Der Entdeckungsbericht des Anderen Erreiste Intertextualität in Felicitas Hoppes Pigafetta Ortrud Gutjahr Nach dem topologisch-chronologischen Muster des Reiseberichts wird in Felicitas Hoppes 1999 erschienenem Roman Pigafetta eine narrativ denkbar einfach organisierte Geschichte erzählt: Eine namenlos bleibende Ich-Erzählerin umrundet als zahlende Mitreisende auf einem Frachtschiff die Welt. Doch auch wenn sie von Hamburg aus die Nordsee, den Atlantik, Panamakanal, Pazifik, Indischen Ozean und Suezkanal, das Mittelmeer, die Straße von Gibraltar wie auch auf der Rückfahrt in den Heimathafen wiederum den Ärmelkanal durchquert und das Schiff in großen Hafenstädten wie New York, Sydney, Hongkong oder Singapur anlegt und Stationen auf Tahiti und Neuseeland, in Korea oder Taiwan angefahren werden, weiß die Erzählerin von exotisch fernen und kulturell vielversprechenden Orten erdenklich wenig zu berichten. Ganz offensichtlich ist ein modernes Containerschiff, das auf den großen Seehandelswegen verkehrt und unter dem Zeitdiktat eines weltumspannenden Warenverkehrs einzelne Stationen nur enpassant anläuft, für eine Entdeckungsreise, bei der das Unbekannte erkundet werden soll, nur bedingt geeignet. Die kurzen Liegezeiten in den Häfen, die der Ab- und Verladung von Containern auf der knapp viermonatigen Handelsfahrt dienen, erlauben nur einen flüchtigen Blick auf die passierten Weltgegenden, keinesfalls aber ein Verweilen nach interessegeleiteter eigener Zeiteinteilung. Erzählt wird somit über eine erstaunlich weltarme Reise, bei der weder ein individueller Auftrag noch ein angestrebtes Ziel gegeben ist und die in schweifenden Augenschein genommenen Orte in eine ferne Fremde gerückt bleiben. Mithin bildet der topologische Verlauf der Reise, die im Hamburger Hafen beginnt und dort auch wieder endet, ganz offensichtlich nicht den Gegenstand des Erzählens, sondern dient lediglich als loser Leitfaden, um über eine Schiffs-Reise im ganz buchstäblichen Sinne zu berichten. Denn auf dem die 240 ORTRUD GUTJAHR Weltmeere durchkreuzenden Frachter selbst findet die Erzählerin das schwankende Terrain ihrer Erkundungen und die Sujets ihrer Darstellung. Sie wird zur ethnographischen Beobachterin der Sitten und Gebräuche an Bord wie auch der Beziehungsdynamiken zwischen den Mitgliedern der Crew und den nur wenigen Mitreisenden, betätigt sich als Berichterstatterin über die technische Ausstattung des Handelsschiffes und als Schatzsucherin nach dem geheimnisvollen Inhalt der 1.700 Container. Vor allem aber erobert sie sich statt fremder Weltgegenden einen Reisekurs ganz eigener Art: Denn während sich das Schiff auf hoher See befindet und die Mahlzeiten zu den einzigen Höhepunkten des Tages werden, vertreibt sie sich die ereignislose Zeit durch das Navigieren nach Texten, in denen die Erkundungen fremder Weltgegenden beschrieben und mythische Geschichten über das Meer verzeichnet sind. So beginnt für die Erzählerin mit dem Aufenthalt an Bord eine Reise auf den Spuren überlieferter Bordbücher und Reiseberichte in die Welt der Entdeckungsfahrten. Auf diese intertextuellen Bezüge1 wurde in den nur spärlich vorhandenen Rezensionen, Interviews und Aufsätzen zum Roman besonders verwiesen, wobei festgestellt wurde, dass Hoppe einen mit Elementen des Märchens und der Satire durchsetzten, auf Zitationstechniken basierenden, schwer entzifferbaren postmodernen Roman verfasst habe.* So lässt sich das Buch, das mit seinen etwas mehr als 150 Seiten 1 Sic umfassen unter anderem die Sage vom fliegenden Holländer und Verweise auf Edgar Allan Poes Arthur Gordon Pym (1838), Herman Melvilles Moby Dick (18 j 1) und Joseph Conrads Heart of Darkness (1899). 2 Vgl. hierzu vor allem Michaela Holdenried, »Ein unbekannter Stubengenosse Schillers, das Tropenverdikt Ottiliens und die Suche nach dem Berbiolettenfell. Anmerkungen zur postmodernen Zitationspraxis und Autorschaft im Werk von Felicitas Hoppe«, in: www.goethezeitportal.de/fiIeadmin/PDF/kk/df/ postkoloniale_studien/holdenried_hoppe.pdf, zuletzt gesehen am 29.04.2009, S. 9. Vgl. weiterhin Gudrun Boch, »Laudatio auf Felicitas Hoppe«, in: Neue Rundschau 118.2 (2007), S. 163-168. - Wiebke Eden, »Felicitas Hoppe: >In meinen Texten will ich machen, was ich will«, in: dies., »Keine Angst vor großen Gefühlen«. Schriftstellerinnen - ein Beruf, elf Porträts, Frankfurt a. M. 2003, S. 66-79. ~ Hans-Joachim Hahn, »Psychoanalytische Literaturinterpretation als Leseerlebnis und Texthermeneutik. Zu den Erzählungen von Felicitas Hoppe«, in: Convivium (2000), S. 65-83. - Felicitas Hoppe, »Handbuch der Feinmechanik: die Erzählerin Felicitas Hoppe«, in: Aufgerissen. Zur Literatur der 90er, hg. v. Thomas Kraft, München 2000, S. 127-140. - Sascha Michel, »Von Zufall zu Zufall. Felicitas Hoppe sprach über die Sprache des Reisens«, in: Frankfurter Rundschau vom 28.oj.2002. - Stefan Neuhaus, »Gespräch mit Felicitas Hoppe«, in: Deutsche Bücher 34.1 (2004), S. 5-12. - Peter Schanz, »Steh auf, nimm den Koffer und geh: über Felicitas Hoppe«, in: Ralf Rothmann trifft Wilhelm ERREISTE INTERTEXTUALITÄT IN »PIGAFETTA« leicht in jedes Handgepäck passt, in der Tat auch als märchenhaft verschrobener Reiseroman lesen. Wer aber den Spuren der Reiseliteratur nachgehen möchte, die diesem experimentellen Text eingeschrieben sind, kommt kaum umhin, sich mit seinen erzählerischen Besonderheiten, insbesondere aber mit der artifiziellen Erzählinstanz, auseinanderzusetzen. Denn die Erzählerin reist in Hoppes Roman auch in bekannten Gewässern nach dem Muster der Entdeckungsreise, indem sie sich in komplizenhafte Beziehung zu einem Gewährsmann des Rei-sens setzt und sich damit am Reisebericht eines Anderen orientiert: Unter der schwankenden Uhr an der Wand meiner Kabine im dritten Stock über dem Atlantischen Ozean sitzt Pigafetta und lauscht dem Vergehen der Zeit. Vor ein paar