Gernot Kocher Zeichen und Symbole des Rechts Eine historische Ikonographie Verlag C. H. Beck München i. Bildsprache und Bildverständnis Die Rechtsgeschichte und ihre Quellen Die Rechtsgeschichte ist in vielen europäischen Ländern trotz häufiger Anfechtungen noch immer in mehr oder weniger starkem Ausmaß Gegenstand universitärer Forschung wie auch universitärer Ausbildung. Diese Präsenz der Rechtsgeschichte besteht aus zweierlei Gründen zu Recht: Sie kann nicht nur den Studierenden eine Entwicklungslinie des Rechts eröffnen, sondern auch, sofern das Wissen um die Entwicklungsstrukturen des Rechts vorhanden ist, zum Rechtsleben der Gegenwart beitragen. Dieser Nutzen für die Gegenwart geht vor allem davon aus, daß die vom Recht zu bewältigenden Probleme des täglichen Lebens in einem gewissen Rahmen wiederkehren und daß Lösungsmöglichkeiten dafür nur in beschränkter Zahl vorhanden sind. Die Rechtsgeschichte ist im Kreis der Forschungs- und Lehrgegenstände ein interdisziplinäres Fach, weil sie - obwohl primär den Rechtswissenschaften verpflichtet — nicht ohne die Hilfestellung anderer Disziplinen auskommen kann. Solche Hilfestellung wird in erster Linie bei den Geschichtswissenschaften, aber auch in den Sprachwissenschaften, bei den Religionswissenschaften und im volkskundlichen Bereich zu suchen sein. Diese vielseitige Verankerung der Rechtsgeschichte schlägt sich auch im Quellenbereich nieder, allerdings mehr theoretisch als praktisch. Denn durch ihre hauptsächliche Verankerung im Recht hat die Rechtsgeschichte eine sehr starke Bindung an die Schriftquelle bekommen, die ihr auch etwas von dem «Odium» der Trockenheit, die gelegentlich dem Recht zugeschrieben wird, vermittelt. Das zweite wichtige interdisziplinäre Standbein, die Geschichtswissenschaft, verfügt über einen Quellenbereich, der neben schriftlichen Quellen auch Realien oder Bildmaterial umfaßt. Nun hat zwar die rechtsgeschichtliche Forschung und Lehre, seit ihrer systematischen Fundierung vor etwa hundert Jahren, diesen weiten Quellenbegriff formell übernommen, ihn aber tatsächlich nur in Grenzen genutzt. In der Praxis heißt dies, daß die Bindung an die klassische juristische Quellenform, das «geschriebene Recht» als primäre Rechtsquelle, dominierte. Diese Orientierung, die vom mittelalterlichen römisch-kanonischen Recht her geprägt erscheint und im neuzeitlichen Staatswesen fest verankert wurde, findet schon im historischen Bereich immer wieder ihren bildlichen Niederschlag (Abb. i). Die sekundären Rechtsquellen, auch «Nebenquellen der Rechtsgeschichte» genannt, deren konkreter Bogen von nichtjuristischen Texten über Gebäude, Gegenstände, Gebärden bis zu Illustrationen reicht, rückten dagegen fast ganz in den Hintergrund - allerdings mit einer Differenzierung, die dem «angeborenen Hang» der Juristen zur Schriftlichkeit Rechnung trug: Wenn überhaupt, wurden eher schriftliche sekundäre Rechtsquellen in den Betrachtungskreis einbezogen, während Gegenständliches, Symbolisches und Bildliches meist im theoretischen Bereich verblieb. Von ihrer realen Funktion her können diese «Nebenquellen der Rechtsgeschichte» unterschiedlich wirken. Sie können einmal bestehende Informationslücken ausfüllen helfen -das ist ein Anwendungsbereich, der vor allem den schriftlichen Sekundärquellen zukommt; so, wenn aus Chroniken sonst nicht belegbare Rechtszustände erschlossen werden, etwa durch die Berichte eines Gregor von Tours für das frühe Mittelalter. Genauso können auch archäologische Funde (Moorleichen als Hinweis auf Strafvollzugsarten, Münzen, Grabsteine) genutzt werden. Diese Aufgabe kommt allerdings eher für jene Entwicklungsphasen des Rechts in Frage, die über wenige oder gar keine Rechtsaufzeichnungen verfügen; das gilt in erster Linie für das Frühmittelalter, aber auch noch bis ins hohe Mittelalter hinein. Mit der Zunahme von schriftlich fixiertem und auch in dieser Form erhaltenem Recht gewinnen die «Nebenquellen» die Rolle einer Zusatzinformation, die