1. Begriff Dekonstruktion Definition 1: „Der Begriff Dekonstruktion (frz. Zerlegung, Auflösung, Auseinandernahme) dient als Schlagwort für eine Reihe von Strömungen in Philosophie, Philologie, Werkinterpretation von Werken der Literatur, Architektur und Kunst seit den 1960er-Jahren. Es wurde der Begriff von Jacques Derrida als Bezeichnung für ein Lektüre- und Analyseverfahren von Texten geprägt, das sich von hermeneutischen Theorien und deren Praxis der Interpretation abgrenzt. [...] Der Unterschied zwischen hermeneutischen und dekonstruktiven (antihermeneutischen) "Textbefragungen" besteht darin, dass die Hermeneutik von einem quasi dialogischen Verhältnis zwischen Text und Interpret ausgeht, das auf ein zunehmend besseres Verständnis einer im Text enthaltenen Botschaft abzielt. Dabei wird eine rekonstruierbare Sinneinheit, ein Sinnzusammenhang, unterstellt. Dekonstruktivisten bemühen sich hingegen um den Nachweis, dass – und vor allem: wie – ein Text seine Bedeutung selbst hinterfragt, durchkreuzt und gerade mit solchen Paradoxien Sinn schafft, z. B. durch Widersprüche zwischen inhaltlicher Aussage und sprachlicher Form. Die Methode der Dekonstruktion ist ein kritisches Hinterfragen und Auflösen eines Textes im weiteren Sinn.“ (de.wikipedia.org, 17. Nov. 2013) o Begründer? o Verwendungszweck der Dekonstruktion? o Dekonstruktion als Antihermeneutik? o Methode der Dekonstruktion? Definition 2: „Dekonstruktion ist eine von Jacques Derrida entwickelte Richtung der Philosophie mit großem Einfluss auf die Kultur- und Literaturwissenschaften der 1980er und 1990er Jahre. Basierend auf einer Analyse der Sprache, des Zeichens und der Repräsentation konzentriert sie sich auf Entdifferenzierung und Paradoxierung kultureller Leitunterscheidungen (Semantik) sowie auf die Rückführung bestimmter Sinnfiguren auf die ihnen zugrunde liegenden, prinzipiell variablen und nie stabilen Verwendungskontexte (Pragmatik). Methodisch resultiert daraus eine Deutungs- und Lektürepraxis, die auf Sinn-Komplexierung und Bedeutungsoffenheit insistiert.“ (Lüdeke, 156) o Was ist gleich, was ist anders gegenüber Definition 1? 2. Hauptbegriffe der Dekonstruktion - différance (Differänz) o Rückgriff auf de Saussures Konzept des sprachlichen Zeichens (Arbitrarität und Relationalität des sprachlichen Zeichens). o Neologismus différance (frz. unterscheiden und aufschieben) bedeutet, dass den Signifikanten keine festen Signifikate zugeordnet sind. Bedeutung wird immer wieder produziert, verschoben und ausgelöscht. o Der Begriff unterläuft die Setzung von Begriffen in Gegensatzpaare und zeigt die permanente Sinnaufschiebung im Redefluss auf. o Die Zeichenlogik von différance ist ternär, d.h. dreistellig: Sie zielt methodisch auf ein Drittes, das aus dem Wechselspiel von der Vorder- und der Rückseite entsteht, dabei aber einen Bereich zwischen den binär gegenüberliegenden Termen betont. Hier wird ein Drittes denkbar gemacht, das sich zu der Ausgangsunterscheidung indifferent verhält. - dissemination (Streuung, Verbreitung) o ein textuelles Prinzip; sprachliche und textuelle Bedeutung entsteht im ständigen Wechselbezug o verschiebt und unterminiert die hierarchische Phonem-Graphem-Beziehung und die binären Oppositionsmuster o „disseminierende Kraft der Literatur gegen das sichere System gesellschaftlicher Repräsentationen“ (Kammler) - écriture (Schrift). o Begriff geht von einer Eigenschaft der geschriebenen Sprache aus, betrifft aber die gesamte Bedeutungsproduktion. Schrift ermöglicht Kontextwechsel und Kontextwechsel führen zu Bedeutungsverschiebungen. o Mobilität als Merkmal einer besonderen Pragmatik von Schrift. o Derridas Vermutung: „Kulturen müssen die Kontextabhängigkeit von Bedeutung verdeckt halten, um die eigenen Sinn- und Identitätsbildungsprozesse, ihre Definitionsmacht, nicht zu gefährden, die ja auf Unterscheidungen angewiesen sind.“ (157) o Schrift ist für Derrida nicht Ersatz/Substitut mündlicher Rede, sondern ihr supplément (Supplement, Zusatz, Ergänzung). Die Schrift legt durch ihre pragmatischen Eigenschaften eine ursprüngliche Instabilität frei, die sie mit der mündlichen Rede teilt. 