Jahren, wann, spielt in seiner Zeitrechnung keine Rolle mehr, hat er das Interesse für die Angelegenheiten des Festlands verloren und ein Schiff bestiegen. Als ich die Tür öffne, beginnt er zu lachen. Er erkennt mich sofort, ich bin nie auf einem Schiff gewesen. Jetzt sitzen wir in derselben Falle, unterwegs in westlicher Richtung.' Dieser Pigafetta, der sich in der Kabine der Erzählerin eingenistet hat, ist bei Hoppe eine komplexe Wiedergänger- und Erzählfigur. Sein Name, der dem Roman den Titel gab, steht einerseits für den ersten professionellen Schreiber, der je über eine Weltumsegelung berichtet hat, andererseits aber auch für eine phantasmatische Figur der Romanwelt, die für die Reisende zum Alter Ego ihres Erzählens wird. Die Erzählung über die Reise auf dem Frachtschiff wird also nicht allein von der Reisenden als homodiegetischer Erzählerin organisiert, wie dies dem gattungstypologischen Standard des Reiseberichts entspricht, sondern auch durch eine extradiegetische erzählte Figur, die als homodiegetische Erzählerfigur nicht nur die eigene Geschichte einbringt, sondern auch die der Erzählerin unterminiert, überlagert und damit auf einen unvorhergesehenen Kurs lenkt. Kennzeichnend für diese Erzählfiguration sich überblendender Erzählstimmen ist nun aber, dass die Erzählerin und ihr Alter Ego nicht nur hinsichtlich Alter, Geschlecht und Erfahrung In der Seefahrt als Kontrastfiguren Raabe, hg. v. Hubert Winkels, Göttingen 2005, S. 139-148. - Erhard Schütz, »Das Schiff geht unter und der Text zieht dahin. Felicitas Hoppes erster Roman >Pigafetta<«, in: www.freitag.de/1999/13/99132801.htm, zuletzt gesehen am 10.03.2009. - Christoph Steven, »Felicitas Hoppe. Pigafetta«, in: rezensionen. literaturwelt.de/content/buch/h/t_hoppe_felicitas_pigafetta_chst_i2893.html, zuletzt gesehen am 10.03.2009. 3 Felicitas Hoppe, Pigafetta, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 11. z42 ORTRUD GUTJAHR konzipiert sind, sondern auch bezüglich ihrer Konkretion als Figuren unterschiedlichen Status gewinnen. Zwar weist die namenlose Erzählerin, was wiederum kennzeichnend für das Genre des Reiseberichts ist, mit ihrem Reisevorhaben autobiographische Koinzidenzen mit der Autorin Felicitas Hoppe auf, die von Hamburg aus auf einem Frachtschiff eine Weltreise unternahm, über die sie zunächst in Form von Zeitungsessays geschrieben hat,4 doch bleibt sie als Figur der Diegese schemenhaft und erweist sich in autopoetischem Gestus in der Kunst der weltumrundenden Hochseeschifffahrt als ängstliche Anfängerin. Pigafetta weist sich demgegenüber schon durch seinen Namen als historisch verbürgter Autor aus, der bereits einen eigenen Bericht über eine Weltreise einbringen kann. Der professionelle Schreiber und das Genie der Seefahrt Francisco Antonio Pigafetta (um 1480/90 bis ca. 1534), Sohn einer Patrizierfamilie aus dem italienischen Vicenza, war der erste professionelle Schreiber, den der portugiesische Kapitän Ferdinand Magellan (1480 bis 1521) an Bord nahm, als er am 10. August des Jahres 1519 im Auftrag der spanischen Krone aufbrach, um zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Welt zu umschiffen.* Karl V. hatte sich bereit erklärt, eine Armada von fünf Schiffen bereitzustellen, da Magellan ihn von seiner Idee überzeugen konnte, dass es im Süden Amerikas eine Wasserstraße gebe, die den westlichen Weg zu den kaufmännisch einträglichen Gewürzinseln ermögliche. Zugleich gab er einen Reisebericht in Auftrag, da er die Schiffsroute für spätere Handelsreisen dokumentiert wissen wollte und sich darüber hinaus Kenntnisse über die Schätze der angelaufenen Stationen sowie die bei der indigenen Bevölkerung durchgeführten Bekehrungen zum Christentum zu verschaffen suchten 4 Vgl. hierzu: Olga Olivia Kasaty, »Ein Gespräch mit Felicitas Hoppe«, in: dies., Entgrenzungen. Vierzehn Autorengespräche über Liebe, Leben und Literatur, München 2007, S. 130-168. $ Magellan machte sich mit den fünf Segelschiffen Trinidad, San Antonio, Con-cepcion, Victoria und Santiago auf. Am 10. August legte die Flotte von Sevilla ab, steuerte in den Hafen von Sardücar de Barrameda und stach am 20. September in See. 6 Der Portugiese Barthoiomeu Diaz hatte 1488 als erster Europäer das Kap der Guten Hoffnung umrundet und damit den Weg in den Indischen Ozean gefunden. Bereits am 8. Juli 1497 hatte ein wohlausgeriistetes Geschwader unter der Führung Vasco da Gamas Lissabon mit dem Ziel verlassen, die Stadt Kalikut ERREISTE INTERTEXTUALITÄT IN »PIGAFETTA« 243 Magellan erreichte das hochgesteckte Ziel seiner Entdeckungsreise: Er fand die gesuchte Wasserstraße südlich des Rio de la Plata, die vom Atlantik aus zu den Molukken führte. Doch nach Hause kehrte er nicht zurück, denn er fand auf den Philippinen den Tod, und nur eines der ursprünglich fünf Schiffe erreichte drei Jahre nach der Abreise mit nur achtzehn der vormals 265 Männer den Heimathafen.7 Unter den wenigen Überlebenden war auch Pigafetta, der vierzehn Jahre nach dem Ende der Expedition in Venedig seine Primo viaggio intorno al globo veröffentlichte. Zwar ist der Originalbericht verloren gegangen8 und der deutschen Übersetzung unter dem Titel Die erste Reise um die Erde. Ein Augenzeugenbericht von der Weltumsegelung Ma-gellans liegen lediglich Kopien der Aufzeichnungen in italienischer, französischer und englischer Fassung zu Grunde,9 doch lässt sich dessen Grundstruktur deutlich erkennen. Pigafettas Bericht, der durch knappe, Orientierung gebende Überschriften gegliedert und mit wenigen Handzeichnungen versehen ist, wechselt in der für den Reisebericht der frühen Neuzeit üblichen Manier zwischen berichtenden und anekdotischen Passagen.10 Gemäß Auftrag wird über Fahrtrouten und Vorkommnisse auf dem Schiff, über Handelsaktionen, die Erkundung von Goldvorkommen wie auch missionarische Tätigkeiten berichtet. Ausführlich wird dargelegt, wie Magellan die Bewohner der philippinischen Inseln taufen ließ und wie auf Borneo Götzenbilder verbrannt wurden, als die Eingeborenen zum christlichen Glauben übertraten. Beschrieben werden Aussehen, Sitten, Gebräuche, Kleidung, Essgewohnheiten voller Gewürze, Porzellan, Seide und Parfüm an der Malabarküste auf dem Ostweg zu erreichen. Am 20. Mai 1498, zehn Tage bevor Kolumbus seine dritte Fahrt antrat, erreichte der portugiesische Kapitän die indische Küste, die er jedoch am 29. August wieder verlassen musste, da bereits mohammedanische Kaufleute um den Wert der Stadt wussten und sie verteidigten. 