ergänzend, korrigierend oder bestätigend sein kann. Dieser Funktionsrahmen reicht praktisch vom Frühmittelalter bis ins beginnende 19. Jahrhundert. Unter diesen Nebenquellen zur Rechtsgeschichte nehmen die bildlichen eine besondere Position ein, weil sie nicht nur -wie die sekundären schriftlichen Quellen - beschreibend 8 i. Bildsprache und Bildverständnis Informationen wiedergeben, sondern sozusagen eine Visualisierung des Rechts bieten: Wenn etwa eine Rechtsquelle von der Kommendation als lehensrechtlichem Akt spricht, so hat man für den Begriff noch keine visuelle Entsprechung, selbst wenn - was selten der Fall sein wird - die Rechtsquelle eine verbale Vorgangsbeschreibung liefert. Erst das Bild vermittelt einen Eindruck der tatsächlichen Vorgänge bei einer Kommendation, wobei die Form zugleich den Inhalt vermittelt. Die verbal eher trockene Beschreibung, etwa bei Mitteis (Lehnrecht und Staatsgewalt, S. 30), als «Unterwerfung» unter die «herrschaftliche beziehungsweise hausherrschaftliche Zwangsgewalt» erfährt durch das Bild erst eine faktische Abrundung: Im Niederknien des Lehensmannes und im Umschließen seiner Hände durch die des Herrn wird die Begründung eines personenrechtlichen Verhältnisses dokumentiert (Abb. 2). Die Vorteile, welche die Anschaulichkeit dieser Nebenquellen bietet, hat schon die sogenannte «iurisprudentia pic-turata» des 18. Jahrhunderts erkannt und in bescheidenem Rahmen genützt, ohne allerdings weiter zu wirken. Neue Akzente kommen im Rahmen der historischen Rechtsschule in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Brüder Grimm, vor allem durch Jacob, der schon 1828 seine Deutschen Rechtsaltertümer veröffentlichte und später auch in Berlin eine Vorlesung über Altertümer des deutschen Rechtes hielt. Diese natürlich auch von der Romantik beeinflußte Linie hat auch die später sogenannten «Nebenquellen» in den Betrachtungskreis mit einbezogen. Die in vierter Auflage 1898 (bearbeitet von Rudolf Hübner) erschienenen Rechtsaltertümer von Grimm sind heute noch immer eine unübertroffene und ständig nachgedruckte. Informationsquelle, die allerdings wiederum nur schriftlich orientiert ist und die visuelle Information hintanstellt. Im Grimmschen Kielwasser segelten auch andere, wie Gengier mit seinen Stadtrechtsaltertümern oder Zoepfl mit den «Alterthümern des deutschen Reichs und Rechts». Der wichtigste Ausgangspunkt auf dem Weg zur Einbeziehung visueller Informationen in größerem Rahmen in die rechtsgeschichtliche Forschung waren die seit dem Ende des 13. Jahrhunderts entstandenen Bilderhandschriften zum Sachsenspiegel. Der Sachsenspiegel, eine private Rechtsaufzeichnung (1. Viertel des 13. Jahrhunderts), die ausgehend von ihrem sächsischen Entstehungsraum europaweit Bedeutung erlangte, wurde fortlaufend zu seinem Text mit Illustra- tionen versehen. Karl von Amira (1848-1930) hat sich mit diesen Bilderhandschriften beschäftigt und sie selbst sowie ihre Beziehung zum Text zu analysieren versucht. Den Hintergrund seiner aufwendigen Arbeit bildete ein umfangreiches Bildarchiv, das heute noch am Leopold Wenger-Institut der Universität München besteht. Die Heranziehung von Vergleichsmaterial führte ihn auch zu anderen Handschriftentypen, nämlich den Illustrationen zum Corpus Iuris Civilis sowie zu deutschen nichtjuristischen illustrierten Handschriften. Damit war bereits ein Schritt hinaus in jenen Bereich getan, der nichtjuristischem Bildmaterial eine gewisse rechtliche Relevanz zuerkannte. Einen weiteren Schritt vollzog dann Hans Fehr (1874-1961) nach dem Ersten Weltkrieg (Das Recht im Bilde), als er das Bild als allgemeine rechtsgeschichtliche Quelle heranzog und zum ersten Mal versuchte, mit Hilfe von Bildern einen zeitlichen und thematischen Querschnitt durch die Entwicklungsgeschichte des Rechts zu ziehen. Mit Hans Fehr beginnt und endet allerdings diese querschnittorientierte Linie. Die nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Werke sind entweder