I nicht [...] mit versteinerndem Schreck, sondern mit angenehmem Staunen über die magische Kraft des Zauberspiegels, den uns da der Dichter vorhält«.12 \ Zauberspiegel aus anderen Ländern und Zeiten zeigten Göttinnen \ oder Dämonen. Im klassischen Deutschland spiegeln sie das Schafs-X gesicht von Bürgern, die ihr Leben und ihr Lesen verwechseln. Was ; die Lehrjahre lehren, kann (mit Friedrich Schlegel13) Leben nur für i Leute heißen, die auf Wörter schon immer hereingefallen sind. Und i; solange bestenfalls die Laterna magica dem Zauberspiegel Dich-}; tung Konkurrenz machte, war dieser Trick nicht schwer Novalis I. sagte es: »Wenn man recht ließt, so entfaltet sich in unserem Innern l eine wirckliche, sichtbare "Welt nach den Worten.«14 Der Buchstabe £ wurde übersprungen, das Buch vergessen, bis irgendwo zwischen S den Zeilen eine Halluzination erschien - das reine Signifikat der r Druckzeichen. Mit anderen Worten: klassisch-romantische Doppelganger entstanden auf der Schulbank, wo man rechtes Lesen ja lernt. Mussets Nuit de decembre, jenes ivon Rank so geliebte Langge-t dicht, das alle zwei Strophen oder Lebensjahre den Dichter wieder : seinem Doppelgänger konfrontiert, beginnt mit einer Strophe, die f; Rank unterschlagen hat. Du temps que j'etais ecolier, i it. Je restais un soir a veiller 'j Dans notre salle soiitaire. Devant ma table vint s'asseoir S Un pauvre enfant vetu de nolr, Que me ressemblait comme un frere.15 Das arme Kind in Schwarz - kein Narzißmus und kein Ich hat es produziert, kein Tod und keine Unsterblichkeit ist'seine Bot- 12 jenisch, Eigenthümlkhkeiten, S.i4f. Zu Schreib- und Lesetechnikender Identifikation im allgemeinen vgl. meine Studie über die Sozialisation 'Wilhelm Meisters, in: Gerhard Kaiser/F. A. Kittler, Dichtung ab Sozialisationsspiek Göttingen i 1978,5.33-114. 1 13 Vgl. Schlegel, »Uber Goethes Meister« (wie Anm. 11), S. 136 und S. 14 »Fragment von 1798«, in: Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Stuttgart i960 ff., Bd. III, S. 377. ; 15 Alfred de Musset, La nuit de dicembre {1835), in: ders., CEuvres completes, hg. £' • von Philippe Van Tieghem, Paris 1963, S. 153. 99 schaft. Alles läuft viel einfacher, als Psychoanalyse träumt. Arm ist das Kind in Schwarz nur als Opfer der allgemeinen Alphabetisierung, die Mitteleuropa um igoo erfaßt hat. Seitdem neue kindgemäße Leselehrmethoden das Alphabet versüßen und versinnlichen, seitdem Leute die Buchstaben nicht mehr als Gewalt und Fremdkörper spüren, seitdem können sie auch glauben, von Buchstaben gemeint zu sein. Alphabetise nannte es Lacan. Und Baudelaire, wie um die Gespenster Chamissos und Mussets zu decodieren, begann seinen Gedichtband mit der Anrede »Hypocrite lecteur, - mon sembiable, - mon frere!« Das ist Klartext und unter Dichtung der Schlußstrich. Keiner von Baudelaire« Nachfolgern im L'art pour l'art wird mehr die Verlogenheit aufbringen, für verlogene Leser zu schreiben. Die Bücher tun nicht mehr so, als seien Buchstaben harmlose Vehikel, die unser Inneres mit optischen Halluzinationen beliefern, vor allem aber mit dem Wahn, es gäbe ein Inneres oder Selbst. Mit dem Wahren, Schönen, Guten verschwindet auch dieser Doppelgänger. Denn die Gestalt, die unserer Tage aus der Tiefe von Spiegeln auftaucht, ist sehr anders. Mit;Alphabetismus und Dichtung hat sie nichts zu tun. Im Jahr 1900 beschreibt Ernst Mach, wie er letzthin im Omnibus einen Fremden sah und dachte, »was doch da für ein herabgekommener Schulmeister einsteigt«. Auch der große Physiker und Wahrnehmungstheoretiker brauchte nämlich in praxi ein paar Millisekunden, um in jenem Fremden sein Spiegelbild zu erkennen. Und Freud, der Machs unheimliche Begegnung weitererzählt, kann gleich mit eigenen Parallelfallen aufwarten. Er »saß allein im Abteil des Schlafwagens, als b:ei einem heftigen Ruck der Fahrtbewegung die zur anstoßenden Toilette führende Tür aufging und