7 Zu Magellans Weltumseglung vgl. Peter Bufe, Die erste Weltumseglung, Berlin 1987- 8 Der vollständige Titel seiner Aufzeichnungen lautet: Primo viaggio intorno al globo: Die erste Reise um die Erde oder Bericht von der Fahrt nach Ostindien auf dem Westweg niedergeschrieben von dem Ritter Antonio Pigafetta, einem Adeligen aus Vicenza auf dem Geschwader des Kapitäns Magaglianes während der Jahre 1119-1522. Antonio Pigafetta, Die erste Reise um die Erde. Ein Augenzeugenbericht von der Weltumsegelung Magellans 1519-1522, hg. u. übersetzt v. Robert Grün, Tübingen/Basel 1968, S. 51. 9 Diese Übersetzungen können nicht als wortgetreu gelten. Vgl. hierzu die Anmerkungen zur Edition in ebd., S. 289. 10 Vgl. Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden. Reisende und Entdecker, Berlin 1994, S. 10. 244 ORTRUD GUTJAHR und Krankheiten der indigenen Bevölkerung" sowie das Klassen-und Kastenwesen auf verschiedenen Inselgruppen oder auch spezielle Fertigkeiten wie die Gewinnung des Moschus. Darüber hinaus werden unbekannte kulturelle Praktiken hinsichtlich Körperverände-rung11 und Sexualität zum Thema sowie Schindungen und Witwenverbrennungen. Diese Darstellungen der Fremdartigkeiten ferner Weltgegenden werden durch die Wiedergabe phantastischer Erzählungen der indigenen Bevölkerung, etwa über einen Frauenstaat13 oder die Menschenfresser,x* noch verstärkt. Pigafetta wusste die Weltreise zu einem im Sinne des Auftraggebers ertragreichen wie auch abenteuerlichen Unterfangen zu verdichten, dessen Wert nicht unterschätzt werden konnte, wie er dies in selbstbewusster Autorposition am Ende seines Berichts vermerkt: Von Sevilla begab ich mich nach Valladolid, wo ich Seiner Majestät dem Kaiser weder Gold noch Silber übergab, aber dafür andere Dinge, die in seinen Augen viel kostbarer waren. Unter anderem überreichte ich ihm ein Buch, in dem ich Tag für Tag alles niedergeschrieben hatte, was uns auf unserer Reise zu den Molukken begegnet ist.1* Pigafettas Reisebericht wurde aber nicht nur ein kostbarer Erfahrungsschatz, weil in ihm die erste Weltreise als Ganzes und die Entdeckung der Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik im Besonderen dokumentiert sind,1* sondern auch, weil erst er den Ruhm des getöte- 11 Berichtet wird von der Syphilis auf Timor; vgl. Pigafetta, Die erste Reise um die Erde, S. 245. 12 Es wird beispielsweise von Menschen berichtet, »die in den Ohrläppchen so große Löcher haben, daß man einen Arm durchstecken kann«. Ebd., S. 108. 13 »Unser Pilot erzählte uns ferner von der Insel Ocoloro, die nicht weit von Java entfernt ist. Diese Insel wird nur von Weibern bewohnt, die vom Wind befruchtet werden. Bringt eine von ihnen einen Knaben zur Welt, wird dieser auf der Stelle getötet, »st es aber ein Mädchen, wird es aufgezogen. Kein Mann darf es wagen, sich dieser Insel zu nähern. Die Weiber brächten ihn um, würde er ihren Boden betreten.« Ebd., S. 247 f. 14 Pigafetta berichtet von Menschenfressern, von denen ihm der Steuermann erzählt habe. Ebd., S. 67. i y Ebd., S. 265. Pigafetta reiste daraufhin zum König nach Portugal, wo er »ausführlich von allem, was ich gesehen und erlebt hatte, erzählte«, und danach weiter durch Spanien nach Frankreich, wo er der Mutter Franz I. Geschenke aus der anderen Hälfte der Erde überreichte. Schließlich kehrte er nach Italien zurück, wo er dem Großmeister von Rhodos, Monsignore Filippo Villiers de risIe-Adam, sein Tagebuch übergab. 16 In der Folge erwies sich der Weg durch die Magellanstraße als zu gefährlich. Statt den neuen Seeweg im Süden Amerikas zu benutzen, wurden Gewürze ERREISTE INTERTEXTUALITÄT IN »PIGAFETTA« 24J ten Entdeckers gewährleisten konnte. Denn Pigafetta stilisiert den »Generalkapitän«, wie er Magellan ehrerbietig tituliert, zum gottgefälligen Entdecker, der vor Freude weinte,17 als endlich die zum Meer im Westen rührende Durchfahrt gefunden war, das er ob der ausbleibenden Stürme »Mare Pacifico«18 taufte. Vor allem aber im Bericht über die genauen Umstände seines Todes am 27. April 1 $21 auf der Philippineninsel Matan wird der Generalkapitän zum Heros der christlichen Seefahrt erhoben, wobei die Besiegelung seines Schicksals durch unermüdlichen missionarischen Eifer begründet wird. Denn auch auf den Philippinen versuchte Magellan, die Inselbewohner auf die spanische Krone einzuschwören,19 und laut Bericht wurden in Cebu, dem wichtigsten Hafen der Gegend, an einem einzigen Tag das Königspaar und mehr als 800 Menschen getauft. In einem lokalen Machtkampf auf Matan wurde Magellan zunächst von einem vergifteten Pfeil am Bein getroffen, dann wurde sein Gesicht mit einer Lanze verletzt und schließlich wurde ihm zweimal der Helm vom Kopf gerissen, ehe er sich aufgrund von Verletzungen am rechten Arm nicht mehr wehren konnte und von den Insulanern niedergemetzelt wurde: einer von ihnen stieß unserem Generalkapitän die Lanze so heftig in den linken Schenkel, daß er aufs Gesicht fiel. In demselben Augenblick warfen sich alle Feinde auf ihn und hieben mit ihren Waffen auf ihn ein. So kam unser treuer Führer, unser Licht, unsere Stütze, ums Leben.20 In deutlicher Reminiszenz an die Passionsgeschichte wird Magellans Ermordung als stellvertretender Opfertod verklärt, mit dem er das Überleben seiner Mannschaft gesichert habe.21 Zum Gedenken an den Generalkapitän, dessen Leichnam von den Einheimischen trotz und andere Güter mit Karawanen über den Landweg und die Meerenge Panamas transportiert und dann nach Europa verschifft. Innerhalb weniger Jahre geriet die Magellanstraße fast vollständig in Vergessenheit. 