thematisch eingegrenzt, etwa auf das Strafrecht (Schild), auf die Verfassungsgeschichte (Schramm), auf die Gerichtspersonen (Liermann), oder sie ziehen das Bild nur als eine «illustrative Beigabe» heran (Döbler, Köbler). Ähnlich ist die Situation auch bei der Untersuchung von Einzelfragen: Uberwiegend wird auch hier der Schriftquelle der Vorzug gegeben. Wird die Bildquelle als Arbeitsbasis herangezogen - dann ist es seltener ein Jurist, sondern eher ein Historiker (Schramm), Philologe (Schmidt-Wiegand), Kunsthistoriker (Wittkower) oder Volkskundler (Kretzenbacher), der die rechtlichen Aspekte eines Bildes in seine Überlegung einbezieht. Das Zurücktreten des rechtlichen Bildes Summiert man den Gewinn, den der Einsatz von Bildquellen in der rechtshistorischen Forschung und Lehre bringen kann, so fragt man sich unwillkürlich, wo die Ursachen für das Zurücktreten des Bildes liegen; daß diese nicht nur in der von der juristischen Ausrichtung bestimmten Dominanz schriftlicher Primärquellen liegen, kann wohl als gegeben angenommen werden, zumal auch die Geschichtswissenschaft als Nachbardisziplin keine übermäßigen Ambitionen in Richtung Bildquellen zeigte und zeigt. Für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg wird man w ein gewisses Hindernis die technischen Schwierigkeit der Arbeit mit Bildmaterial in Rechnung stellen müsse in der Sammlung Amira in München erhaltenen Belq Sammel- und Arbeitstechnik von Amira sind beredte Z dafür: Das Pausen von zahllosen Handschriftenillustrai (Abb. 3) mit schriftlich vermerkten Farbcodierungen hungsweise die Handkolorierung (Abb. 4) gehörte zum chen Handwerk, das von wenigen Helfern gewiss« durchgeführt werden mußte. Von der Gerichtstätte in 1 lese im Fleimser Tal konnte Amira über Vermittlung . Schülers Paul Puntschart ein speziell für ihn angefei Aquarell erhalten (Abb. 5). Zieht man die technischen Wicklungen (Photographie, elektrostatische Kopiervi ren, audivisuelle Einrichtungen) seit der Mitte unseres hunderts in Betracht, so müßte das Bild in der doch angefochtenen rechtshistorischen Forschung und Leh nen ganz anderen Stellenwert einnehmen, als dies - troi oben zitierten Literatur - tatsächlich der Fall ist. In der Tat liegen die Ursachen tiefer, und das gilt nict für die Moderne, sondern auch für die Zeit zurück bis zu von Amira. Die Hauptursachen beginnen wohl scho. dem Mangel an spezifisch juristischen Bildquellen, ode ders ausgedrückt, es gibt nur wenige primäre Rechtsqu. die über entsprechende - und damit einschlägig juristis Illustrationen verfügen. Außerdem wurden sie nicht in sprechendem Maße genutzt. Für das Mittelalter gehören die Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, die illustri Handschriften des Corpus iuris civilis und des Decr. Gratiani sowie lokale Rechtsaufzeichnungen, die übe kleineres oder größeres Repertoire an Bildern verfügen, in der Art des Hamburger Stadtrechts oder des Rechtsb der Stadt Herford. Dazu kommt, daß von diesen der bis gen Forschung nur wenige als Edition zur Verfügung sta; und somit zur Arbeit auch nicht so einfach herangez werden konnten. Vergleicht man die wenigen zur Verfüj stehenden Editionen von illustrierten Primärquellen mil edierten schriftlichen Primärquellen, beispielsweise in Monumenta Germaniae Historica, dann ist die Schwerpu Verteilung und Präferenz klar. Jedenfalls war das ed ; Bildmaterial aus dem Bereich der primären Rechtsquellei |eftie Querschnittdarstellung sowohl thematisch als auch jj|er zeitlichen Abdeckung her nicht ausreichend. Nur Pufschließung von weiterem bildlichen Quellenmateria] I Bildsprache und Bildverständnis 9 1 versehen. Karl von Amira (1848-1930) hat sich mit 1 Bilderhandschriften beschäftigt und sie selbst sowie ieziehung zum Text zu analysieren versucht. Den Hin-ind seiner aufwendigen Arbeit bildete ein umfangrei-Jildarchiv, das heute noch am Leopold Wenger-Institut Jniversität München besteht. Die Heranziehung von eichsmaterial führte ihn auch zu anderen Handschrif-pen, nämlich den Illustrationen zum Corpus Iuris Civi-wie zu deutschen nichtjuristischen illustrierten Hand-ten. Damit war bereits ein Schritt hinaus in jenen Begetan, der nichtjuristischem Bildmaterial eine gewisse liehe Relevanz zuerkannte. ien weiteren Schritt vollzog dann Hans Fehr .