ein älterer Herr im Schlafrock« eintrat, der Freud sehr »gründlich mißfiel«.16 Eigene Spiegelbilder im Toilettentürglas sind eben wie gemacht, um den Doppelsinn von heimlich/unheimlich zu beweisen und noch den Vater der Psychoanalyse an seine Körperfunktionen zu gemahnen. Daß sie aber ausgerechnet in Omnibussen und D-Zügen spuken, hat Gründe. Wenn der Doppelgänger namens Selbst, dieses poetisch-philosophische Phantasma, aus der allgemeinen Alphabetisierung Mitteleuropas stammte, so sind die schäbigen Gestalten 16 Freud, »Das Unheimliche« (wie Anm. 2), S.2Ö2f., Anm. 100 vor Mach oder Freud Produkte der allgemeinen Motorisierung Mitteleuropas. Davon schweigt Die Analyse der Empfindungen, davon schweigt Das Unheimliche. Und doch gibt es die mobilen Spiegelflächen, die gleitenden Panoramen und die ungezählten Doppelgänger namens Verkehrsteilnehmer erst seit Eisenbahn und Ottomotor. Derselbe Mallarme, der mit Lesen und Lesbarkeiten Schluß machte, riet den Autoingenieuren, ihren Motor besser nach hinten zu versetzen. Dann könnten glückliche Passagiere aus den Augenwinkeln und durch »bow-windows« ungestört das »magische« Schauspiel gleitender Perspektiven genießen. »Vision eines Verkehrsteilnehmers von Geschmack«, wie Mallarme seine »Erfindung« nannte - das Auto als Kamerafahrt.17 Vor allem aber Vision eines Schriftstellers, der sein eigenes Medium Schrift vor Halluzinationen und Doppelgängereffekten systematisch abschottet. Eine Umfrage nach dem illustrierten Buch beantwortet Mallarme mit kategorischem Nein und der Gegenfrage: »Warum gehen Sie dann nicht lieber gleich zum Kinematographien, der mit seinen Bildsequenzen manchen Band, in Text und Bild, vorteilhaft ersetzen wird?«18 Auch das ist Klartext. Seit 1895 treten auseinander: ein bilderloser Letternkult namens E-Literatur auf der einen Seite und auf der anderen lauter technische Medien, die wie Eisenbahn oder Film die Bilder motorisieren. Literatur versucht gar nicht erst mehr, mit den Wundern der Unterhaltungsindustrie zu konkurrieren. Sie gibt ihren Zauberspiegel an Maschinen ab. Deshalb und nur deshalb das Entsetzen bei den Professoren Mach und Freud, wenn für ein paar Millisekunden auch vor ihnen das altmodische Medium Buch dem Film der sogenannten Wirklichkeit weichen muß. Stummfilme implementieren in technischer Poshivität, was Psychoanalyse nur denken kann: ein Unbewußtes, das keine Worte hat und von Seiner Majestät dem Ich nicht anerkannt wird. 17 Stephane Mailarme', »Sur ie beau et l'utile«, in: ders., CEuvres computes, hg. von Henri Mondor und G. Jean-Aubry, Paris 1961, S. 8S0. Eine vortechnische Realisation dieser Kamerafahrt ist das Rudern in Mallarmes Prosa-Gedicht he nenuphar bUm (CEuvres completes, S. 283-286). Über Kino und Autofahrt im allgemeinen vgl. auch Paul Virilio, L'insicuritt du territoire, Paris 1976, S. 18 Mallarm£, »Sur le livre illustre«, in: ders., CEuvres completes, hg. von Henri Mon-dor und G. Jean-Aubry, Paris 1961, S. 878. 101 Gerade die Dummheit des Films macht ihn zum vorteilhaften Ersatz so mancher Bücher und der romantischen zumal. Sie kann Körper speichern, die bekanntlich genauso dumm sind. Als im letzten romantischen Lustspiel der König Peter vom Reiche Popo nach seinem flüchtigen Sohn fahnden ließ, waren die großherzoglich hessischen Polizisten nicht zu beneiden. Sie hatten nur »den Steckbrief, das Signalement, das Certificat« eines Menschen: »Geht auf zwei Füßen, hat zwei Arme, ferner einen Mund, eine Nase, zwei Augen, zwei Ohren. Besondere Kennzeichen: ein höchst gefährliches Individuum.