3. Methode der Dekonstruktion - Dekonstruktion VS. Hermeneutik: in der Dekonstruktion „keine vor dem Zeichengebrauch gegebene Substanz des Bezeichneten denkbar“. Verstehen ist nun kein Zutage-Fördern von einer verborgenen Bedeutung. o Hermeneutik: Subjekt (als Individuum) ist Urheber der Bedeutung im Text; Dekonstruktion: der Text hat eine Art Eigendynamik von écriture und différance, die außerhalb subjektiver Innerlichkeit zu verorten ist. - Dekonstruktive Lektüre ist kulturelle Praxis eines Differenz-Denkens, gegen Sinnabschluss und Erstarrung von kulturellen und geschichtlichen Identitätsbildungen. o Dekonstruktion ist immer einer differenzlogisch ausgerichteten Semantik (Bedeutungsebene von Zeichen) verpflichtet o Die semantische Ebene von der Dekonstruktion wird pragmatisch aufgefasst. „Das heißt, Bedeutungen werden darauf hin befragt, welche kontextuellen Bedingungen und Zusammenhänge dem kulturellen Sprachgebrauch zugrunde liegen (Interessen, Strategien, Sprechakte, Setzungen, Selbstthematisierungen und Selbstinszenierungen) und welches Ordnungsbegehren, welche Welt- und Selbstmodelle sowie schließlich: welche impliziten und expliziten Wertungen hierin jeweils involviert sind.“ (161f.) - Zusammenfassung zur Methode der dekonstruktiven Analyse o interessiert sich für die Untersuchung der Semantik von binären Oppositionsbeziehungen. Diese setzt sie einer ternären Differenzlogik aus. o interessiert sich für die pragmatische Ebene kultureller Symbolpraxis. o versucht, Konflikte, Widerstände und Komplexitätssteigerungen freizulegen. 4. „Dekonstruktion und Literaturunterricht“ (nach Clemens Kammler) - „Das Projekt der Dekonstruktivisten ist ein anti-autoritäres. Es besteht darin, etablierte Lesarten von Texten zu attackieren, scheinbar Marginales, das von früheren Interpreten oder im Text selbst an den Rand gedrängt wurde, in den Vordergrund zu rücken, um die „logozentrische“ Unterscheidung zwischen Zentralem und Marginalem, Wesentlichem und Unwesentlichem in einem zweiten Schritt grundsätzlich in Frage zu stellen.“ (14) - „Gegen die scheinbare Eindeutigkeit naheliegender Deutungen soll eine zweite Lektüre anarbeiten, die sich auf Irritationspunkte, Widersprüchlichkeiten, Doppeldeutigkeiten konzentriert.“ (15) - „Über die Einsicht in die Unabschließbarkeit der Deutung („unendliche Semiose“) sollen Schüler zu einem Textverständnis gelangen, das die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung stellt.“ (15) - Kriterien für den Erfolg einer „zweiten“, dekonstruktiven Lektüre o „Dekonstruktionen sollten die Aufgabe erfüllen, sprachlich-kulturelle Praktiken zu analysieren (Geschichte – Gegenwart, Geschichte ist kein homogener Prozess, Tradition ist nicht eine einzige usf.) o disseminierende Kraft der Literatur: „Literaturunterricht erfüllt eine kritische Funktion. Er leistet Widerstand gegen jene Formen der kulturellen Selbstaffirmation, die sich dem Heterogenen, Diversen, Überraschenden, Fremdartigen, Anstößigen, Seltsamen, Geheimnisvollen, Verlockenden, Unerklärlichen, Erschreckenden – kurz dem anderen unserer Selbst gegenüber verschließen. Er leistet einen Beitrag zur Genealogie herrschender Identitätskonzepte.“ o Geeignete Textgruppen: Texte, die traditionell einseitig interpretiert werden (Woyzeck); Texte, die sich gegen vereindeutigende Interpretationen sperren (Kafka); Texte, die einer oberflächlichen Lektüre simple Deutungsschemata anbieten (lassen sich gegen den Strich dieser Schemata lesen); Texte, die unsere Deutungsschemata irritieren können (nicht kanonische Texte, anderskulturelle Texte...) 5. Poststrukturalistische Unterrichtsreihe zu Büchners Woyzeck-Fragment (nach Clemens Kammler - Figurenkonstellation (S. 49) - Kapitel 2: Schulische Lesarten des Woyzeck (Gruppenarbeit) o Absatz 1: Was kommt bei den „klassischen“ Interpretationen von Woyzeck abhanden? o Absatz 2: Welche älteren Interpretationen von Woyzeck werden erwähnt? o Absatz 3: Was ist im Gegensatz dazu das Ziel von Kammlers Unterrichtskonzept? - Kapitel 3: Didaktische Konsequenzen aus der Forschungslage (Gruppenarbeit) o Woyzeck editorisch: „Fast jede der Szenen 21-27 hat bereits einem Herausgeber als Schlussszene gedient.“ o Woyzeck interpretatorisch: „Minimalkonsens der Woyzeck-Interpreten“ VS. Langhoff/Karge o Woyzeck didaktisch: Konzept und Leistung des dekonstruktiven Unterrichtsansatzes - Kapitel 4: Dokumentation des Unterrichtsmodells (Plenar) o Vor der Lektüre § Personenregister + Mordszene o Nach der Lektüre § Fragebogen § Planungskonzept für die Unterrichtsreihe § Handlungsstrukturen, Szenengruppen § Szenen der fragmentarischen Schlusshandlung o Theaterbezogene Sequenz § Regiekonzeptionen Döpke und Langhoff/Karge § Gespräch mit Regisseur Karge 6. Weiterführende Literatur - Culler, Jonathan: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie 1999. - Kammler, Clemens: Neue Literaturtheorien und Unterrichtspraxis, 2000. - Lüdeke, Michael: „Methode der Dekonstruktion“. In Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse, hg. von Vera und Ansgar Nünning, 2010.