-1961) nach dem Ersten Weltkrieg (Das Recht im ), als er das Bild als allgemeine rechtsgeschichtliche le heranzog und zum ersten Mal versuchte, mit Hilfe Bildern einen zeitlichen und thematischen Querschnitt 1 die Entwicklungsgeschichte des Rechts zu ziehen. Mit i Fehr beginnt und endet allerdings diese querschnitt-Ltierte Linie. Die nach dem Zweiten Weltkrieg erschiene-werke sind entweder thematisch eingegrenzt, etwa auf Strafrecht (Schild), auf die Verfassungsgeschichte :amm), auf die Gerichtspersonen (Liermann), oder sie :n das Bild nur als eine «illustrative Beigabe» heran )ler, Köbler). Ähnlich ist die Situation auch bei der srsuchung von Einzelfragen: Überwiegend wird auch der Schriftquelle der Vorzug gegeben. Wird die Bild-le als Arbeitsbasis herangezogen - dann ist es seltener ein t, sondern eher ein Historiker (Schramm), Philologe midt-Wiegand), Kunsthistoriker (Wittkower) oder ;skundler (Kretzenbacher), der die rechtlichen Aspekte 3 Bildes in seine Überlegung einbezieht. ; Zurücktreten des rechtlichen Bildes imiert man den Gewinn, den der Einsatz von Bildquellen ;r rechtshistorischen Forschung und Lehre bringen kann, ragt man sich unwillkürlich, wo die Ursachen für das iicktreten des Bildes Hegen; daß diese nicht nur in der von juristischen Ausrichtung bestimmten Dominanz schriftli-• Primärquellen liegen, kann wohl als gegeben angenom-l werden, zumal auch die Geschichtswissenschaft als :hbardisziplin keine übermäßigen Ambitionen in Rich-l Bildquellen zeigte und zeigt. Für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg wird man wohl als ein gewisses Hindernis die technischen Schwierigkeiten bei der Arbeit mit Bildmaterial in Rechnung stellen müssen. Die in der Sammlung Amira in München erhaltenen Belege zur Sammel- und Arbeitstechnik von Amira sind beredte Zeugen dafür: Das Pausen von zahllosen Handschriftenillustrationen (Abb. 3) mit schriftlich vermerkten Farbcodierungen beziehungsweise die Handkolorierung (Abb. 4) gehörte zum täglichen Handwerk, das von wenigen Helfern gewissenhaft durchgeführt werden mußte. Von der Gerichtstätte in Cava-lese im Fleimser Tal konnte Amira über Vermittlung seines Schülers Paul Puntschart ein speziell für ihn angefertigtes Aquarell erhalten (Abb. 5). Zieht man die technischen Entwicklungen (Photographie, elektrostatische Kopierverfahren, audivisuelle Einrichtungen) seit der Mitte unseres Jahrhunderts in Betracht, so müßte das Bild in der doch sehr angefochtenen rechtshistorischen Forschung und Lehre einen ganz anderen Stellenwert einnehmen, als dies - trotz der oben zitierten Literatur - tatsächlich der Fall ist. In der Tat liegen die Ursachen tiefer, und das gilt nicht mir für die Moderne, sondern auch für die Zeit zurück bis zu Karl von Amira. Die Hauptursachen beginnen wohl schon bei dem Mangel an spezifisch juristischen Bildquellen, oder anders ausgedrückt, es gibt nur wenige primäre Rechtsquellen, die über entsprechende - und damit einschlägig juristische -Illustrationen verfügen. Außerdem wurden sie nicht in entsprechendem Maße genutzt. Für das Mittelalter gehören dazu die Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, die illustrierten Handschriften des Corpus iuris civilis und des Decretum Gratiani sowie lokale Rechtsaufzeichnungen, die über ein kleineres oder größeres Repertoire an Bildern verfügen, etwa in der Art des Hamburger Stadtrechts oder des Rechtsbuchs der Stadt Herford. Dazu kommt, daß von diesen der bisherigen Forschung nur wenige als Edition zur Verfügung standen und somit zur Arbeit auch nicht so einfach herangezogen werden konnten. Vergleicht man die wenigen zur Verfügung stehenden Editionen von illustrierten