«19 Soweit und gerade soweit ging Dichtung, wenn Körper zu speichern waren - bis zum individuellen Allgemeinen Meästerscher Umrißzeichnungen und nicht weiter. Der Film dagegen zählt (wie Kriminalistik und Psychoanalyse auch) zu jenen modernen Spurensicherungstechniken, die nach Ginzburgs Einsicht20 Körperkontrolfe optimieren. Dafür gibt es Beweise: all die dummen oder verrückten, mon-goloiden oder hysterischen Körper, die frühe Stummfilme aufmarschieren lassen. Jeder einzelne von ihnen ist der Schatten des Körpers des Gefilmten, kürzer gesagt: sein Doppelgänger. Ein Kameraschwenk — und schon hätte König Peter das unverkennbare, unfälschbare Zertifikat seines Leonce, wie er als romantischer Schauspieler durch die Natur stürmt. {Wer glaubt, daß Buchstaben ihn selber meinen, ist bloß verfuhrt^ "Wer gefilmt wird, ist eben damit schon überfuhrt, sei es auch nur durch mobile Spiegel wie Freud. Auf Filmen sehen alle Handlungen dümmer aus, auf Tonbändern, die ja die Knochenleitung Kehlkopf-Ohr unterschlagen, haben Stimmen keine Seele, auf Paßbildern sind nur Verbrechervisagen zu sehen - nicht-weil Medien lügen würden, sondern weil sie den Narzißmus des eigenen Körperschemas zerstückeln. Medien sind eine historische Eskalation von Gewalt, die die Betroffenen zu totaler Mobilmachung zwingt. Der erste Theoretiker des Unheimlichen scheint davon mehr geahnt zu haben als sein 19 Georg Büchner, Leonce und Lena, in: ders., Werke und Briefe, Gesamtausgabe, hg. von Fritz Bergemann, Wiesbaden 1958, S. 447. Polizeiliche Steckbriefe, wie Büchner sie aus eigener Anschauung parodiert, scheinen auf die Zeit des Hoch-absoluttsmus zurückzugehen. 2.0 Vgi. die Einzelheiten bei Carlo Gitrzburg, »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli - die Wissenschaften auf der Suche nach sich selbst«, in: Freibeuter 3-4 (1980). 102 Kritiker Freud. Schon 1906 verglich Ernst Jentsch die Panik vor Automaten oder Doppelgängern mit dem Zusammenbruch »einer Defensivstellung«, mit einem »Mangel an Deckung in den Episoden« eines »Krieges«, der nach Jentschs Prophezeiung »nie endet«.21 Die UFA, Deutschlands Spielfilmkonzern, entstand bekanntlich 1917 unter der Schirmherrschaft des Bild-und-Film-Amts im Großen Generalstab und auf Befehl des Ersten Generalquartäer-meisters, Generals der Infanterie Erich Ludendorff.22 Was Wunder, wenn der Medienkrieg nie endet. In Vietnam waren Eliteeinheiten wie die US-Marineinfanterie zu Angriff und Tod nur bereit unter der Bedingung, daß NBC oder CBS oder ABC ein TV-Kamerateam am Einsatzort hatten.23 Gerade daß der eine Körper von Vietcöng-Granaten zerrissen wurde, machte seinen Doppelgänger in den Abendnachrichten unsterblich. Apocalypse Now oder die totale Mobilmachung ... Seitdem Filmkameras - zum begreiflichen Leidwesen der Lebensphilosophie24 - mit Flügelscheibe und Malteserkreuz die Körper vorm Sucher zerhacken, um ihre 24 Bilder pro Sekunde zu schießen, ist Lacans corps morcele eine Positivität. Er tritt anstelle jener ganzen Personen, die klassisch-romantische Dichtung feierte oder produzierte. Den großen hysterischen Bogen etwa, diese physiologische Form totaler Mobilmachung, haben nicht bloß Stab und Hand Charcots hervorgerufen, die er bekanntlich nachhelfend über Unterleiber und Eierstöcke seiner Patientinnen führte.25 Der große Psychiater war moderner und sagte das auch. Daß seine Salpetriere zum erstenmal in der Medizingeschichte die Hysterie spurensichern konnte, dankte sie den neuen Maschinen und Maschinisten, die ein heruntergekommenes Pariser Irrenhaus zum Labor verwandelt hatten.26 Der Charcot-Mechaniker und 21 Jentsch, »Zur Psychologie des Unheimlichen« (wie Anm. 2), S.20J. 22 Vgl. dazu Walter Görlitz, Kleine Geschichte des deutschen Generalstabes, Berlin 1967, S.i94f. Den Wortlaut LudendorfFs zitieren Ludwig Greve, Margot Pehle, Heidi Westhoff (Hg.), Hätte ich das Kino! Die Schriftsteller und der Stummfilm (Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums), Marbachj97Filme< nach Joe! Farges, »L'image d'un corps«, in: Communkatums 23 (197;): Psychamtlyse et änema, S. 89. 