakuläre Tiergeschenke, deren hoch spezialisierte Betreuer gleich mit übersandt wurden.-' Einige dieser Muslime gelangten in Friedrichs IL buntem Gefolge sogar bis zum Rhein, wo sie gemeinsam mit den fremdartigen Tieren die Wirkung ihres Herrn als faszinierender Ausnahmeherrscher bestärkten.72 Tatsächlich bewahrte Friedrich II. gewisse Elemente arabischmuslimischer Lebensart. Er hatte wohl das Arabische gelernt.73 Mit 7 Darstellung musizierender Sarazenenmädchen auf Kugeln in der Chronica Maiora des Matthew Paris, St. Albans, Mitte 13. Jahrhundert, Cambridge, Corpus Christi College MS 16, fol. 149 den Herrschern des Orients tauschte er sich, deren Sitte gemäß,"4 über mathematische und naturwissenschaftliche Fragen aus, wofür er entsprechende Experten an seinem Hofhielt. Der Herr Ägyptens, al-Kämil, sandte ihm den Mathematiker und Astronomen Alam al-Hanafi." Vor allem aber lag Friedrich II. die Übernahme von Wissen und Techniken der geliebten Jagd am Herzen: Als Erster führte er die Falkenhaube und den Einsatz von „reitenden" Jagdgeparden aus dem Orient in Europa ein.76 Dennoch, in der Gesamtbilanz war das muslimische Element in Reich, Hof und Lebensart des Stauferkaisers Friedrich II. im Vergleich zu seinen normannischen Vorgängern auf dem Rückzug. Von vielen Zeitgenossen wurde dies allerdings - absichtsvoll oder unwissend - nicht wahrgenommen. Da Friedrich II. als römischdeutscher König und Kaiser, Kreuzfahrer und Objekt päpstlicher Hetze auf einer großen lateinisch-christlichen Bühne in Erscheinung trat, musste er sich an den Herrschern jenes Raumes messen lassen. Und in solcher Gegenüberstellung war er noch von viel muslimischer Exotik umgeben. Basierend auf diesem Wahrnehmungsungleichgewicht der Zeitgenossen stilisierten spätere Historiker Friedrich II. bekanntermaßen als bis zur Seelenverwandtschaft tolerant. Auch Friedrichs II. Sohn Manfred, der nach Konrads IV. Tod offiziell ab 1258 über das Königreich Sizilien gebot, beherrschte nach arabischem Zeugnis die Sprache der Muslime, scharte viele von ihnen in höchsten Positionen um sich, interessierte sich für die spekulativen Wissenschaften und ließ Lucera seine Freiheiten,77 ohne damit dieselbe Aufmerksamkeit zu finden. Die Päpste, die seit Friedrichs II. letztem Lebensjahrzehnt erbitterte Gegner der Staufer waren, verwendeten deren Verbundenheit mit den Muslimen wiederholt als propagandistische Waffe. 1245 sah sich Friedrich II. unter anderem mit dieser Begründung für abgesetzt erklärt.78 1255, 1263 und 1267 diente Lucera gar als Argument für die Ausrufung von Kreuzzügen gegen Friedrichs II. Sohn Manfred und seinen Enkel Konradin.79 Als Streiter der Kirche marschierte Karl I. von Anjou, Bruder des französischen Königs, ins Königreich Sizilien ein und besiegte Manfred und sein christlich-muslimisches Heer 1266 bei Benevent. Als der junge Konradin jedoch 1267 in Italien erschien, um sein Erbe zurückzuerobern, stellten die Muslime noch einmal ihre Stau-fertreue unter Beweis. Bevor Friedrichs II. Enkel allerdings