17 Pigafetta, Die erste Reise um die Erde, S. 89. 18 Ebd., S. 93. 19 Ende Januar hatten die Schiffe in Guam auf den Marianen angelegt, doch da die Einwohner zahlreiche Gegenstände und sogar ein Beiboot entwendeten (Magellan gab der Inselgruppe den Namen >Ladronen<, was soviel wie >Inseln der Räuber< bedeutet), musste anderweitig geankert werden und es wurde beschlossen, zu den Philippinen weiterzusegeln. 20 Pigafetta, Die erste Reise um die Erde, S. 161 f. 21 Kapitän Juan Sebastian Elcano führte die Weltreise zu Ende, indem er die Victoria, das letzte verbliebene Schiff, auf den Molukken mit Gewürzen schwer belud, über die Kaproute nach Europa zurücksegelte und am 6. September ORTRUD GUTJAHR Bitten der Mannschaft nicht herausgegeben wurde, fertigte Pigafetta eine Karte an, auf welcher der Todesort Magellans eingezeichnet ist, und widmete ihm in seinem Reisebericht unter der Überschrift »Alle Tugenden« ein Epitaph: Fernando Magaglianes ist tot. Aber ich hoffe, daß ihn sein Ruhm überleben wird. Er besaß alle Tugenden. Mitten in der größten Gefahr bewies er seine unerschütterliche Standhaftigkeit. Auf dem Meer unterwarf er sich selbst größeren Beschränkungen als die Mannschaft. Er besaß eine genaue Kenntnis der Seekarten und der Schiffahrtskunst als jeder andere Mensch auf Erden. Das geht schon daraus hervor, daß außer ihm niemand den Wagemut besaß, die Erde zu umsegeln, was ihm beinahe geglückt ist." Erst Pigafetta begründete durch seinen Reisebericht die Fama Magellans,2* indem er ihn als Genie der »Schiffahrtskunst« würdigte, als einen Entdecker, der vertraute Koordinaten verlassen hat und damit zum Heros einer neuen Zeit werden konnte. Diese epochale Erfahrung der Welterkundungsfahrt und die Form ihrer Heroisierung im Reisebericht ruft Felicitas Hoppe in ihrem Roman in autopoetischer Hinsicht auf, indem sie ihre Erzählerin, die zugleich auch Reisende ist, während der profanen Handelsfahrt erkunden lässt, was es bedeuten könnte, sich wie bei einer ersten Reise um die Welt aus dem Vertrauten hinauszubegeben und sich dem radikal Fremden auszusetzen. Die Fremde wird aber nicht in der Welt außerhalb gesucht, sondern im Reisebericht Pigafettas, der zum Pastiche des Romans wird, wie dies schon mit der Überschrift des ersten Romankapitels »Anordnung der Warnzeichen« verdeutlicht wird. Denn unter derselben Titulierung findet sich in Pigafettas Reisebericht die Erklärung, dass Warnzeichen Signale sind, mit denen der Generalkapitän den Schiffen der Armada befiehlt, in welche Richtung, mit welcher Geschwindigkeit und unter welcher Beflaggung zu segeln ist oder wann und wo Anker geworfen werden soll/4 Vor dem Hintergrund dieser Befehlsgewalt wird »der Generalkapitän« auch in Hoppes Roman zu einer i J22 Spanien erreichte. Der Verkauf der weit über zwanzig Tonnen Gewürze deckte die Kosten des Expedittonsunternehmens. 22 Pigafetta, Die erste Reise um die Erde, S. 162f. 23 Vgl. zur Fama-Funktion des Dichters Aleida Assman, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 39. 24 Vgl. Pigafetta, Die erste Reise um die Erde, S. 5 3 f. Pigafetta vermutet in seinem Bericht, dass der Generalkapitän Magellan, dessen Name von vielen Besatzungsmitgliedern so ausgesprochen wurde, »als hätten sie den des Teufels im Munde«, die Kapitäne der übrigen Schiffe durch seine genauen Vorschriften ERREISTE INTERTEXTUALITÄT IN »PIGAFETTA« 247 gespensterhaften Textfigur, welche sich hinter dem Rücken der Erzählerin als Kronzeuge vergangener Zeit bemerkbar macht und nur in den Augen ihrer Gesprächspartner gespiegelt erscheint, nie aber als direktes Gegenüber erkennbar wird. Denn das intertextuelle Gespräch führt sie mit dessen Schreiber Pigafetta, der vor nahezu 500 Jahren an der ersten Weltumsegelung teilnahm und dabei ein Geheimnis der Zeit entdeckte. Über die Zeiten hinweg im Gespräch mit Pigafetta Der italienische Landedelmann Pigafetta hatte am 10. Juli 1 jza auf der Heimfahrt nach Spanien festgestellt, dass sein Kalender nicht mehr mit dem der übrigen Welt übereinstimmte.** Dadurch wurde deutlich, dass diejenigen, welche die Erde in Richtung Westen umrunden, einen Tag >verlieren<, und diejenigen, die von Westen nach Osten reisen, einen Tag >gewinnen<. Dass sich die Erde um die eigene Achse dreht, wie dies schon Heraklit, Pythagoras, Aristoteles und Eratos-thenes vermutet hatten, konnte somit durch Pigafettas Beobachtung praktisch nachgewiesen werden. Vor dem Hintergrund dieser Entdeckung lässt Hoppe Pigafetta in ihrem Roman zu einem unsterblichen Seefahrer werden, der noch immer auf den Weltmeeren fährt, weil er den Kampf gegen die Zeit gewonnen hat. Durch diese metaleptische Figurenkonzeption kann gleichzeitig auf unterschiedlichen Zeitebenen erzählt und die topologisch weitgehend ereignislose Reise zu einer Zeitreise transformiert werden. Damit aber wird das Schiff als Heterotopos1* der Welt der Entdeckungen zu einem sowohl fest umgrenzten als auch labilen Chronotopos,27 der von Figuren unterschiedlicher zeitlicher Provenienz besetzt wird. Die Zeitverschiebun- »demütigen« wollte und dadurch der Hass, der gegen ihn als Portugiesen bestand, noch angestachelt wurde. 25 Vgl. Pigafetta, Die erste Reise um die Erde, S. 260. 26 Vgl. Michel Foucault, Andere Räume, in: Aisthesis, hg. v. Karlheinz Barck u. a., Leipzig 1990, S. 34-46' 27 Bachtin geht davon aus, dass »in der Literatur die Zeit das ausschlaggebende Moment des Chronotopos ist.