104 banalen Ausgangspunkt« zu wählen: den Hanns Heinz Ewers-Stummfilm Der Student von Prag. Er mutmaßt sogar, »daß die in mehrfacher Hinsicht an die Traumtechnik gemahnende Kinodarstellung auch gewisse psychologische Tatbestände, die der Dichter oft nicht in klare Worte fassen kann, in einer deutlichen und sinnfälligen Bildersprache zum Ausdruck bringt«. All »die schattenhaft flüchtigen Bilder«, die jenen Studenten im 60-Minuten-Duell mit seinem Spiegelbild und Doppelgänger zeigen - Ranks genaue Feder verschriftet sie. (Denn 1914 sind Video-Tapes und d. h. optische Relektüremöglichkeiten noch nicht erfunden.) Aber eben nur, um ein banales Massenmedium auf unbewußte Symbolik hin aufzurollen —: als wären Freuds manifester Trauminhalt und Unterhaltungsindustrie ein und dieselbe Oberfläche. Den latenten Gedanken von Traum und/oder Film dagegen bilden, schon weil der Drehbuchschreiber Ewers löblicherweise literarischen »Vorbildern« folgte,28 Diskurse und nichts als Diskurse. Ausgerechnet einen Stummfilm überführt Rank in romantische Doppelgängerdichtung und diese Dichtung in Mythologie oder Psychoanalyse. Nichts also ist es mit dem Versprechen, Traumtechnik und Kinodarstellung, Freud und Londe zu verschalten. Der psychische Apparat verbaut jeden Sinn für technische. Und noch wenn Rank am Ende seiner historischmethodischen Regression den Fidschi-Insulaner zitiert, der seinen ersten Blick in europäische Spiegel einen Blick in die Geisterwelt nannte,2' fällt ihm nicht bei, daß seit Anbeginn okkulte Medien notwendig technische voraussetzen. Die Psychoanalyse des Films macht Verfilmung wieder rückgängig. Als gäbe es keine technischen Schwellen, verifiziert sie eine Dichtung, die der Film eben abgelöst hat. Freuds Urszene - sein Salpetriere-Jahr — ist erfolgreich verdrängt. Deshalb ist es auch nur die halbe Wahrheit, wenn Todorovs Einführung in die fantastische Literatur zum Schluß kommt: »Die Psychoanalyse hat die fantastische Literatur ersetzt (und damit überflüssig gemacht). Die Themen der fantastischen Literatur sind buchstäblich zum Gegenstand der psychoanalytischen Forschung der letzten fünfzig Jahre geworden. Es mag genügen,-an dieser Stelle zu erwähnen, daß der Doppelgänger beispielsweise schon zu 28 Rank, Der Doppelgänger (wie Anm. 3), S. 7 f. 29 Ebd., S. 89, Anm. 4. 105 Freuds Zeit Thema einer klassischen Studie geworden ist {Der Doppelgänger von Otto Rank).«30 Todorov hat recht, wenn er die romantischen Doppelgänger um 1900 verenden läßt. Aber es ist von vornherein unglaublich, daß Theorie allein solche Schläge fuhren konnte. Erst im Zangenangriff von Wissenschaft und Industrie, von Psychoanalyse und Film ist die empirisch-transzendentale Doublette Mensch, dieses Substrat romantischer Phantastik, implodiert. All jene Schatten und Spiegel des Subjekts - die Psychoanalyse hat sie klinisch verifiziert, das Kino technisch implementiert. Seitdem bleibt einer Literatur, die Literatur sein will, nurmehr ecriture 4: eine Schrift: ohne Autor. Und aus Buchstaben kann niemand Doppelgänger und d.h. Identifikationsmöglichkeiten herauslesen. Aber weil Geister bekanntlich nicht sterben, ist neben der Literatur eine neue Phantastik! entstanden. Das Kino und seine Drehbuchlieferanten besetzen Hie von; der Romantik geräumten Stellungen. Denn wie der erste Theoretiker des Films erkannte: Im Kino »wird jeder Traum wirklich«.31 Was Dichtung versprochen und nur im Imaginären ivon Leseerlebnissen gewährt hat, auf der Leinwand erscheint es im Realen. Zur Versetzung in eine wirkliche, sichtbare Welt ist rechtes Lesen, bei Novalis unabdingbare Voraussetzung, überflüssig geworden. Leute müssen weder gebildet noch leicht angeheitert mehr sein. Auch und gerade Analphabeten sehen den Studenten von Prag, seine Geliebte und seine 30 Tzvetan Todorov, Einführung in die phantastische Literatur, München 197:1, S. 143 (gekürzt). 