seine muslimischen Unterstützer erreichen konnte, wurde er 1268 bei Tagliacozzo besiegt und in Neapel hingerichtet. Die Stauferzeit im Süden war zu Ende. Bis zuletzt waren die Schicksale der Staufer mit denen der Muslime im Königreich Sizilien verknüpft gewesen. Nun gerieten die Anhänger Allahs mit dem übrigen Königreich unter die Herrschaft der Anjou. Obwohl Karl von Anjou als Bekämpfer des Islam ausgezogen war, begnadigte er Lucera. Für weitere drei Jahrzehnte begann ein neues, letztes Kapitel muslimischen Lebens in Unteritalien. 1 Vgl.CsENDES 1993, S. 152. 2 Vgl. Kölzer/Stähli 1994, S. 197; Abb. von fol. 134r, S. 191; Otto von St. Blasien, Chronica, cap.40, S.62f. 3 Vgl. zur Wahrnehmung des sizilischen Königreichs insges. Musca 1999, hier insbes. Guyot-jeannin 1999; Bresc 1989. ' Vgl. Takayam a 2004, S. 58 f. 5 Ibn Gubair, Rihla, S. 117 - 119. 6 Vgl. Metcalfe 2002, S. 289, 291 f. 7 Vgl. ebd., S. 311. 8 Vgl. zum Folgenden Bercher/CouR-teaux/Mouton 1979, S. 528- 530; Martin 1994, S. 1921'.; Kühnei. 1994, S.8, 16;Ausst.-Kat. Sizilien 2004, S. 108. 9 Vgl. Ausst.-Kat. Sizilien 2004, S. 103 - 106. 3 Vgl. Bercher/Courteaux/Mouton 1979, S.529, 531. 1 Vgl. ebd., S. 528f.; Martin 1994, S. 189 - 192. - Vgl. Bercher/Courteaux/Mouton 1979, S. 534-536. ' Vgl. Johns 2004a, S. 246. ' Vgl. Johns 2002, S.35 - 38 mit ausführlicher Diskussion und Metcalfe 2002, S. 296 im Gegensatz zu Amari 1937, Bd. 3, S. 260 - 263. 5 Vgl. Metcalfe 2002, S. 295 f.; Udovitch 1994, S. 192. s Vgl. Bercher/Courteaux/Mouton 1979, S.5331". 17 Vgl. die Diskussion bei Metcalfe 2002, S.305-316. 18 Vgl. ebd., S. 307; zum Folgenden auch Ibn Gubair, Rihla, S. 125, 130, 135. 8 Vgl. Ibn Gubair, Rihla, S. 121 f., 142f. 20 Vgl. Metcalfe 2002, S. 289. 21 Vgl. Ausst.-Kat. Sizilien 2004, S. 180; Ibn Gubair, Rihla, S. 132. 22 Vgl. Ibn Gubair, Rihla, S. 126. 2> Vgl. Ausst.-Kat. Sizilien 2004, S. 193,212f. ^ Vgl. Kölzer/Stähli 1994, Abb. von fol. 98r, S.47; zum Hintergrund Stillman 1994, S.173f. 2S Vgl. Ibn Gubair, Rihla, S. 131 f. Vgl. muslimische Legendenbildungen um schöne Christinnen ebd., S. 134. 2« Vgl. ebd., S. 132. r Vgl. zum Folgenden Johns 2002, S. 2401"., 252. 28 Vgl. Ibn Gubair, Rihla, S. 120; Johns 2002, S.255. 2? Vgl. Ibn Gubair, Rihla, S. 120-, Kölzer/Stähli 1994, Abb. von fol. 57r, S.43; Thoma 2004, S. 109- w Vgl.Johns 2002, S.244. " Vgl. Metcalfe 2002, S. 299 beispielsweise im Gegensatz zu Johns 2002, S.244. 12 So Distelberger 2004. Vgl. insges. Jacoby 2004, S.64. w Vgl. Bauer 2004b. M Vgl. Ausst.-Kat. Sizilien 2004, S. 124- 126; Johns 2002, S.267. " Vgl. Metcalfe 2002, S. 299 f.; gegen eine zu weitgehende Verarmungsthese allerdings Udo- vitch 1994, S.197f. -,s Vgl. zu den Eunuchen Johns 2002, S. 249 - 253; Corsi 1991. V Vgl. Metcalfe 2002, S. 304. Vgl. die ausführliche Erörterung in Johns 2002, S. 193-201. » Vgl. ebd., S. 257-283. «" Vgl. ebd., S. 288. *' Vgl. beispielsweise Tramontana 1983, S. I52f.; Tramontana 1985, S. 152; Houben 1994, S. 183. 12 Vgl. Johns 2002, S. 253 - 256,284 - 291. « Ibn Gubair, Rihla, S. 129. 