« Michail M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, hg. v. Edward Kowalski u. Michael Wegner, aus dem Russischen v. Michael Dewey, Frankfurt a. M. 1989, S. 8. Vgl. auch Markus May, »Die Zeit aus den Fugen. Chronotopen der phantastischen Literatur«, in: Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, hg. v. Clemens Ruthner, Ursula Reber u. Markus May, Tübingen 2006, S. 173-187. 248 ORTRUD GUTJAHR gen und -Überlagerungen verdichten sich nun aber in der Nacht, nach dem Strukturprinzip des Traums, zu einem Begegnungsraum der Erzählerin und ihres Alter Ego. Denn Hoppes Roman, der sich mit seinen kleinteiligen Kapiteln unter sprechenden Überschriften als Formzitat von Pigafettas Reisebericht ausweist/8 wird durch neun Nocturnes rhythmisiert, in denen der Autor des Berichts auf die Stimme der Erzählerin antwortend, sie überlagernd oder zurückdrängend selbst das Wort ergreift, um biographische Bruchstücke seiner Reise zu erzählen. Das erste Nocturne, das den Roman einleitet, beginnt in der Manier eines Abschiedsbriefs an die Daheimgebliebenen29 mit dem Versprechen - das dem Reisebericht schlechthin eigen ist - »mit Bildern, die man sonst nicht zu sehen bekommt«,30 zu überraschen. Der autopoetische Gestus dieser Ankündigung verweist nicht nur auf die mit der Entdeckungsreise verbundene Hoffnung auf das überraschend Neue, sondern markiert auch die Distanz, welche zum Ort der Herkunft bereits mit dem Aufbruch zu neuen Ufern eingenommen wird. Doch erweist sich die Angst vor Schiffbruch und drohendem Untergang als dominierende Grundstimmung, weshalb die anstehende Weltreise zu einem »Ausflug« auf See verharmlost wird, bei dem es neben kleinen Utensilien lediglich der »Rettungsringe für jeden Finger«31 bedarf, um ihn heil zu überstehen. Während sich in solchen Passagen die Perspektive der von Hamburg Abreisenden mit der Pigafettas zu Beginn seiner Entdeckungsfahrt überlagert, wird mit dem für die Fahrt notwendigen »Empfehlungsschreiben an den Generalkapitän«31 auf die Ausfahrt von Magellans Armada verwiesen. So heißt es in Pigafettas Reisebericht unter der Angabe »Abfahrt von Sevilla, 10. August 1519«, den Schutz für die Reise heraufbeschwörend: »Es herrschte, als wir ausfuhren, strahlend blauer Himmel, und das sahen alle für ein gutes Vorzeichen an. Manche behaupteten sogar, sie hätten am Himmel die Heilige Jungfrau gesehen, die auf die ausfahrende Armada he- 28 Vgl. zur Funktion des Formzitats Andreas Böhn, Das Formzitat. Bestimmung einer Textstrategie im Spannungsfeld zwischen Intertextualitätsforschung und Gattungstheorie, Berlin 2001. 29 Vgl. zur Funktion des Briefes für die interkulturelle Verständigung meinen Aufsatz: Alternat und Interkulturalität, in: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, hg. v. Claudia Benthien u. Hans Rudolf Velten, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 345-369. 30 Hoppe, Pigafetta, S. 7. 31 Ebd., S.u. 32 Ebd., S. 7. ERREISTE INTERTEXTUALITÄT IN »PIGAFETTA« 249 runtergelächelt habe.«3* Auch Hoppe lässt die Ausfahrt ihrer Erzählerin unter dem Zeichen Pigafettas beginnen, indem sie dessen Formulierung nur wenig verkürzt ihrem Text einfügt: »Als wir ausfuhren, herrschte strahlendes Wetter. Einige meinten sogar, sie hätten die heilige Jungfrau gesehen, die von oben auf das Schiff herunterlächelte, und nahmen dies als ein gutes Vorzeichen. «** Insofern Hoppe dieses »Vorzeichen« in ihren Roman übernimmt, wird deutlich, dass sie gerade die Phantasmagorien des Reiseberichts zum Gegenstand des Erzählens werden lässt. So findet bereits in der zweiten Nacht ein Gespräch changierender Stimmen statt, bei dem erkennbar wird, dass Pigafetta gegenüber (s)einer Schwester »die heimliche Reise zum Kaiser, das Empfehlungsschreiben«35 verteidigt, während diese aus Angst vor »Zwergen mit großen Ohren« vor dieser gemeinsamen Unternehmung zurückschreckt. Deshalb hinterlässt Pigafetta bei seinem Aufbruch von zu Hause einen Brief nicht genannten Inhalts, der jedoch die Verbindung zum Abschiedsbrief der Erzählerin herstellt. In der dritten Nacht wird Pigafetta von der Stimme seiner Mutter heimgesucht, die ihn warnend fragt: »warum willst du uns verlassen und im Schweiß deines Angesichts Zwieback essen, durch den Würmer kriechen, und das Gold deines Vaters gegen Ratten und Mäuse tauschenwomit auf die Zeit nach der Durchquerung der Wasserstraße angespielt wird, als Magellans Besatzung drei Monate lang ohne frisches Wasser lebte, sich nur noch von rohen Mäusen, Ratten, Leder und von Maden durchsetztem Zwieback ernährte und 21 Besatzungsmitglieder an Skorbut starben.*7 Schon in der vierten Nacht berichtet Pigafetta in einem imaginären Tischgespräch mit seiner Schwester und den Eltern von dieser Zeit des Hun-gerns, während er in der sechsten Nacht dem Generalkapitäh von seiner Schwester erzählt, die ihn bewundert; doch der Generalkapitän kann ihn gar nicht hören, weil er sich wie Odysseus bei den Sirenen »die Ohren verstopft« hat, da die »jammernde Klugheit« der Schwester über die Sicherheit des Lebens »mit kleinen Booten, verläßlichen Rudern«38 nicht verstummen will. In der siebten Nacht wird über den Tod des Generalkapitäns berichtet, der mit einem Schlag auf den Hin- 33 Pigafetta, Die erste Reise um die Erde, S. j 5. 34 Ebd. 35 Hoppe, Pigafetta, S. 25. 36 Ebd., S. 4$. 37 Vgl. Pigafetta, Die erste Reise um die Erde, S. 92 f. 38 Hoppe, Pigafetta, S. 81 f. 250 ORTRUD GUTJAHR terkopf durch die »Kelle des dritten Kochs«59 herbeigeführt wird, was zugleich auf eine Streitszene an Bord des Frachtschiffes verweist 40 In der achten Nacht reflektiert Pigafetta das literarische Verfahren seines Reiseberichts, in dem er »alles ehrlich erfunden« habe, und stellt an seine Schwester, die nun in deutlichen Bezug zur Erzählerin rückt, die erzählerische Konkurrentenfrage: »Ist hier noch Platz für uns beide?