3 X Hugo Münsterberg, The Photoplay: A Psychological Study, Neudruck, hg. von Richard Griffith, als The Film: A Psychological Study. The Silent Photoplay in ioz6, New York J970, S. 15: »Rieh artistic effects have been secured, and while on the stage every fairy play is clumsy and hardly able to create an illusion, in the film we really see the man transformed into a beast and the flower into a girl. There is no limit to the trick pictures which the skill of the experts invent. [...] Every dream becomes real.« Diese These Münsterbergs ist unzweideutig zu verifizieren an genau jener Literarur, die der Spielfilm seit 1895 ablöst. Im schlechthin romantischen Roman, Hardenbergs Heinrich von Ofterdingen, träumte der Held bekanntlich eine blaue Blume. »Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich 2u bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blumenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem'ein zartes Gesicht schwebte« (Novalis, Schriften [wie Anm. 14], Bd. I, S.197). 106 Maitresse - all jene »schattenhaft flüchtigen Gestalten« Ranks, wie sie als solche schon Doppelgänger sind -: Zelluloidgespenster der Schauspielerkörper. Es muß nur der geniale Melies auftreten und den Dokumentarismus Londes oder der Lumieres um eine ganze Trickldste ergänzen, damit neben die Filmdoppelgänger erster Potenz die Filmdoppelgänger im Quadrat treten können. Mit Spiegeln und Mehrfachbelichtungen ist es ein Leichtes, den Darsteller des Studenten zweimal zu zeigen. Eben noch hat er vorm Spiegel das Fechten geübt, und gleich darauf tritt sein Spiegelbild aus dem Rahmen. Ob diese »Besonderheit der Filmtechnik« mit Rank »seelisches Geschehen bildlich veranschaulicht«,32 steht dahin. Klar ist dagegen, daß sie - Verfilmung selber verfilmt. Kinodoppelgänger fuhren vor, was mit Leuten geschieht, die in die Schußlinie technischer Medien geraten. Ihr Ebenbild wandert motorisiert in Körperdatenbänke. Schon das Programmheft zum Studenten von Prag nannte »die Doppelfigur des Helden eine Ausdrucksmöglichkeit, die nur das Kino, nie aber die Bühne in solcher Vollendung zeigen kann«.33 Auf dem Theater wäre der eine und doppelte Student zu zwei Schauspielern verkommen, auf dem Romanpapier gar zur leeren Behauptung. Als »Filmproblem aller Filmprobleme« dagegen, wie Willy Haas formulierte,34 hat der Doppelgängereffekt den frühen Film bestimmt. Ewers' Student, Lindaus Anderer, Hauptmanns Phantom, Wegeners Golem, Wienes Caligari, von zahllosen Jekyll-and'Hyde-Versionen zu schweigen - sie alle variieren den Filmtrick aller Filmtricks, wie es einfacher und genauer heißen müßte. Der Grund liegt auf der Hand: Tricks - ob im Film, in der Liebe oder im Krieg—sind Strategien der Macht. Nur im germanistischen Klischee üben Expressionismusfilme Kritik an wilhelminischer Bürgerlichkeit; in ihren realen Effekten üben und d.h. trainieren sie ein neues Machtdispositiv -: How to do things without words. Lindaus Film Der Andere zeigt einen Staatsanwalt, den eine 3 2 Rank, Der Doppelgänger (wie Anm. 3), S. 12. 3 3 Zitiert in Greve/Pehle/Westhoff, Hätte ich das Kino! (wie Anm. 22), S. 110. Über den Studenten von Prag als Verfilmung des Films selbst vgl. auch Jean "Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982, S.85, und demnächst die Filmstudie von Michael Zeh, Freiburg. 34 Besprechung des Gerhard-Hauptmann-Films Phantom (1922), zitiert in Greve/ Pehle/Westhoff, Hätte ich das Kino! (wie Anm. 22), S. 172. 107 hirnphysiologisch bedingte Persönlichkeitsspaltung in Staatsanwalt und Verbrecher, Jäger und Gejagten auseinandernimmt. Mit allen Argumenten der Psychiatrie, mit allen Waffen der Kriminalistik wird einem historisch rückständigen Beamten eingebläut, daß sein juristischer (und nicht nur juristischer) PersonbegrifF ausgespielt hat, seitdem auch stumme Körperspuren sichergestellt werden können. Der Film handelt von Mächten, zu denen er selber zählt.35 Also ist es nur konsequent, daß die magische Macht des Rabbi Low in Wegeners Golem darin aufgeht, vor Kaiser Rudolf einen Film-im-Hlm vorzuführen, (Kaiser Wilhelm, der große Medien-freak