Primärquellen mit den edierten schriftlichen Primärquellen, beispielsweise in den Monumenta Germaniae Historica, dann ist die Schwerpunktverteilung und Präferenz klar. Jedenfalls war das edierte Bildmaterial aus dem Bereich der primären Rechtsquellen für eine Querschnittdarstellung sowohl thematisch als auch von der zeitlichen Abdeckung her nicht ausreichend. Nur die Aufschließung von weiterem bildlichen Quellenmaterial aus dem Bereich der Primär- und vor allem der Sekundärquellen kann hier Abhilfe schaffen. Diese sowohl im subjektiven als auch objektiven Mangel an Bildquellen liegenden Ursachen werden jedoch überschattet von einem anderen Problem, der Bildlesefähigkeit. Drei eng zusammenhängende Entwicklungslinien haben das Verständnis für das visuelle Vokabular unserer Vorfahren drastisch reduziert: Die Entwicklung der Schriftlichkeit und der Lesekundigkeit sowie der Buchdruck, der eine, gemessen an den Handschriften, gigantische Vervielfältigungsmöglichkeit brachte. Aber die Bildlesefähigkeit ging nicht verloren, sondern der Zugang zum früheren «Bildvokabular» wurde reduziert oder ist ganz geschwunden. In ähnlicher Weise wandelt sich ja die Sprache, manche Ausdrücke werden nicht mehr verstanden. Daß die Bildlesefähigkeit sich nur verlagert hat, beweist das tägliche Leben immer wieder, wenn man Verkehrszeichen, Markenzeichen, Bedienungsanweisungen für Maschinen, elektronische Schaltzeichen oder gar die graphische Benutzeroberfläche eines Computers entziffern und verstehen muß. Unter den Informationselementen, die den Inhalt eines Bildes vermitteln (s. Kapitel 2), spielen die Gebärden eine besondere Rolle; gerade bei ihnen hat das verständliche Vokabular sich offensichtlich drastisch reduziert. Diese Reduktion begann jedoch schon in der historischen Phase - die Bildforschung stellt immer wieder fest, daß die gebärdentechnische Ausdruckskraft gegen Ende des Mittelalters mehr und mehr abnimmt, was die Lesbarkeit der Bilder, teilweise erheblich, reduzierte. Im täglichen Leben hat sich allerdings manches vom alten Bestand bis in unser Jahrhundert erhalten, vor allem im Bereich der Schand- und Spottgebärden, etwa mit dem im Mittelmeerraum wurzelnden Zeigen der «langen Nase» (Abb. 6). Auch das moderne Rechtsleben verfügt über eine Gebärde, die in ihrer speziellen Verwendung bis ins frühe Mittelalter zurückzuverfolgen ist, die Schwurgebärde (Abb. 7). Die moderne Volkskunde hat sich der Gebärdensprache wieder angenommen und mit dem Begriff der «nonverbalen Kommunikation» ein besonderes Schlagwort geschaffen. Eine niederländische Sammlung von Gebärden des täglichen Lebens enthält sogar ein Beispiel mit einem straf-rechtsgeschichtlichen Bezug, nämlich die Gebärde zur Formulierung «einen Kopf kürzer machen» (Abb. 8). Ebenso nützt der kommerzielle Bereich (Verkaufstechnik) diese Möglichkeit einer visuellen Sprache; eine gewisse historische io i. Bildsprache und Bildverständnis Parallele dazu bilden die Zahlengebärden in den Mittelmeerländern, -welche beim Aushandeln von Preisen und damit auch im rechtsgeschäftlichen Verkehr eine wesentliche, Sprachbarrieren überbrückende Hilfe waren (Abb. 9). Aus den vor Augen geführten Gründen für das Zurücktreten der Funktion und Bedeutung des Bildes in der rechtsgeschichtlichen Forschung und Lehre ergeben sich auch die Ansatzpunkte zu einer Verbesserung. Die Affinität des Juristen zur Schriftquelle ist ohnedies keine ernste Hürde, die technischen Schwierigkeiten sind angesichts der heutigen Möglichkeiten, die bis zur digitalisierten Bildverarbeitung reichen, auch nicht mehr nennenswert. So bleiben als wesentliche Ansatzpunkte einer Verbesserung des Zuganges zur visuellen Rechtssprache für die beiden folgenden Abschnitte das zu geringe spezifisch juristische Bildmaterial und die mangelnde Bildlesefähigkeit. Die visuellen Quellen des Rechts Verfolgt man den rechtshistorischen oder auch historischen Quellenbegriff, der ja weit angelegt ist, konsequent in Richtung Bild, so