«*' Auch im letzten Nocturne befindet sich Pigafetta im Gespräch mit der Erzählerin, der er nun versichert, dass sie »wie unsere Schwester« rede, um gleichsam in Übereinstimmung mit ihr beschwichtigend zu versichern, dass die ganze Reise »nichts als ein Ausflug gewesen sei«.42 In diesem neun Einträge umfassenden >Noctarium< werden Elemente aus der Biographie Pigafettas und Anekdoten aus seinem Reisebericht mit Reiseerlebnissen der Erzählerin wie auch mit beider Reflexionen über Gefahren und Bedeutung einer Weltreise überblendet. Pigafetta erweist sich als Nachtgestalt, die in der Gleichzeitigkeit traumartigen Erlebens auf verschiedenen Schauplätzen als Vexiergestalt ihrer selbst erscheint und ein anderes Sehen ermöglicht, wie dies auch in den Nachtstücken der Malerei plastisch zum Ausdruck kommt. Denn im Nachtstück, das sich als Bildgenre in der Zeit des 1 j.Jahrhundert etablierte und während der Zeit der Romantik eine Renaissance erlebte,45 wird die Nacht vermittels einer künstlichen Lichtquelle, die sich innerhalb der Bildwelt befindet, zum Gegenstand der Darstellung, wobei es nicht um bloße Sichtbarkeit, sondern um die Beleuchtung und gleichzeitige Abschattung bestimmter Bereiche geht.44 Somit erzeugt das Nach|stück die Illusion von Dunkelheit und 39 Ebd., S. 120. 40 Die ironische Darstellung der Ermordung des Generalkapitäns erinnert überdies an das Kinderlied: »Ein Mops kam in die Küche, / und stahl dem Koch ein Ei. / Da nahm der Koch den Löffel / und schlug den Mops zu Brei...« 41 Hoppe, Pigafetta, S. 13 5. 42 Ebd., S. 155. 43 Das Nachtstück entwickelte sich in der italienischen und niederländischen Malerei der zweiten Hälfte des 1 j. Jahrhunderts. In der Nachfolge von Caravaggio erwiesen sich in der niederländischen Malerei Gerard von Honthorst und später Rembrandt, in der französischen Malerei Georges de La Tour als Meister des Nachtstücks. Entscheidende Impulse für das Nachtstück in der Literatur gingen von den Landschaftsmalern Claude Lorrain und Salvator Rosa aus. Der Begriff Nocturne oder Notturno bezeichnet ursprünglich das Nachtstück in der Musik. 44 In der Romantik vollzieht sich eine deutliche Wandlung im Nachtstück, da nun unter den Bedingungen des Mondlichts die Dingwelt in eine fremde Wirklichkeit tritt und sich die Natur in ihrer geheimnisvollen Rätselhaftigkeit zeigt ERREISTE INTERTEXTUALITÄT IN »PIGAFETTA« 2JI stellt einen Ort der Verwandlung des Bekannten her,4' um eine häufig dämonisch-unheimliche, immer aber verfremdende Wirkung zu erzielen,*6 wie dies mit Pigafetta als schattenhaftem Doppelgänger der Erzählerin verbunden ist, insofern er immer wieder so in die Erzählgegenwart einbricht, dass ein anderes Sprechen erkennbar wie auch zugleich verdunkelt wird- Pigafetta verändert sich dadurch zur erzählerischen Figuration eines Unheimlichen, das die Vertrautheit mit den Koordinaten der Reiselitentur aufruft wie auch zugleich außer Kraft setzt. Er wird zum Simulacrum, mit dem der Blick auf die Geschichte der Entdeckungen unter veränderten Lichtverhältnissen möglich wird. Denn auf der Ebene des Erzählens ist Pigafetta eine verstörende Erzählerinstanz, welche die Aussagen der Erzählerin unterminiert und in Frage stellt oder aber bekräftigt und überlagert und es ihr doch gerade dadurch ermöglicht, eine textuelle Reise in jene Zeiten zu unternehmen, in denen >das Entdecken noch geholfen hat<. Es ist nur ein Ausflug - Entdeckung als Spiel Auf dem Frachtschiff befinden sich mit den Mitgliedern der Besatzung und den zahlenden Mitreisenden Figuren, in denen das Personal früherer Forschungsreisen ironisch anzitiert wird. Neben einem jungen Kapitän, der seinen Beruf aufgeben will, weil er nicht mehr von einem Dienstherrn, den er nie zu Gesicht bekommt, befehligt werden möchte, finden sich drei Offiziere, Matrosen, ein philippinischer Stewart und ein Koch an Bord, der nur ein einziges Kochbuch besitzt, sowie ein dem Alkohol zugetaner Maschinist namens Canossa, der wiederum einen französischen Klempner ins Schlepptau nimmt, auf den in Tahiti Freundinnen warten, sowie ein großer Schiffsmechaniker namens Nobell, der sich mit der Erzählerin wiederholt über die Eigenheiten des Schiffes austauscht. Zu den zahlenden Gästen an Der Begriff Nachtstück fand in die Literatur vor allem durch E.T.A. Hoffmanns Nacbtstücke (1817) Eingang. Vgl. Hannes Leopoldseder, Groteske Welt. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Nachtstücks in der Romantik, Bonn 1973. 4$ Vgl. Elisabeth Bronfen, Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht, München 2008, S. 167. 46 In seinen Fragmenten schreibt Novalis: »Die Nacht ist zweifach: indirekte und direkte Asthenie. Jene entsteht durch Blendung, übermäßiges Licht, diese aus Mangel an hinlänglichem Licht.« Novalis, Brownische Psychologie, in: ders., Werke, Briefe, Dokumente, hg. v. Ewald Wasmuth, Bd. 3, Fragmente II, Heidelberg 19J7, S. 1J6-166, hier S. 162 (Fragment 2385). 2J2 ORTRUD GUTJAHR Bord zählen ein älterer britischer Geograph, der früher in Diensten seiner Königin stand und dessen Kopf »rund wie ein Globus«47 geworden ist, ein Makler aus Bremerhaven namens Happolati, der sich mit seiner sehr viel jüngeren zweiten Frau auf Hochzeitsreise befindet, sowie ein Pfirsichzüchter, der in Charleston zusteigt und sich über das Klappern des Hockers hinter dem Duschvorhang, den verkehrten Abfluss im Waschbecken und über das schmutzige Wasser im Bordschwimmbecken beklagt. Die wenigen Passagiere sind als >temporale Hybridfiguren< gestaltet, die anlässlich der Äquatortaufe mit neuen Namen versehen werden und in ihrem Anspruchsverhalten einerseits wie moderne Touristen immer wieder Leistungen einklagen, für die sie, wie leitmotivisch behauptet wird, »bezahlt haben«, und die andererseits mit ihren Wünschen, die sie mit der Weltreise verbinden, auf Reisende vergangener Epochen verweisen. So vertreibt sich die Erzählerin mit ihren Mitreisenden während der ereignisarmen Tage auf See die Zeit durch »das alte Entdeckerspiel«, welches »das Lieb-Kngsspiel des Generalkapitäns« ist: »Ich sehe was, was du nicht siehst?