von 1914, wußte das sicher zu schätzen.) Und auch daß der Rabbi einen motorisierten Automaten namens Golem bauen kann, allegorisiert wohl kaum (wie dieiFilmhistoriker meinen) »das Risiko einer von der herrschenden Klasse auf Zeit und unter Kontrolle eingesetzten Diktatur, die sich gegen ihre Initiatoren selbst« richtet.36 Ganz abgesehen vom >größten Cinéasten aller Zeiten< (Syber-berg) sind Golems eine Gefahr:- blöde Doppelgänger eines Menschen, den es nicht mehr gibt, seitdem Medien - nach McLuhan ja Prothesen des Körpers — auch Zentralnervensysteme ersetzen können. Wenn im luftkriegsmäßig verdunkelten; Vorführraum (dessen Vorbild in der Kunstgeschichte einzig Wagners Festspielhaus gewesen sein kann37) ein Film anfangt, greift: die Ersetzung von Zentralnervensystemen aufs Publikum selber über, Qb herrschende Klasse wie Rudolf oder Wilhelm oder von Papen, ob beherrschte Klasse wie der Rest—alle haben sie an der Leinwand ihre Netzhaut. »Der Zuschau- 3 5 Paul Lindaus »Schauspiel in vier Akten«, nach dem der Film gedreht wurde und ich notgedrungen zitierte, hat Photographien als Metaphern für Film. Vgl. Der Andere, Leipzig ca. 1906, S. ZI und 81. - Lindau, einer der ersten Schreibmaschinenbenutzer unter Deutschlands Schriftstellern, gehörte übrigens zu Freuds Jugendlektüren. Vgl. Ernesr Jones, Sigmund Freud — Leben und Werk, hg. von Lionel Trilling und Steven Marcus, Frankfurt/M. 1969, S. 182. 36 Georg Seeßlen/Claudius Weil, Kino des Phantastischen. Geschichte und Mythologie des Horror-Films, Reinbek 1980, S. 48. 37 Vgl. dazu meinen Aufsatz »Weltatem. On Wagners Media Technology«, in: Leroy R. Shaw/Nancy R. Citillo/Maiion S. Miller (Hg.), Wagner in Ritrospect. A Centennial Rettppraisd, Amsterdam 1987, S. 103-2«; dt.: »Weltatem. Uber Wagners Medientechnofogie«, in: Friedrich A. Kittler, Austreibung da Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn 1980, S. 94-107 (im vorliegenden Band S. i6o-r8o). 108 er«, schrieb Edgar Morin, »reagiert auf die Filmleinwand wie auf eine externe Netzhaut, die mit seinem Hirn in Femverbindung steht«.38 Film ist totale Macht, auch und gerade wenn er sie (wie im Fall des Rabbi Low und seiner Zaubertricks) noch einmal ausstellt. Denn nursolange dergleichen Verdopplungen literarisch blieben, vom Typ des Buchs-im-Buch der Lehrjahre, konnten sie als Reflexion gelesen werden — als Einladung zu sogenannter Kritik. Technische Medien und Abschreckungsstrategien siegen dagegen gerade durch Selbstausstellung. Wie sollte eine Prothese des Zentralnervensystems - und das hieß ja einmal: der Seele - noch hinterfragbar sein? Ein paar Schriftsteller des laufenden Jahrhunderts haben es begriffen. Von Meyrinks Golem bis zu Graviiys Rainbow reicht die Kette einer Phantastik, die nichts mit Hoffmann oder Chamisso und alles mit Filmen zu tun hat. Literatur des Zentralnervensystems in direkter Medierikonkurrenz und deshalb womöglich auch immer schon der Verfilmung bestimmt. Präsentifizieren statt erzählen, simulieren statt beglaubigen — so die Devise. Meyrinks Golem, 1915 erschienen, beginnt mit einem namenlosen Sprecher und einem nachgerade physiologischen Präsens. Der Sprecher »besitzt« eben »kein Organ mehr, mit dem« er die Frage »wer ist jetzt >ich<« überhaupt noch stellen könnte. Deshalb tritt an die Stelle reflexiver Hinterfragungen ein neurologisch reiner Datenfluß, der immer schon zugleich auch Netzhautfilm ist. Bit 1: »Das Mondlicht fällt auf das Fußende meines Bettes wie ein großer, flacher Stein.« Dieser große, flache Stein aus dem ersten Romansatz büßt seine Vergleichsfunktion sogleich ein, um aus der Metaphorik von Literatur ins Reale von Neurophysiologie überzuwechseln. Bit 2: »Und das Bild von dem Stein, der aussah wie ein Stück Fett, wächst ins Ungeheuerliche in meinem Hirn.« Diese ungeheuerliche Großaufnahme füllt alsbald, nach der Logik von Kamerafahrten, das ganze Sehnervensystem des Halbschlafenden. Bit 3: »Ich schreite durch ein ausgetrocknetes Flußbett und hebe glatte Kiesel auf.