44 Vgl. Hauck 1963, S. 60 - 62. 45 Vgl. Gramit 1985, S. 16-25. « Vgl. Petzold 1987, S. 66; Schafroth 2002, S. 40; Salierno 2006, S. 115. 47 Vgl. Gramit 1985, S. 36f.; Salierno 2006, S. 122-124. 48 Vgl. Otto von St. Blasien, Chronica, cap. 40, S.61f. *» Vgl. zum Folgenden Stürner 2003, Bd. 2, S.66-71; Taylor 2004, S.7f. s° Vgl. Stürner 2003, Bd. 2. S. 68 - 72; Taylor 2004, S. 11-19. 340 V. Gelebte Vielfalt 341 " Vgl. Metcalfe 2002, S.317; Abulafia 2004. S. 226: allgemein Abulafia 1990.1. u Vgl. Martin 1994, S. 193; VC'atsok 199-4. S. 203; Värvaro 2004, S. 199. W Vgl. Taylor 2004, S.45. m Vgl. ebd., S. 68,71. 55 Vgl. Abul-Fidä', Kitäb al-muhtasar, S. 527; kritisch Cle.mens/Matheus 2008, S.92. % Vgl. Taylor 2004, S.83. 57 Vgl. Salierno 2000, S. 108. 58 Vgl. HB 5,1, S. 627f.; Taylor 2004. S.41, 99. 59 Vgl. Salierno 2000, S. 112. Vgl. ebd.. S. 167; Taylor 2004, S. 83. 61 Vgl. Taylor 2004, S. 100 - 102. Vgl. HB 5,2, S.764; Licinio 1991, S. 162. Vgl. Taylor 2004. S. 111. Vgl. zum Folgenden Salierno 2000, S. 111fi Vgl. zum Folgenden Stürner 2003, Bd. 2, S.37; Johns 2002, S. 245; Takayama 2004, S.74. Vgl. zu ihm Stürner 2003, Bd. 2, S.247; Salierno 2000, S. 120. Vgl. HB 5,1. S.535f., 5,2, S.6761".; Matthacus Paris, Chronica majora, Bd. 4, S. 147; Stürner 2003, Bd. 2, S.348. Vgl.CoRsi 1991,S.275f. Vgl. Stürner 2003, Bd. 2, S.349r'.; Leder 2008, S. 84. Vgl. Anadloro 2004, S. 32-, Bauer 2004a, S. 121. Vgl. Giese2008,S. 129f. Vgl. Stürner 2003, Bd. 2, S. 348 mit Nachweisen. Vgl. Leder 2008. S. 85; Stürner 2003, Bd. 1, S. 112, Aiim. 109; -zweifelnd van Eickels 2008, S.75. Vgl. sogar van eickels 2008, S.75. Vgl. Kantorovhcz 1927, S. 315. Vgl. Giese 2008, S. 132 - 135 und Dif.s. in diesem Band. Vgl. AbiVl-Fida, Kitäb al-muhtasar, S.527; Salierno 2006, s. 161 - 163. Vgl. Taylor 2004, S. 56. Vgl. ebd., S. 131, 133, 143. Vera von Falkenhausen Sprachengewirr - wer behält das letzte Wort? Sprachliche Vielfalt im sakralen und profanen Kontext Süditalien und Sizilien zur Zeit der normannischen Eroberung Um die Wende zum ersten Jahrtausend wanderten einige normannische Ritter in Süditalien ein und verdingten sich als Söldner bei den verschiedenen lokalen Machthabern. Ihr Beispiel machte Schule, und alsbald folgten ihnen weitere abenteuerlustige junge Männer aus der Normandie Lind anderen Teilen Frankreichs.1 Nachdem sie die politische Schwäche des süditalienischen Staatensystems durchschaut hatten, schlossen sich einige von ihnen unter der Führung eines gewählten Grafen zusammen und begannen in den vierziger Jahren des 11. Jahrhunderts mit der systematischen militärischen Eroberung der Region. Im Gegensatz zu der etwa gleichzeitigen Eroberung Englands durch den Herzog der Normandie war also die normannische Expedition in Süditalien eine private Unternehmung, die ganz ohne dynastische Unterstützung durchgeführt wurde. Im Süden der italienischen Halbinsel trafen die Normannen auf in politischer, kultureller und religiöser Hinsicht ungemein vielgestaltige Strukturen. Die