«*8 Mit diesem Spiel aber, dessen implizite Regeln den gesamten Roman durchziehen, werden auch immer wieder legendäre Gestalten des Meeres evoziert wie Kapitän Bligh von der Bottnty oder sagenumwobene Figuren wie der fliegende Holländer. Vor allem aber beginnt mit diesem intertextuellen Spiel aus Verweisen, Anspielungen, Übertragungen, Überlagerungen, Verschiebungen, Spiegelungen, Ironisierungen, Verschattungen, Verdichtungen und Imitierungen eine Zeitreise in die Geschichte des Reisens und der Reiseliteratujv4'] Ein >Rettungsspiel<, das darin besteht, die nächstliegende Küste zu orten, an die im Notfall geschwommen werden muss, gewinnt immer der alte englische Geograph, der gelernt hatte, sich an den Rändern der Küsten zu orientieren. Verwiesen wird damit auf die ersten Formen des Navigierens entlang der Küste, wie sie im Mittelmeerraum für die Schifffahrt der Antike zunächst üblich waren. Von diesen Fahrten existieren mit den Periploi, den Berichten über die Umschif* 47 Hoppe, Pigafetta, S. 11. 48 Ebd., S. 43. 49 Vgl. in diesem Zusammenhang neben Böhn, Formzitat, auch die folgenden Werke: Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a. M. 1990, S. $ 1-87. - Gerard Genette, Palim-pseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M. 1993. - Texte im Text. Untersuchungen zur Intertextualität und ihren sprachlichen Formen, hg. v. Gerda Haßler, Münster 1997. - Jürgen Rauter, Zitationsanalyse und Intertextualität. Intertextuelle Zitationsanalyse und zitatenanalytische Intertextualität, Hamburg 2006. l62 ORTRUD GUTJA.HR Stilleder Meere.«9-» So wird der Reisebericht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend in kritischer Absicht verfasst und reflektiert die europäischeJExpansions- und Kolonialgeschichte, die mit den Entdeckungsfahrten einherging. Als Effekt postkolonialer Erfahrung« hat sich die Bezüglichkeit zum Fremden als dem unbekannten Draußen verändert, wie dies Peter Schneider in seinem Reiseessay Die Botschaft des Pferäekopfsy der unter dem Eindruck einer Reise auf den Spuren Humboldts in Südamerika entstand, formuliert: »Die europäische Sehnsucht nach der Fremde und dem Unbekannten hat sich in dem Maße ihres Gegenstandes beraubt, wie sie sich erfüllte. «M Hoppes Roman rekurriert auf diese im Zeichen des Verlusts stehende Geschichte des Reisens und des Reiseberichts, insofern die Autorin ihrem leichtgewichtigen Roman durch textuelle Einschübe und diskursive Reminiszenzen die überbordende Fülle der Welthaltigkeit früherer Reiseberichte einschreibt. Wenn die Erzählerin ausgerechnet von Tahiti, dem zum Paradies verklärten Sehnsuchtsort früherer Entdeckungsreisen, auf den Schultern Pigafettas zurück zum Schiff getragen wird, wo sie sich »zu Hause«97 fühlt, so wird in autopoetischem Gestus mit dem Bild von den >Zwergen auf den Schultern der Riesen< deutlich auf die produktive Traditionsaneignung über Formen des metaphorischen, parodistischen und phantastischen Erzählens verwiesen. Hoppes Roman erzählt somit auch eine Geschichte der Wiedergutmachung, was mit der Figur der ängstlichen Schwester angedeutet ist, die aus Angst vor Riesen und Zwergen mit großen Ohren nicht wagte, mit Pigafetta die erste Weltreise anzutreten - auf der es tatsächlich noch etwas zu entdecken gab. Hatte Pigafetta im Februar ij2i in seinem Reisebericht notiert: »Ich bin überzeugt, daß eine solche Reise nie wieder unternommen werden wird«,98 so lässt ihn Hoppe noch einmal eine Weltreise unter- 94 Ebd 9 j »Nicht mit dem überlegenen, besserwisserischen, ausbeuterischen und missionarischen kolonialen, sondern mit dem offenen, wissbegierigen, solidarischen und gleichwohl kritischen postkolonialen Blick suchten sie das kulturell andere zu erkennen.« Paul Michael Lützeler, »Einleitung: Der postkoloniale Blick«, in: Der postkoloniale Blick. Deutsche Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt, hg. v. P.M.L., Frankfurt a. M. 1997, S. 7-33, hier S. 29. 96 Peter Schneider, Die Botschaft des Pferdekopfs, in: Der postkoloniale Blick Deutsche Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt, hg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1997, S. 107^49, hier S. 140; vgl. auch Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden, Frankfurt a. M. 1968. 97 Hoppe, Pigafetta, S. 78. 98 Pigafetta, Die erste Reise um die Erde, S. 97. ERREISTE INTERTEXTUALITÄT IN »PIGAFETTA« nehmen, um der schwesterlichen Erzählerin die Möglichkeit zu geben, diese Entdeckungsreise des Anderen nachzuvollziehen. Dass dies zu einer Reise in eine phantasmatische, postromantisch überformte Welt gerät, wird gleich zu Beginn des Romans durch die Behauptung verdeutlicht, dass der Generalkapitän »beschlossen hat, nach Inseln zu suchen, auf denen Zwerge mit großen Ohren leben, deren eines ihnen als Bett, das andere aber zur Decke dient.«99 Damit wird auf das eigene Schreibverfahren wie auch auf die phantastischen Erzählungen in Pigafettas Reisebericht Bezug genommen, von denen eine den Titel »Zwerge mit großen Ohren« tragt: Unser alter molukkischer Lotse erzählte uns von einer in diesen Gewässern liegenden Insel nahmen Arucheto und behauptete, daß die dort lebenden Menschen nicht größer als eine Spanne seien und bis zum Boden reichende Ohren besäßen, so daß sie im Stande seien, beim Schlafen das eine Ohr als Unterlage und das andere als Decke zu verwenden. Diese Zwerge laufen nackt umher und haben einen geschorenen Kopf, eine quiekende Stimme und einen schnellen Gang. Sie wohnen unter der Erde, leben von Fischen und einer zwischen der Rinde und dem Holz eines Baumes wachsenden Frucht, die Ambulon heißt und weiß und rund ist und überzuckertem Koriander gleicht. Wir hätten diese Zwerge gern besucht, aber Untiefen und widrige Strömungen hinderten