« Dieser Raum, zugleich immer noch Bettfußende und schon Flußbett, wird alsbald zur Zeit, die Großaufnahme also zur Rückblende. Bit 4: »Alle jene Steine, die je in meinem Leben eine Rolle gespielt haben, tauchen auf rings um mich her.«" 3 8 Edgar Morin, Le cinema ou l'homme imapnaire. Essai d'anthropologie sociologique, Paris 195S, S. 139. 39 Gustav Meyrink, Der Golem. Ein Roman, Leipzig 1915, S.l-4. 109 Und so weiter, und so weiter im Eingangskapitel, bis lauter Filmtricks aus einem Mondlichtfleck im Leben A das Prager Altstadtghetto im Leben B gemacht haben. Die »kinematographische Illusion des Bewußtseins«, von der Bergsons gleichzeitige Theorie handelt,40 überfuhrt eine Zäsur zwischen Biographien und Epochen ins perfekte Kontinuum: eines Netzhautfilms: Durch das Loch seiner Identität, die es nicht gibt, stürzt das namenlose Ich der Rahmenhandlung in einen Doppelgänger namens Pernath, der vor einem ganzen Menschenleben die Binnenhandlung durchgemacht hat. Daß auch dieses Prager Altstadtghetto ein Film ist, beweist die Verdopplung des Doppelgängermotivs. Ganz wie das namenlose Ich in Pernath gestürzt ist, so stürzt Pernath selber in einen Golem, der sehr ausdrücklich und photographisch Pernaths »Negativ« heißt.41 Die verschrieene Mystik des Romans äst also nur medientechnische Präzision, Mit Meyrink prasentifiziert Literatur zum erstenmal hirnphysiologische Entsprechungen von Filmabläufen. Real ist nicht die Seele, sondern das Zelluloid. Traumtechnik und Kinodarstellung stehen einander viel näher, als Otto Rank sich 1914 träumen läßt. Keine psychoanalytische Doppelgängertheorie kann Meyrinks endlose Doppelgängerfluchten oder auch Schrebers »flüchtig hingemachte Männer« denken.42 Von allen Wissenschaften der Epoche ist nur eine zuständig - und natürlich genau jene, deren Vorarbeiten den Film überhaupt erst möglich gemacht haben. Ohne die experimentelle Psychologie der Helmholtz und Wundt kein Edison und keine Lumieres, ohne die physiologischen Messungen von Netzhaut und Sehnervensystem kein Kinopublikum. Deshalb stammt die erste kompetente Theorie des Films vom Chef des Harvard Psychological Laboratory. Münsterberg denkt 1916, was Meyrink 1915 beschreibt. Und das einfach darum, weil der große Experimentalpsychologe - in Wort und Sache - eine neue Wissenschaft begründet hat: die Psychotechnik.43 40 Vgl. Henri Bergson, L'&voluüon criatrice (1907), Paris, z6. Aufl. 19:13, S. 330 f., und dazu Gilles Deleuze, Cinema 1: L'image-mouvement, Paris 1983. 4: Meyrink, Dir Golem (wie Anra. 39), S. 25 (mit Dank an Michael Müller). 42 Vgl. Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903), hg. von Samuel M. Weber, Berlin 1973, S. 14; und 161. Der Kontext beweist klar genug, daß identitäts!ose und serielle Doppelgängerscharen auch bei Schreber Verkehrsteilnehmer sind. 43 Vgl. Hugo Münsterberg, Grunctzüge der Psychotechmk, Leipzig 1914 (siebenhun-dertsiebenimdsechzig ebenso großartige wie vergessene Seiten). 110 Erst Psychotechnik, diese Verschaltung von physiologischen und technischen Experimenten, von psychologischen und ergonomischen Daten macht Filmtheorie möglich (um von FÜeßbandar-beit und Gefechtsausbildung ganz zu schweigen). Mühelos kann Münsterberg nachweisen, daß Spielfilme zum erstenmal in der Kunstweltgeschichte imstande sind, den neurologischen Datenfluß selber zu implementieren. Während traditionelle Künste Ordnungen des Symbolischen oder Ordnungen der Dinge verarbeiten, sendet der Film seinen Zuschauern deren eigenen Wahrnehmungsprozeß - und das in einer Präzision, die sonst nur dem Experiment zugänglich ist, also weder dem Bewußtsein noch der Sprache. Jeder einzelnen Kameratechnik ordnet Münsterberg einen unbewußten psychischen Mechanismus zu: der Großaufnahme die Aufmerksamkeitsselektion, der Rückblende das Souvenir