verlangt dies allerdings, um Ordnung und Klarheit zu schaffen, nach einer gewissen Typisierung der Quellen der visuellen Rechtssprache. Eine praktikable Möglichkeit wäre - in Anlehnung an die Systematisierung schriftlicher Quellen - die Unterscheidung in primärjuristische sowie sekundärjuristische Bilder. Zu den primärjuristischen Bildern zählen jene, die sich aus illustrierten Rechtsaufzeichnungen, illustrierter juristischer Literatur und illustrierten Aufzeichnungen von Rechtstatsachen (Urkunden, Traditionsbücher, Urbare, Grundbücher, Stadtbücher, Testamentenbücher) ergeben. Hierher wird man aber auch jene Einzelillustrationen - mit einer zeitlichen Spannweite bis zur Gegenwart - rechnen müssen, die von ihrer Grundthematik her einen Rechtsbezug aufweisen, wie Gerichtsbilder, Gerechtigkeitsdarstellungen, Strafvollzugsoder verfassungsrechtliche Szenen (Tafelbilder, Einblattdrucke, Zeichnungen, Photos). Die rechtliche Zuordnung dieser verschiedenen Illustrationsgruppen kann allerdings nur auf der Basis einer widerlegbaren Vermutung erfolgen -hier hat die rechtsikonographische Methode (s. Kapitel 2) das letzte Wort. Schon in diesem Bereich zeigt sich auf den ersten Blick, daß das Quellenpotential bisher nur oberflächlich genutzt wurde. Über das häufiger verwendete Material hinaus, wie die Sachsenspiegelbilderhandschriften (Abb. 4, 61, 62, 73, 74, 78, 83, 84, 102, 124, 126, 132, 134, 13 j, 140, 168, 183, 206, 237, 247, 2j2, 253), das Hamburger Stadtrecht (Abb. io, 52, 70, 87) und die Constitutio Criminalis Bamber-gensis (Abb. 11, 235, 244), gibt es eine ganze Reihe weiterer Quellen. Für das Mittelalter sind unter den Rechtsaufzeichnungen ganz besonders die Illustrationen zu Handschriften des Corpus iuris civilis (Abb. 12, 40, 42, 44, 45, 59, 60, 72, 76, 88, 166,167,170,171,174,175,179,180, 18 j) und des Decretum Gratiani (Abb. 13, 75, 101, 105, 146, 154, 164, 19S, 242, 248) hervorzuheben. Daneben treten die vereinzelt illustrierten Stadt- und landrechtlichen Aufzeichnungen bildmengenmäßig in den Hintergrund, ohne jedoch im einzelnen nicht doch bedeutsam zu sein (Abb. 14,56) - manchmal gibt es nur eine Titelminiatur oder einen Titelholzschnitt. Beim juristischen Schrifttum reicht die Angebotspalette von Einzelülustratio-nen, etwa in einem lehenrechtlichen Kommentar von Alva-rotti (Abb. 15) bis zu abschnittsorientierten Bildbeigaben in einer Summe des Azo (Abb. 16) oder in den zahlreichen -bisher praktisch nur von der Germanistik (N. H. Ott) genutzten - Handschriften und frühen Drucken zum Belial (Abb. 17). Bei Aufzeichnungen über Rechtstatsachen ist man auf gelegentliche Einzelillustrationen (Abb. 202) angewiesen. In der Neuzeit finden die romanistischen und kanonisti-schen Rechtsauf Zeichnungen als Drucke ihre Fortsetzung unter oftmaliger Beibehaltung der Illustrationsweise (Abb. 18,19,182), was den neuzeitlichen Aussagewert natürlich relativiert. Für Stadt- und landrechtliche Aufzeichnungen gilt dasselbe wie im Mittelalter, sie werden meist mit Titeldarstellungen ausgestattet (Abb. 20, eine Ausnahme bildet Abb. 189); diese Tradition hält sich bis ins 18. Jahrhundert (Abb. 21). Das rechtswissenschaftliche Schrifttum ist in der Neuzeit sehr stark vertreten und auch im Illustrationsbereich bis in das 18. Jahrhundert hinein ergiebig: Vor allem seien hier die zahlreichen Ausgaben zu Joost Damhouders Zivil- und Kriminalpraxis erwähnt, die über reichhaltiges Bildmaterial verfügen (Abb. 22, 43, 66, 89, 142, 165, 181, 207, 2io, 222, 243, 246, 250, 2jj, 256), aber auch Autorennamen wie Ulrich Tengler (Abb. 7, 224, 230, 245) oder Justinus Gobler (Abb. 133) gehören hierher. Daneben finden sich viele Werke, die wiederum mit manchmal sehr gehaltvollen Einzelillustrationen (Abb. 23, 249) ihren Beitrag zum Thema Bild und Recht leisten. Praktisch unergiebig sind die wissenschaftlichen Dissertationen. Bei Aufzeichnung« Rechtstatsachen (Abb. 24, 2j) verliert sich der ohnedlf spärliche Hang zu Illustrationen mit zunehmender Fui nalität vollständig. Eine spezielle Kategorie primärjuristischer Bildquell den sowohl für das Mittelalter als auch für die N Objekte (Realien). Es handelt sich hier vorwiegend um liehe Realien, die auf Grund ihrer traditionellen Verank im Rechtsablauf visuelle rechtliche Informationen v. teln, wie Gerichtsgebäude (Abb. 35), Herrschaftsz (Abb. 36, 94, 99), Amtszeichen (Abb. 37), Gegenstänt prozessualer Funktion (Abb. 232), Strafgeräte (Abb. 3! 