uns daran, nach Arucheto zu fahren.100 Pigafetta verschiebt die Möglichkeit einer tatsächlichen Begegnung mit den geschilderten Wesen, um das Erstaunen seiner Leserschaft zu wecken und damit einem Hauptanliegen des Reiseberichts genüge zu tun- Der in seiner sprachlichen Verfasstheit und der topologisch orientierten Chronologie des Erzählens wenig Spannung erzeugende Reisebericht, der schon mit der kühnen Behauptung beginnt, dass Magellans Reise das Ziel gehabt habe, »nach Eilanden zu suchen, auf welchen Menschenfresser leben und Tiere hausen, denen keiner gewachsen ist, weil sie fast so groß wie ein Schiff sind«,101 ist gespickt mit phantastischen Episoden und Erzählungen. So wird von Riesen am Strand von Port San Julian berichtet, die von so gewaltigem Körperwuchs waren, dass die Köpfe der Besatzungsmitglieder nur bis zur Hüfte reichen konnten. Wegen ihrer Körpergröße oder ihrer Fußbe- 99 Hoppe, Pigafetta, S. 7. 100 Pigafetta, Die erste Reise um die Erde, S. 242. 101 Ebd., S. 53. 264 ORTRUD GUTJAHR kleidung aus Fell, die ihre Füße auffallend groß erscheinen ließ, nannte Magellan diese Menschen Patagonier, was in der portugiesischen Umgangssprache soviel wie »Großfuß« bedeutete.102 Später heißt es, dass sie am La Plata-Strom ins Gebiet der »Menschenfresser« kamen, und dass einer von diesen »ein Riese mit der Stimme eines Stiers« 10J gewesen sei. Zudem beschreibt Pigafetta einen »Mann von Riesengröße, der unbekleidet tanzte und sang und sich dabei Sand über den Kopf warf«.10* Neben vielen Anekdoten rekurriert Pigafetta in seinem Reisebericht aber auch auf das Märchen von den Wasser speienden Bäumen, das schon bei Pünius erzählt wird,10* und bezieht sich damit auf Erzählmuster, die bereits in der Literatur der Antike ausgebildet wurden. Denn schon in Herodots Historien werden die beschriebenen fremden Länder von mythologischen Gestalten und Fabelwesen, beispielsweise Menschen mit Hundeköpfen, bevölkert,106 und auch in der Odyssee begegnet der Titelheld Fabelwesen wie den einäugigen Zyklopen und muss sich vor den legendären Sirenen schützen. Gerade weil Entdeckungsberichte mit der Absicht verfasst wurden, das Erstaunen und die Ergriffenheit der Reisenden nachvollziehbar werden zu lassen, und deshalb durch überzeichnende Verdeutlichungen geprägt sind, wurden sie als wenig vertrauenswürdige Textsorte erachtet.107 Hoppe setzt bei dieser Fraglichkeit der erzählten Welt auch in ihrem Schreibverfahren an. Sie lässt von einem unzuverlässigen Erzählerduo über eine schwankende Schiffswelt berichten, deren Zeit aus den Fugen ist und die von hybriden Wesen bevölkert wird, die aus diskursiven und literarischen Überblendungen unterschied- 102 Magellans Leute nahmen zwei Patagonier gefangen, um sie mit nach Spanien zu nehmen, doch beide starben unterwegs. 103 Pigafetta, Die erste Reise um die Erde, S. 67. 104 Ebd., S. 69 f. Einen der Riesen, denen die Mannschaft begegnet, lehren sie »den Namen Jesus und das >Vaterunser< nachzusprechen«, und sie taufen ihn »auf den Namen Juan«. Ebd. S. 73. Durch eine List lässt Magellan einem Riesen Fußfesseln anlegen und diesen auf das Schiff bringen. Beim Versuch, auch große Frauen einzufangen, »um diese Riesengattung nach Spanien zu verpflanzen«, werden die Eingeborenen argwöhnisch und flüchten. Ebd., S. 74. 105 Vgl. ebd., S. J7. 106 Vgl. Manfred Landfester, Der Blick auf das Andere. Herodot und die Anfange der antiken Berichte über außergriechische Völker und Länder, in: Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte. Vorträge eines interdisziplinären Symposiums vom 8. bis 13. Juni 1998 an der Justus-Liebig-Universität Gießen, hg. v. Xenia von Ertzdorff, Amsterdam 2000, S. 3-3 j. 107 Vgl. Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. ERREISTE INTERTEXTUALITÄT IN »PIGAFETTA« licher Epochen zusammengesetzt sind.108 Auf diese Weise verabschiedet Hoppe mit postkolonialem Impetus die Verfügungsgewalt der Erzählinstanz über die erzählte Welt gerade in Auseinandersetzung mit dem Reisebericht Pigafettas: Sie gestaltet eine Entdeckungsreise in textuellen Spuren, bei der phantasmatische Figurationen zugleich re- und deinszeniert werden und ein ganzes Ensemble von Topoi der Reisebeschreibung in verfremdeter Form zur Darstellung gelangt. Anders als im nachreisenden Überprüfen von Gelesenem oder dem touristischen Nachvollzug vorgeebneter Reisewege mit feststehendem Besichtigungsprogramm treibt die textuelle Reise bei Hoppe eine tiefgreifende Verunsicherung hervor, insofern in der Schwebe gehalten wird, um welche Zeit, um welchen Ort und um welche Figur es sich eigentlich handelt und wer hier gerade spricht. Durch den Pa-limpsest von Texten und Anspielungen, Figuren und Erzählstimmen wird aber die Verunsicherung, die mit der Reise ins Unbekannte verbunden ist, der Erzählstruktur des Romans eingeschrieben.10* Denn in der literarischen Inszenierung des Romans wird die enge Verbindung von Gefährdung und Faszination, die Exploration der Grenze zwischen Innen- und Außenwelt wie auch zwischen Realem und Phantasmatischem, die mit der Weltreise verbunden ist, zu einer irritierenden Leseerfahrung.110 Diese Verunsicherung wird auch mit der selbstbezüglich ironischen Wende am Ende des Romans nicht aufgehoben, wenn es in der Diktion des Reiseberichts heißt: »Wir nehmen unsere Mützen nicht vom Kopf, damit niemand unsere Ohren sieht, die jetzt schon so lange sind, daß eines davon uns als Decke dient.«"1 ro8 In dieser Weise hat Jonathan Swift in seinem Roman Gtilliver's Travels (1726) eine realistische Erzählweise mit einer spielerischen Phantastik im Dienste der Satire verbunden. 109 Vgl. Genette, Palimpseste. 110 Vgl. Ortfried Schaffter, Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, in: Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, hg. v. O.S., Opladen 199t, S. 11-44, hier S. 12. 111 Hoppe, Pigafetta, S. 156.