im Wesentlichen politisch unabhängigen langobardischen Fürstentümer von Benevent, Capua und Salerno in Kampanien unterstanden der kirchlichen Jurisdiktion Roms; die Kultursprache der Bevölkerung, die nach langobardischem Recht lebte, war das Lateinische. Ähnlich verhielt es sich bei den kleinen Herzogtümern an der tyrrhenischen Küste, Neapel, Amalfi und Gaeta, wobei dort jedoch nicht das langobardische, sondern das römische Recht galt. Apulien, Kalabrien und Teile der Basili-cata gehörten zum byzantinischen Reich und wurden von einem jeweils für einige Jahre aus Konstantinopel entsandten Gouverneur (Katepan) mit Sitz in Bari regiert. Allerdings waren die byzantinischen Provinzen keineswegs einheitlich strukturiert: Kalabrien und Südapulien (das Salento) hatten eine überwiegend griechische Bevölkerung und unterstanden der kirchlichen Jurisdiktion des Patriarchen von Konstantinopel, während Nord- und Mittelapulien, ebenso wie der größere Teil der Basilicata, lateinisch waren und zum Jurisdiktionsbereich der römischen Kirche gehörten. Schließlich waren seit der Mitte des 1 O.Jahrhunderts zahlreiche kalabresische und sizilianische Griechen wegen der wiederholten arabischen Überfälle gen Norden ausgewandert, und zwar sowohl ins byzantinische Apulien als auch in die langobardischen Fürstentümer, besonders ins Cilento. In ihren neuen Siedlungsgebieten unterstanden sie dann automatisch der kirchlichen Jurisdiktion Roms. Sizilien war in mehrere arabische Emirate unterteilt und überwiegend islamisch. Im Nordosten der Insel lebte allerdings eine stattliche christliche Minderheit griechischer Sprache, während in anderen Teilen auch christliche Araber und zahlreiche jüdische Gemeinden belegt sind. Es ist verständlich, dass in diesem Staatengewirr nicht nur die politischen, sondern auch die kulturellen Grenzen einigermaßen fließend waren. Es gab z.B. arabische Minderheiten in Südkalabrien, und da sich das Fürstentum Salerno zeitweise bis nach Nordkalabrien ausgedehnt hatte, wurden auch die dortigen Diözesen Bisignano, Malvito und Cosenza, dem Erz-bischof von Salerno und damit Rom unterstellt. Besonders in Grenzgebieten muss man mit einer gewissen Zweisprachigkeit der Bevölkerung oder zumindest einiger Bevölkerungsgruppen rechnen: Für einige Griechen in Südkalabrien sind Arabischkenntnisse belegt,2 während in Nordkalabrien auch die lateinische Sprache verbreitet war. Aul jeden Fall entsprach nicht in allen Teilen die sprachliche und religiöse Ausrichtung der Bewohner ihrer politischen Zugehörigkeit. Die Normannen selbst hatten sich inzwischen längst von ihrer skandinavischen Vergangenheit gelöst und sprachen einen gallo-romanischen Dialekt. Zahlreiche Termini aus den Bereichen des Feudalsystems, der kirchlichen Hierarchie Süditaliens oder auch einige Eigennamen sind über die gallo-romanische und nicht über die lateinische Form in die griechische und arabische Sprache Kalabriens bzw. Siziliens eingedrungen. Man denke z.B. an griechisch Tippipio; aus terrier (Grundherr),