2ii, 212, 214, 216, 233), Gerätschaften des zünftisch bens, Kerbhölzer (Abb. 200) mit privat- oder öffentlich licher Funktion oder Verbotszeichen (Abb. 46). Bieten die primärjuristischen Quellen bei entspreel Nutzung schon eine beachtliche Ausweitung, so ergil durch die vielfältigen Wege zu sekundärjuristischen E eine enorme Erweiterungsmöglichkeit des verwer Bildbestandes. Allerdings wird bei diesem Quellent für eine widerlegbare Vermutung, in der Art wie sie t primärjuristischen Bildern schon durch den Sachzusar hang möglich ist, nur selten Platz sein. Das wird me dann funktionieren, wenn rechtlich leicht verständlich demente vorhanden sind: Herrscherdarstellungen (Al Strafvollzugsszenen (Abb. 31) und gerichtliche ! (Abb. 26) - allerdings kann auch hier noch durch eine < zierte Interpretation (s. Kapitel 2, 2. Absatz) die rec Aussage eingeengt oder ausgeweitet werden. In vielen wird man nicht umhin kommen, von vornherein durc Iyse des Sachzusammenhanges (Bildtitel bei singulär dem, Text bei illustrierten Handschriften oder Drucke nähere Bestimmung vorzunehmen, bevor man von rechtlichen Bild sprechen kann: Das kann auch f primärjuristischen Bereich gelten, wie eine dem He: Stadtrecht beigegebene Miniatur (sie zeigt einen throj , alten Mann) belegt, bei der man nur durch Textrecherc geiner rechtlichen Erklärung kommt (Abb. 14). Eine Überlegung muß bei der Nutzung von Sekundärjurist |Üdmaterial ebenfalls berücksichtigt werden: Es ist d ismus in den Bildern. Die ständige Frage, wie weit di< ||ftsächliche rechtliche Zustände oder Vorgänge wiede: nur in permanenter kontrollierender Beziehu Reduzierend auf die Quellensituation wirken andere Komponenten : Die Kommerzialisierung durch das ertragsorientierte Druckergewerbe ist nicht zu unterschätzen - man verringert die Zahl der Bildbeigaben, setzt sie oft in zusammenhangloser Mehrfachverwendung ein und sucht diese aus verkaufstechnischen Gründen an gut sichtbarer Stelle (Vorsatzblatt oder Titeliüustration, vgl. Abb. 91) zu positionieren. Von Einfluß dürfte beim Rückgang der Illustrarionsfreu-digkeit wohl auch die neue Rolle des Textes angesichts der zunehmenden Textlesefähigkeit gewesen sein. Schwerwiegend wirkt sich - und dies besonders im Sakralbereich - der immer mehr zurückgehende Realismusbezug in den Illustrationen aus. Bibelillustrationen, Tafelbilder und Glasfenster werden damit immer seltener rechtlich verwertbar. Dazu kommt, ähnlich wie bei den primärjuristischen Bildern, daß die Kontinuität oder auch die Wiederaufnahme mittelalterlicher Bildinhalte die neuzeitliche Aussagekraft reduziert, beispielsweise das Stabbrechen des Pilatus in den Passionsdarstellungen des 19. Jahrhunderts. Die Bildlesefähigkeit Während die Bildquellensituation durch die Anwendung eines entsprechenden Quellenbegriffes und Such- und Sammeltätigkeit relativ leicht verbessert werden kann, ist die Situation bei der Bildlesefähigkeit etwas schwieriger. Es bereitet schon genug Probleme, Bilder mit allgemeiner Thematik zu lesen und zu interpretieren - die kunstgeschichtliche Literatur legt darüber beredtes Zeugnis ab. Beim rechtlichen Bild kommt nun aber noch die fachspezifische Seite dazu. Zu allgemeinen Ausdrucksformen, allgemeinen räumlichen und sachlichen Gegebenheiten tritt nun das spezifisch rechtliche Erfordernis: Welche Elemente an dem Bild drücken Rechtliches aus, das ist die grundsätzliche Fragestellung, Besondere Probleme bereiten dabei die Doppelbedeutung von Biidele-menten und die Ermittlung einer rechtlichen