involontaire, dem Filmtrick das Tagträumen usw.44 Aber mathematische Gleichungen können ebensogut nach rechts wie nach links aufgelöst werden, und der Titel Psychotechnik sagt es schon, daß experimentalpsychologische Filmtheorien auch medientechnische Seelentheorien sind. Ganz wie im Golem wird das Souvenir involontaire zur Rückblende, die Aufmerksam-kcitsselektion zur Großaufnahme usw. Unbewußte Mechanismen, die es zuvor nur im Menschenexperiment gab, nehmen Abschied von den Leuten, um als Doppelgänger einer gestorbenen Seele die Filmstudios zu bevölkern. Ein Golem als Stativ oder Muskulatur, einer als Zelluloid oder Netzhaut, einer als Rückblende oder Gedächtnis ... Und Münsterberg, nachdem er schon von Freiburg im Breisgau nach Harvard gegangen ist, tut auch den letzten Schritt. Er besichtigt die New Yorker Filmstudios, deren Theorie er schreibt. Das ist der ganze Unterschied zwischen Münsterberg und Rank, zwischen Ingenieurswissen und Konsumentenstandpunkt. Die Zeitläufte haben dazu geführt, daß Freud - in seiner Selbst-autorisierung zum Propheten — den Ruhm aller anderen Diskurse genießt. Hugo Münsterberg erscheint heute nur noch in Freud-Biographien - mit dem falschen Vornamen Werner und als einer von vielen Zuhörern der psychoanalytischen Amerikatournee von 44 Miinsterberg, The Photoplay (wie Anm. 31), S. 31-48 (»The Psychology of the Photoplay«). in ic)o8.4s So gründlich verdrängt ist die Wahrheit über Medientechnik, seitdem Münsterberg einen allerletzten Schritt tat. Seine Selbstautorisierung zum Weltkriegsstrategen im Jahr 1916 brachte die wissenschaftliche Exkommunikation.46 Ohne Spurenbeseitigung läuft eben keine Spurensicherung, ohne Verdrängung der Gründerfiguren keine generalstabsmäßige Filmkonzerngründung. Im laufenden Jahrhundert, das alle Theorien implementiert, gibt es keine mehr. Das ist das Unheimliche an seiner Realität. 45 Vgl. Jones, Sigmund Freud (wie Anm. 35), S. 350. 46 Die biographischen Daren über Miinsterberg nach Richard Griffirh' »Einleitung« zum Ä>ft>/ir)>-Neudruck. Medien und Drogen in Pynchons Zweitem Weltkrieg Für David Wellbery Im deutschen Herbst 1983 ging eine dpa-Meldung durch die Presse: Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Strauß verfugt nach eigenen Angaben über »ziemlich konkrete Informationen«, wonach die DDR schon seit Jahren unterirdische Anlagen aus der Zeit des Dritten Reiches für die Srationierung von Atomraketen wieder ausbaut. Diese »natürlichen Festungen« befinden sich zum Teil in 300 bis 400 Meter Tiefe unter einer Gesteinsschicht, so daß sie atomwaffensicher seien, sagte Strauß auf einem Internationalen Symposium der Hanns-Seidel-Stiftung (FAZ, 3. November 1983, S.12). Was dpa unterschlug: Jene »»natürlichen Festungen«!, zumal die bei Nordhausen im Harz, hatten schon einmal Raketen beherbergt und sogar massenproduziert. Weshalb die SS 20 in ihren Felsbunkern oder die Pershings auf unseren Bundesautobahnen1 alle nur den Bogen, den Regenbogen einer exzentrischen Heimkehr beschreiben. 1. Krieg Gravitys Rainbow, der Regenbogen der Schwerkraft, ist die Flugparabel der Vz-Raketen, die ein letztes Kriegshalbjahr lang — vom 8. September 1944 bis zum 27. März 1945' - die deutschalliierten Fronten überflogen, von Abschußbasen in Holland oder Niedersach-seh auf Metropolen wie London und Antwerpen. Gravitys Rainbow ist auch Thomas Pynchons Versuch, die Zeichen der Zeit als Roman zu lesen. Denn diese Zeichen, allen Nachkriegsträumen zum Trotz,3 I Ober die Strategie von Autobahnen seit dem Ersten Weltkrieg vgl. Friedrieh Kittler, »Autobahnen«, in: Kulturrevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie ■ 5(1984), S. 42-44- 1 Vgl. dazu Erik Bergaust, Wernher von Braun. Ein unglaubliches Leben, Düsseldorf, . Wien 1976, S. in. 3 Über Zweiten Weltkrieg und Nachkriegstraum vgi. Pink Floyd, The Final Cut: A Requiem fir tbe Post War Dream, London 1983, Seite I. 113