Gesamtaussage. Das Problem der Doppelbedeutung betrifft die Tatsache, daß Bildelemente mit vorwiegend oder ausschließlich alltäglicher Charakteristik genauso eine rechtliche Bedeutung oder Funktion haben können, wie auch vorwiegend rechtlich bestimmten Bildelementen eine Alltagsfunktion zukommen kann. Beispielsweise kann ein Haustier als alltägliches Element sehr wohl in vielfältiger Hinsicht Gegenstand rechtli- cher Aussage sein, etwa als Pfandobjekt oder als Objekt von Haftungsansprüchen (Abb. 40, 165, 184). Umgekehrt muß nicht jeder Stab sofort gerichtliche Funktionen symbolisieren: Es kann sich einfach um einen Spazierstock, einen Pilgerstab oder den Stab des Haushofmeisters handeln (Abb. 31). Aus dieser Problematik ergeben sich gewisse Grundforderungen im Hinblick auf die Bildlesefähigkeit, nämlich neben der Bildthemenkunde auch die Sachkunde. Die Bildthemenkunde wird in erster Linie von der Art der benützten Quelle bestimmt. Hier wird die Situation dann am eindeutigsten sein, wenn die Illustration über einen klar zuzuordnenden Titel verfügt oder wenn ein entsprechender Begleittext vorhanden ist. Wenn man über kein Bildthema verfügt, kann es ohne weiteres vorkommen, daß die Interpretation eines Bildes in rechtlicher, manchmal auch in allgemeiner Hinsicht nicht möglich ist. Gelegentlich können hier -ohne ausdrückliches Bildthema - traditionell bestimmte Ausdrucksformen als Ersatzinformationen dienen, etwa beim Salomonischen Urteil im Kinderstreit die Szene, wo die Henker gerade das Kind mit dem Schwert zu halbieren drohen (Abb. 28) oder bei der Causa der Susanna, die von den zwei Alten aus dem Hinterhalt beim Baden beobachtet wird (Abb. 41). Die Bildthemenkunde ist ein sehr vielseitiger, interdisziplinär bestimmter Bereich, denn es können historische, sakrale, literarische, volkskundliche aber auch rechtliche Informationen die Basis der Themenbestimmung bilden. Ähnlich vielschichtig ist die Situation im Bereich der Sachkunde, nicht nur, weil hier neben den allgemeinen sachlichen Informationen über Personen und Realien auch das spezifisch Juristische eingebracht werden muß. Die Vielschichtigkeit kommt vielmehr vom juristischen Element selbst und hat wieder zwei Seiten, eine inhaltliche und eine methodische. Die inhaltliche Vielschichtigkeit des rechtlichen Bildes ergibt sich aus der Tatsache, daß das Recht keine homogene Masse an Vorschriften ist, sondern sachlich strukturiert erscheint. Diese Strukturierung ist abhängig vom Grad der Kompliziertheit der Lebensumstände und von der Entwicklungsstufe des Rechts selbst. Eine einfache Strukturierung kennt das mittelalterliche städtische Rechtsleben mit der Teilung in Privat- und Strafrecht. Der Sachsenspiegel strukturiert nach Landrecht oder Lehnrecht und läßt auch noch weitere Kategorien, wie das Stadt- und Landrecht, Dorfrecht oder Dienstrecht erkennen. Je weiter in Richtung Gegenwart, desto komplizierter wird die sachliche Strukturierung 14 i- Bildsprache und Bildverständnis bei Sklaven ein Bildthema vorgegeben ist, so kann auf Grund des konkreten Befundes dann die rechtliche Gesamtaussage auf «Gewährleistung für Mängel bei Tieren» lauten (Abb. 44). Die Gesamtaussage sollte möglichst eng getroffen werden, damit der Verständnisspielraum für den späteren Benutzer eingeengt wird. Bei dem oben angeführten Beispiel würde als Gesamtaussage «Mängelhaftung beim Kauf» durchaus entsprechen, aber doch den Möglichkeiten über den Inhalt des rechtlichen Bildes zu viel Spielraum offen lassen. Gelegentlich wird man allerdings nicht umhin können, bei weniger gehaltvollen Bildern oder bei Konzeptionsmängeln mit groben Gesamtaussagen arbeiten zu müssen. Auch hier wieder ein Beispiel aus dem Bereich des Corpus iuris civilis: Ein Bild ist dem Abschnitt über die Rechnungslegung zugeordnet und zeigt zwei Parteiengruppen, eine davon mit einem Schriftstück und einen Richter (Abb. 4$) - hier wird die Gesamtaussage sicherlich nur «prozessuales Bild» lauten können.